Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 119



114 V 119

24. Urteil vom 8. April 1988 i.S. M. gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht von Appenzell A.Rh.
Regeste

    Art. 18 Abs. 2 Satz 2 UVG, Art. 28 Abs. 1 UVV: Massgebliches
Validen- bzw. Invalideneinkommen für die Bemessung der Invalidität bei
unfallbedingter Verzögerung der Ausbildung.

    - Art. 28 Abs. 1 UVV gelangt nicht zur Anwendung, wenn die Ausbildung
eines Lehrlings unfallbedingt verzögert wird. In diesem Fall ist als
Valideneinkommen rechtsprechungsgemäss derjenige Verdienst anzunehmen,
welchen der Lehrling aller Wahrscheinlichkeit nach erzielen würde, wenn er,
ohne zu verunfallen, die Lehre ordnungsgemäss hätte abschliessen können
(Erw. 2a).

    - Wann ist als Invalideneinkommen der Lehrlingslohn zu betrachten
(Erw. 2b)?

Sachverhalt

    A.- Die 1956 geborene Barbara M., ausgebildete Turnlehrerin,
begann am 19. Juli 1982 in der Firma J.B. C. eine dreijährige
Lehre als Möbelschreinerin und war daher bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen Betriebs- und
Nichtbetriebsunfall versichert. Am 18. Juli 1983 erlitt sie anlässlich
eines Verkehrsunfalls eine Doppelfraktur des linken Armes, und am
25. Juli 1984 brach sie sich auf einer Bergtour den linken Vorderarm
sowie zwei Finger der rechten Hand. Als Folgen blieben Beweglichkeits-
und Sensibilitätsdefizite zurück (kreisärztlicher Abschlussbericht
des Dr. med. C. vom 23. Oktober 1985). Die Versicherte musste daher die
Ausbildung am 2. Juli 1984 abbrechen, setzte sie aber am 15. April 1985 in
der Firma M. I. AG fort. Nachdem die SUVA ihre gesetzliche Leistungspflicht
anerkannt hatte, gewährte sie Barbara M. rückwirkend ab 1. November 1985
eine Invalidenrente, wobei die Anstalt eine durch beide Unfälle bewirkte
Erwerbsunfähigkeit von 15% annahm (Verfügung vom 12. Dezember 1985).

    Barbara M. liess Einsprache erheben und die Ausrichtung einer
"der effektiv erlittenen Beeinträchtigung in der Erwerbsfähigkeit"
entsprechenden Invalidenrente beantragen. Sie liess geltend machen,
durch die unfallbedingte zweijährige Verzögerung der Ausbildung
erhalte sie bis am 14. April 1987 nur den Lehrlingslohn von Fr. 600.--
im ersten und Fr. 900.-- im zweiten Jahr; demgemäss betrage die
Erwerbseinbusse bis 15. April 1986 82% und hernach bis 14. April 1987
73%; eine 15%ige Einschränkung liege erst nach dem Lehrabschluss vor. Mit
Einspracheentscheid vom 4. April 1986 hielt die SUVA an der angefochtenen
Verfügung fest, da die Abgeltung des einem Lehrling durch Verzögerung
der Ausbildung entstandenen Schadens gesetzlich nicht vorgesehen sei.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht
von Appenzell A.Rh. mit Entscheid vom 23. Oktober 1986 ab.

    C.- Die Versicherte lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit
dem Begehren auf Festlegung des "zutreffenden Invaliditätsgrades" und
Zusprechung einer entsprechenden Invalidenrente.

    Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Streitig und zu prüfen ist vorliegend die Bemessung des
Invaliditätsgrades für die Zeit ab 1. November 1985 (Beginn des
Rentenanspruchs).

    b) Gemäss Art. 18 Abs. 2 Satz 2 UVG wird für die Bestimmung
des Invaliditätsgrades das Erwerbseinkommen, das der Versicherte
nach Eintritt der unfallbedingten Invalidität und nach Durchführung
allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit
bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt
zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid
geworden wäre.

