Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 113



114 V 113

23. Urteil vom 25. April 1988 i.S. Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt gegen B. und Zivilgericht des Kantons Glarus
Regeste

    Art. 15 Abs. 1 und 2 UVG, Art. 22 Abs. 4 und Art. 24 Abs. 1 UVV:
Versicherter Verdienst für die Bemessung der Renten. Die Umrechnung des
Lohnes auf einen vollen Jahreslohn im Sinne von Art. 22 Abs. 4 Satz 2 UVV
ist nicht auf Fälle beschränkt, in welchen das Arbeitsverhältnis bis zum
Unfall noch kein ganzes Jahr gedauert hat. Entscheidend ist die normale
Beschäftigungsdauer, die aufgrund der bisherigen oder beabsichtigten
künftigen Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses festgestellt werden
kann. Anspruch auf Umrechnung auf einen vollen Jahreslohn hat auch der
Versicherte, der innerhalb eines Jahres vor dem Unfall unbezahlten Urlaub
bezogen hat.

Sachverhalt

    A.- Dieter B. (geb. 1956) arbeitet seit Mai 1977 als Maurerpolier
bei der Bauunternehmung W. S. AG, einem der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) unterstellten Betrieb. Im Februar und
März 1983 bezog er einen unbezahlten Urlaub. Am 9. Mai 1983 erlitt er bei
einem Arbeitsunfall schwere Quetschverletzungen an der linken Hand. Als
Unfallfolgen blieben der Verlust von drei Vierteln des Nagelgliedes
des linken Daumens, eine Krallenstellung des linken Zeige-, Mittel- und
Ringfingers und eine Faustschlussstörung zurück. Die SUVA erbrachte die
gesetzlichen Leistungen. Am 3. Oktober 1983 konnte Dieter B. die Arbeit
wieder zu 75% aufnehmen.

    Nachdem die SUVA verschiedene Unterlagen, u.a. einen Lohnbuchauszug der
Firma W. S. AG für die Zeit vom 9. Mai 1982 bis 8. Mai 1983 beigezogen
hatte, sprach sie dem Versicherten mit Verfügung vom 12. Juli 1985
ab 1. Juni 1985 eine Invalidenrente von 25% zu, welcher sie einen
Jahresverdienst von Fr. 38'826.-- zugrunde legte.

    Die hiegegen eingereichte Einsprache, mit welcher Dieter
B. verlangt hatte, der für die Berechnung der Invalidenrente massgebende
Jahresverdienst sei um den während des unbezahlten Urlaubes vom Februar
und März 1983 entgangenen Lohn auf Fr. 46'060.-- aufzurechnen, wies die
SUVA mit Entscheid vom 31. Januar 1986 ab.

    B.- In Gutheissung der von Dieter B. hiegegen eingereichten Beschwerde
verpflichtete das Zivilgericht des Kantons Glarus die SUVA mit Entscheid
vom 13. November 1986, die Invalidenrente aufgrund eines massgebenden
Jahresverdienstes von Fr. 46'060.-- festzusetzen.

    C.- Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren,
der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.

    Dieter B. lässt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragen. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) lässt sich mit
dem Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Weil der Rentenanspruch erst im Jahre 1985 entstanden ist, sind
die Bestimmungen des UVG anwendbar, obwohl sich der Unfall im Jahre 1983
ereignet hat; vgl. Art. 118 Abs. 2 lit. c UVG.)

