Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IV 58



114 IV 58

18. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. März 1988 i.S. K. c.
Polizeikommando des Kantons Basel-Stadt (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 38 Abs. 1, Art. 48 SVG. Vortrittsrecht der Strassenbahn.

    Der Strassenbahn steht das besondere Vortrittsrecht auch beim
Linksabbiegen gegenüber den entgegenkommenden Fahrzeugen zu.

Sachverhalt

    A.- K. fuhr am 6. Februar 1986, um 15.20 Uhr, mit seinem Personenwagen
von der Riehenstrasse her kommend durch den Riehenring zum Messeplatz,
den er geradeaus überqueren wollte. Zur gleichen Zeit näherte sich
X. mit einem Tramzug aus der Gegenrichtung, von der Drahtzugstrasse
her kommend, dem Messeplatz, um dort links abbiegend in die Haltestelle
Mustermesse einzufahren. Zu diesem Zweck setzte er vor dem Linksabbiegen
seine Geschwindigkeit herab. Dieses Abbremsen deutete K., der zunächst
seinerseits die Geschwindigkeit reduziert hatte, als Anhalten, weshalb
er seine Fahrt wieder beschleunigte. Als er die Strassenbahn nach links
abbiegen sah, leitete er sofort eine Vollbremsung ein. Er konnte jedoch
eine Kollision mit den Tram, dessen Führer ebenfalls voll bremste,
nicht verhindern. Am Personenwagen entstand ein Sachschaden von rund
Fr. 10'000.--, an der Strassenbahn ein solcher von rund Fr. 400.--.

    B.- Der Polizeigerichtspräsident des Kantons Basel-Stadt sprach
K. am 8. Dezember 1987 des vorschriftswidrigen Motorfahrens schuldig
und verurteilte ihn in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1, Art. 31 Abs. 1 und
Art. 38 Abs. 1 SVG zu einer Busse von Fr. 120.--.

    Der Appellationsgerichtsausschuss des Kantons Basel-Stadt bestätigte
am 29. Januar 1988 den erstinstanzlichen Entscheid.

    C.- Der Gebüsste führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem
Antrag, das Urteil des Appellationsgerichtsausschusses sei im Strafpunkt
aufzuheben und die Sache sei an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                  Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 38 Abs. 1 SVG ist der Strassenbahn das Geleise
freizugeben und der Vortritt zu lassen. Gemäss Art. 48 SVG gelten
die Verkehrsregeln dieses Gesetzes auch für die Eisenbahnfahrzeuge
auf Strassen, soweit dies mit Rücksicht auf die Besonderheiten dieser
Fahrzeuge, ihres Betriebes und der Bahnanlagen möglich ist.

    a) Der Beschwerdeführer macht wie bereits im kantonalen Verfahren
geltend, dass zwischen Art. 38 Abs. 1 und Art. 48 SVG eine Normenkollision
bestehe. Seines Erachtens gelten die allgemeinen Regeln betreffend den
Vortritt, so etwa die Wartepflicht des Linksabbiegers (Art. 36 Abs. 3
SVG), auch für die Strassenbahn und ist der Tramführer entsprechend diesen
allgemeinen Regeln vortrittsbelastet, wenn ihm die Gewährung des Vortritts
mit Rücksicht auf die Besonderheiten dieses Fahrzeugs, seines Betriebes und
der Bahnanlagen möglich ist. Nach Ansicht des Beschwerdeführers wäre es dem
Tramführer unter den konkreten Umständen ohne weiteres möglich gewesen,
die Strassenbahn ohne unnötig starkes Bremsen vor der Linksbiegung
anzuhalten, und bestand damit kein Grund, von der allgemeinen Regel,
wonach der Linksabbieger vortrittsbelastet ist, abzuweichen.

    Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden. Der Beschwerdeführer
löst damit nicht den von ihm behaupteten Konflikt zwischen Art. 38
Abs. 1 SVG einerseits und Art. 48 SVG andererseits, sondern er lässt die
erstgenannte Bestimmung schlicht ausser acht, indem er davon ausgeht,
dass für die Strassenbahn, auch in bezug auf das Vortrittsrecht, gemäss
Art. 48 SVG die Verkehrsregeln dieses Gesetzes gelten, soweit dies mit
Rücksicht auf die Besonderheiten eines Schienenfahrzeugs möglich ist.