Erwägung 2

    2.- a) Art. 28 Abs. 1 UVV legt fest, welcher hypothetische, ohne
gesundheitliche Einschränkung erzielbare Verdienst (Valideneinkommen)
für die Invaliditätsbemessung massgeblich ist, wenn der Versicherte
eine geplante Ausbildung unfallbedingt nicht aufnehmen konnte oder
abbrechen musste. Dagegen wird der - hier vorliegende - Tatbestand der
unfallbedingten Verzögerung bzw. Verlängerung der Ausbildung durch Art. 28
Abs. 1 UVV nicht erfasst. Insoweit diese Bestimmung nicht zur Anwendung
gelangt, gilt rechtsprechungsgemäss jener Verdienst als Valideneinkommen,
den der Versicherte ohne versicherte gesundheitliche Beeinträchtigung bei
sonst gleichen Verhältnissen wahrscheinlich erzielen würde (ZAK 1985 S. 634
Erw. 3, 1980 S. 511 Erw. 4 mit Hinweis und S. 593, 1961 S. 367 Erw. 3;
vgl. auch BGE 99 V 29 Erw. 3a und EVGE 1968 S. 92 Erw. 2a). Im Lichte
dieses Grundsatzes, der sich unmittelbar aus Art. 18 Abs. 2 UVG ergibt,
kann vorliegend entgegen der Auffassung von Vorinstanz und SUVA, wonach
eine Verzögerung der Ausbildung von vornherein keine Konsequenzen für die
Invaliditätsbemessung habe, nicht der Lehrlingslohn als Valideneinkommen
angenommen werden. Denn nach der Aktenlage ist davon auszugehen, dass
die Beschwerdeführerin ohne die erlittenen versicherten Unfälle aller
Wahrscheinlichkeit nach seit dem 19. Juli 1985 (dem Datum des geplanten
Abschlusses der am 19. Juli 1982 begonnenen Lehre) das Einkommen einer
gelernten Schreinerin erzielen würde, welches unbestrittenermassen Fr.
39'773.-- beträgt.

    b) Es stellt sich weiter die Frage, ob der von der Beschwerdeführerin
effektiv erzielte Monatslohn von Fr. 600.-- im ersten und Fr. 900.--
im zweiten Lehrjahr als Invalideneinkommen zu betrachten und der
Invaliditätsbemessung zugrunde zu legen ist, was die Vorinstanz mit der
Argumentation verneint, es fehle am Erfordernis der stabilen Verhältnisse.

    Wenn der Verdienst, den ein Versicherter in einem zufälligen Zeitpunkt
erzielt, für sich allein grundsätzlich kein genügendes Kriterium für
die Bestimmung der Erwerbsunfähigkeit bildet, so kann das Mass der
tatsächlichen Erwerbseinbusse mit dem Umfang der Erwerbsunfähigkeit
unter Umständen doch übereinstimmen. Dies trifft dann zu, wenn -
kumulativ - besonders stabile Arbeitsverhältnisse eine Bezugnahme auf den
allgemeinen Arbeitsmarkt praktisch erübrigen, wenn der Versicherte eine
Tätigkeit ausübt, bei der anzunehmen ist, dass er die ihm verbleibende
Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft (BGE 109 V 27
Erw. 3c), und wenn das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen
und nicht als Soziallohn (BGE 104 V 90) erscheint.

    Die am 15. April 1985 aufgenommene zweite Lehre in der Firma
M. I. AG kann durchaus als stabiles Arbeitsverhältnis im Sinne dieser
Rechtsprechung gelten. Ferner erscheint auch das Arbeitsentgelt
von Fr. 600.-- (im ersten Lehrjahr) bzw. Fr. 900.-- (im zweiten
Lehrjahr) als angemessener Leistungslohn eines Lehrlings. Zu prüfen
ist aber, ob die Beschwerdeführerin durch diese Tätigkeit die ihr
verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft
oder ob ihr eine bessere Verwertung der Restarbeitsfähigkeit auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt durch Wiederaufnahme des ursprünglich
erlernten Turnlehrerinnenberufes zumutbar ist. Dies ist angesichts der
gesundheitlichen Einschränkungen wie auch unter Berücksichtigung des
Umstandes, dass die am 19. Juli 1982 begonnene Schreinerlehre bereits
recht weit vorangeschritten war, als sie unfallbedingt abgebrochen
werden musste, zu verneinen. Somit erweist sich die Entlöhnung
im Rahmen der am 15. April 1985 neu aufgenommenen Ausbildung von
Fr. 600.-- bzw. Fr. 900.-- als zumutbares Invalideneinkommen während der
Lehrzeit. Der Invaliditätsgrad ist demnach ab 1. November 1985 durch
Vergleich des Lehrlingslohnes mit dem Verdienst eines ausgelernten
Schreiners festzulegen.

    c) Der SUVA bleibt eine revisionsweise Änderung des Invaliditätsgrades
gemäss Art. 22 Abs. 1 UVG auf den 15. April 1987, das Datum des
Lehrabschlusses, vorbehalten.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid
des Versicherungsgerichts von Appenzell A.Rh. vom 23. Oktober 1986 und
der Einspracheentscheid vom 4. April 1986 aufgehoben, und es wird die
Sache an die SUVA zurückgewiesen, damit diese im Sinne der Erwägungen
über den Rentenanspruch neu verfüge.