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 15 UVG werden die Renten nach dem versicherten
Verdienst bemessen (Abs. 1). Als versicherter Verdienst gilt für die
Bemessung der Renten der innerhalb eines Jahres vor dem Unfall bezogene
Lohn (Abs. 2). Nach Art. 15 Abs. 3 UVG hat der Bundesrat den Höchstbetrag
des versicherten Verdienstes in einem vorgegebenen Rahmen festzusetzen,
die dazu gehörenden Nebenbezüge und Ersatzeinkünfte zu bezeichnen
und Bestimmungen über den versicherten Verdienst in Sonderfällen zu
erlassen, namentlich bei langdauernder Taggeldberechtigung (lit. a),
Berufskrankheiten (lit. b), Versicherten, die nicht oder noch nicht
den berufsüblichen Lohn erhalten (lit. c), und Versicherten, die
unregelmässig beschäftigt sind (lit. d). Gestützt auf diese Ermächtigung
hat der Bundesrat unter dem Titel "Versicherter Verdienst" die Art. 22
bis 24 UVV erlassen. Art. 22 UVV umschreibt den versicherten Verdienst
"im allgemeinen"; Abs. 4 dieser Bestimmung lautet wie folgt: Als Grundlage
für die Bemessung der Renten gilt der innerhalb eines Jahres vor dem Unfall
bei einem oder mehreren Arbeitgebern bezogene Lohn, einschliesslich noch
nicht ausbezahlter Lohnbestandteile, auf die ein Rechtsanspruch besteht.
Dauerte das Arbeitsverhältnis nicht das ganze Jahr, so wird der in dieser
Zeit bezogene Lohn auf ein volles Jahr umgerechnet. Bei einem Versicherten,
der eine Saisonbeschäftigung ausübt, ist die Umrechnung auf die normale
Dauer dieser Beschäftigung beschränkt.

    Art. 24 UVV trägt die Überschrift "Massgebender Lohn für Renten in
Sonderfällen" und bestimmt in Abs. 1 folgendes: Hat der Versicherte im
Jahre vor dem Unfall wegen Militär- oder Zivilschutzdienst, Unfall,
Krankheit, Mutterschaft, Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit einen
verminderten Lohn bezogen, so wird der versicherte Verdienst nach dem Lohn
festgesetzt, den der Versicherte ohne Militär- oder Zivilschutzdienst,
Unfall, Krankheit, Mutterschaft, Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit erzielt
hätte.

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Verfahren ist einzig die Höhe des versicherten
Verdienstes streitig, welcher der Berechnung der Invalidenrente des
Beschwerdegegners zugrunde zu legen ist.

    a) Nach Auffassung der Vorinstanz ist der tatsächliche Jahresverdienst
von Fr. 38'826.-- gestützt auf Art. 22 Abs. 4 Satz 2 UVV um den auf
die zwei Monate unbezahlten Urlaubes entfallenden Lohn zu erhöhen,
weil die normale Beschäftigungsdauer ein volles Jahr betragen und bloss
ein einmaliger Unterbruch des Arbeitsverhältnisses zu einem Sonderzweck
stattgefunden habe. Demgegenüber anerkennt die SUVA allein den tatsächlich
ausgerichteten Lohn von Fr. 38'826.-- als versicherten Verdienst. Der
Ansicht der Vorinstanz hält die SUVA entgegen, Art. 22 Abs. 4 UVV könne
nach seinem klaren Wortlaut in Fällen, wo das Arbeitsverhältnis während
eines Jahres ununterbrochen bestanden habe, nicht angewendet werden. Das
BSV weist darauf hin, dass sich aus den Materialien (Protokollen)
kein Lösungsansatz gewinnen lasse. Die Festlegung des Verdienstes habe
auf dem Hintergrund einer möglichst angemessenen Entschädigung des
Berechtigten zu erfolgen. Dabei sei für die Bemessung der Geldleistungen
im wesentlichen von der Natur des Arbeitsverhältnisses auszugehen. Eine
entscheidende Rolle spiele die "normale Dauer der Beschäftigung", welche
sich nach der bisherigen oder beabsichtigten künftigen Ausgestaltung
des Arbeitsverhältnisses in zeitlicher Hinsicht richte. Grund für
die spezielle Regelung der in Art. 23 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 1 UVV
aufgeführten Sachverhalte sei, dass sie unbeabsichtigt die "normale
Dauer der Beschäftigung" hinderten. Die UVV sehe zwar für die Renten
unregelmässig Beschäftigter keine spezielle Berechnung des versicherten
Verdienstes vor, was indessen auch nicht notwendig sei, da der innerhalb
eines Jahres vor dem Unfall bezogene Lohn zu berücksichtigen sei. Damit sei
eine allenfalls unregelmässige Beschäftigung schon eingeschlossen, wenn das
Arbeitsverhältnis bereits während eines Jahres vor dem Unfall bestanden
hat. Habe es noch kein ganzes Jahr gedauert und sei die Beschäftigung
bisher nicht regelmässig gewesen oder werde sie künftig nicht regelmässig
sein, so sei die normale Beschäftigungsdauer massgebend. Als unregelmässig
beschäftigt habe derjenige Versicherte zu gelten, der über eine gewisse
Zeitspanne keine gleichbleibende durchschnittliche Arbeitszeit (oder
Lohn bei Entschädigung auf Provisionsbasis) aufweise. Nicht dazu zählten
jedoch diejenigen Arbeitnehmer, welche lediglich ausnahmsweise während
einer beschränkten Zeitspanne nicht die für sie übliche Arbeitszeit
ausweisen. So mache ein einmaliger Urlaub eine Beschäftigung nicht
zu einer unregelmässigen. Vielmehr komme in solchen Fällen - wie
bei den Saisonbeschäftigten oder denjenigen Arbeitnehmern, deren
Anstellungsverhältnis noch nicht das ganze Jahr gedauert hat - der
Grundsatz zum Tragen, dass auf die normale Dauer der Beschäftigung oder
die Natur des Arbeitsverhältnisses abzustellen sei. Im vorliegenden Fall
sei lediglich ein einmaliger Urlaub bezogen worden; somit liege keine
unregelmässige Beschäftigung vor. Der versicherte Verdienst sei daher
gestützt auf Art. 22 Abs. 4 Satz 2 UVV auf ein volles Jahr umzurechnen.

    b) Der Betrachtungsweise des BSV, die sich im wesentlichen mit
den Erwägungen der Vorinstanz deckt, ist beizupflichten. Art. 24 UVV
enthält für den zu beurteilenden Fall keine Sonderregelung, wonach der
massgebende Verdienst abweichend vom allgemeinen Grundsatz (Art. 15 Abs. 2
UVG) ermittelt werden könnte. Auszugehen ist daher von der allgemeinen
Verordnungsbestimmung zum versicherten Verdienst, indem Art. 22 Abs. 4 UVV
ausgelegt wird. Dabei ist vorab festzuhalten, dass bereits Satz 2 und 3
dieser Norm Abweichungen von Art. 15 Abs. 2 UVG statuieren, wonach für
die Rentenbemessung der innerhalb eines Jahres vor dem Unfall bezogene
Lohn massgebend ist. Diese Sonderregeln verlangen die Umrechnung des nicht
während eines ganzen Jahres geflossenen Lohnes auf einen Jahreslohn (Satz
2) bzw. - bei Arbeitnehmern mit einer Saisonbeschäftigung - auf die normale
Dauer der Saisonbeschäftigung (Satz 3). Satz 2 spricht zwar von der Dauer
des Arbeitsverhältnisses; das entscheidende Kriterium liegt aber darin,
dass eine Umrechnung vorgenommen werden muss, weil nicht während des ganzen
Jahres Lohn bezogen wurde. Die für Saisonbeschäftigte getroffene Regelung
setzt der Umrechnung die Schranke der normalen Beschäftigungsdauer, was
vom Eidg. Versicherungsgericht als gesetzeskonform erachtet worden ist
(BGE 112 V 313).

    c) Nach Ansicht der SUVA kommt die Umrechnung des Lohnes auf ein ganzes
Jahr nach Art. 22 Abs. 4 UVV nur in Fällen, wo das Arbeitsverhältnis noch
kein ganzes Jahr gedauert hat, namentlich bei Stellenwechsel, Aufnahme
einer Erwerbstätigkeit, Übergang von selbständiger zu unselbständiger
Tätigkeit sowie Rückkehr aus dem Ausland zum Tragen. Diese streng
textgebundene Interpretation entspricht nicht Sinn und Zweck dieser
Verordnungsbestimmung. Deren Stossrichtung liegt - nicht anders als bei
den in Art. 24 UVV geregelten Sonderfällen - darin, die Versicherten oder
ihre Hinterlassenen vor unbilligen Nachteilen zu schützen, welche sich bei
bestimmten Sachverhalten aus der Anwendung der Grundregel ergeben würden
(MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 326). Wie der
Beschwerdegegner in der Vernehmlassung zutreffend geltend macht, würde
eine rein auf den Wortlaut beschränkte Auslegung von Art. 22 Abs. 4 UVV
zu ungerechten und stossenden Ergebnissen führen. Ein Versicherter, der
zwei Monate nach Antritt einer neuen Stelle verunfallt, hätte Anspruch
auf Umrechnung des erzielten Lohnes auf einen Jahreslohn, während
dem Versicherten, der seit Jahren beim gleichen Arbeitgeber tätig war
und kurze Zeit nach einem mehrmonatigen unbezahlten Urlaub verunfallt,
diese Möglichkeit verschlossen bliebe. Die konstante Praxis der SUVA zu
Art. 79 KUVG, unbezahlten Urlaub bei der Ermittlung des Jahresverdienstes
auszuklammern (vgl. dazu das Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts in
Sachen W. vom 25. September 1953: publiziert in SJZ 1954 S. 331), lässt
sich unter der Herrschaft des neuen Rechts, in welchem die Frage der
Lohnergänzung differenzierter und unter vermehrter Berücksichtigung von
Sonderfällen gelöst wurde, nicht aufrechterhalten.

    d) Beizufügen bleibt, dass die normale Beschäftigungsdauer im
Zusammenhang mit der Lohnaufrechnung schon in der Praxis zu Art. 79
Abs. 2 KUVG als Kriterium anerkannt wurde. So stellte das Eidg.
Versicherungsgericht in EVGE 1959 S. 97 im Falle eines Gastarbeiters,
der aufgrund einer fremdenpolizeilichen Verfügung die Schweiz
während zweier Monate verlassen musste, fest, dass eine Ergänzung des
tatsächlich erzielten Lohnes zulässig sei; als entscheidend wurde dabei
der Umstand gewertet, dass der Versicherte zu den "gewohnheitsmässig"
ständig Arbeitenden zählte (S. 100 Erw. 3). Das Kriterium der normalen
Beschäftigungsdauer, die aufgrund der bisherigen oder beabsichtigten
künftigen Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses in zeitlicher
Hinsicht festgestellt werden kann, ist geeignet, eine sachgerechte und
rechtsgleiche Festsetzung des für die Rentenberechnung massgebenden Lohnes
zu gewährleisten. Insbesondere ist es bei dieser Lösung unerheblich, ob
nach einem Arbeitsunterbruch ein neues Arbeitsverhältnis begründet oder
das bestehende weitergeführt wird. Ebenso ist derjenige Arbeitnehmer,
der eine beabsichtigte unregelmässige oder kurzfristige Tätigkeit eben
aufgenommen hat und verunfallt, nicht bessergestellt als derjenige, der
eine solche Beschäftigung bereits während längerer Zeit ausgeübt hat. Der
angefochtene Entscheid ist deshalb im Grundsatz zu bestätigen. Bei diesem
Ergebnis kann die Frage offenbleiben, ob die Sonderfälle für die Bemessung
des versicherten Verdienstes bei Renten in Art. 24 UVV, insbesondere
die Ergänzungsgründe des Abs. 1 - unter Vorbehalt der Willkürprüfung
(BGE 111 V 395 Erw. 4) und der aus Art. 22 Abs. 4 UVV resultierenden
Besonderheiten - abschliessend geregelt sind, wie MAURER (aaO, S. 331)
ohne nähere Begründung annimmt, oder ob es sich dabei um eine beispielhafte
Aufzählung handelt.

Erwägung 4

    4.- Die Vorinstanz setzte den Jahresverdienst gestützt auf
die Meldung der Bauunternehmung W. S. AG vom 2. Juni 1983 auf
Fr. 46'060.-- fest. Gemäss Lohnbuchauszug der Firma ergibt sich jedoch
ein Jahresverdienst von Fr. 45'966.-- (Fr. 38'826.-- zuzüglich je
Fr. 3'570.-- für die Monate Februar und März 1983). In diesem Sinne
ist der Entscheid des kantonalen Gerichts in teilweiser Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu korrigieren.