    b) Das spezielle Vortrittsrecht der Strassenbahn, das bereits
unter der Herrschaft des alten Rechts galt (Art. 61 MFV), wurde,
obschon es umstritten war (Sten.Bull. NR 1957 S. 185 ff.), in das neue
Recht übernommen. Daneben bestand stets auch die Bestimmung, wonach die
Verkehrsregeln dieses Gesetzes ebenfalls für die Strassenbahn gelten,
soweit dies mit Rücksicht auf die Besonderheiten dieser Fahrzeuge
möglich ist (Art. 39 des VE 1952, Art. 39bis des VE 1953, Art. 45
des bundesrätlichen Entwurfs). Besonders deutlich war Art. 39 des
Vorentwurfs von 1952, wonach die Strassenbahn den Vortritt vor allen
andern Strassenbenützern hat und "im übrigen" auch für die Strassenbahn
die Verkehrsregeln dieses Gesetzes gelten, soweit dies nicht wegen der
Besonderheiten dieses Fahrzeugs ausgeschlossen ist. Daran hat sich in
der Sache nichts geändert, auch wenn das spezielle Vortrittsrecht der
Strassenbahn einerseits und der Grundsatz, dass die Verkehrsregeln des SVG
auch für die Strassenbahn gelten, andererseits nun in zwei verschiedenen
Gesetzesartikeln (Art. 38 und 48 SVG) enthalten sind.

    c) Art. 38 Abs. 1 SVG ist nach der zutreffenden Auffassung der
Vorinstanz als lex specialis zu Art. 48 SVG zu betrachten und hat
Gültigkeit, auch wenn er in Art. 48 SVG nicht ausdrücklich vorbehalten
wird. Eine Ausnahme vom gesetzlichen Vortrittsrecht der Strassenbahn
besteht lediglich gemäss Art. 45 Abs. 2 VRV. Die Strassenbahn hat danach
den Fahrzeugen der Feuerwehr, Sanität und Polizei, die sich durch die
besonderen Warnsignale ankündigen, den Vortritt zu lassen (1. Satz);
fährt sie auf einer Nebenstrasse, so hat sie den Fahrzeugen auf der
Hauptstrasse den Vortritt zu gewähren (2. Satz). Insoweit gelten für
die Strassenbahn betreffend den Vortritt die gleichen Regeln wie für die
andern Verkehrsteilnehmer (vgl. Art. 27 Abs. 2 SVG und Art. 16 Abs. 1 VRV
bzw. Art. 36 Abs. 2 2. Satz SVG). Art. 45 Abs. 2 VRV wäre überflüssig, wenn
man mit dem Beschwerdeführer annehmen wollte, dass für die Strassenbahn
(entgegen Art. 38 Abs. 1 SVG, auch in der Frage des Vortrittsrechts)
gemäss Art. 48 SVG die Verkehrsregeln dieses Gesetzes gelten, soweit dies
mit Rücksicht auf die Besonderheiten dieser Fahrzeuge etc. möglich ist.

    d) Der Tramführer hat sodann bei der Ausübung des ihm nach Art. 38
Abs. 1 SVG zustehenden Vortrittsrechts die jedem Vortrittsberechtigten
obliegenden Vorsichtspflichten zu beachten (Art. 48 in Verbindung mit
Art. 26 SVG, teilweise konkretisiert in Art. 45 Abs. 1 und 3 VRV), soweit
deren Erfüllung mit Rücksicht auf die technischen Besonderheiten der
Strassenbahn möglich ist (BGE 96 IV 133). Der Beschwerdeführer kann aus
dem zitierten Bundesgerichtsentscheid für die Frage des Vortrittsrechts
als solchen nichts zu seinen Gunsten ableiten, da der genannte Entscheid
lediglich die Vorsichtspflichten bei der Ausübung dieses Rechts betrifft.

    e) Die Regelung des Vortritts muss im Interesse der Verkehrssicherheit
klar und einfach sein. Das Vortrittsrecht der Strassenbahn kann daher
entgegen der Meinung des Beschwerdeführers nicht davon abhängen, ob es
dem Tramführer unter den konkreten Umständen eines bestimmten Falles
möglich gewesen wäre, noch rechtzeitig anzuhalten.

    f) Wohl haben Trolleybusse kein besonderes Vortrittsrecht im Sinne
von Art. 38 Abs. 1 SVG und werden für diese öffentlichen Verkehrsmittel
möglicherweise gerade auch aus diesem Grunde vermehrt besondere Fahrspuren
eingerichtet. Daraus kann der Beschwerdeführer jedoch nichts gegen das
besondere Vortrittsrecht der Strassenbahn ableiten. Ein Antrag, auch
den Trolleybussen dieses Vortrittsrecht einzuräumen, ist im Nationalrat
abgelehnt worden (Sten.Bull. NR 1957 S. 185 ff.). Ob die gesetzliche
Regelung des Vortrittsrechts der Strassenbahn sinnvoll sei, hat der
Kassationshof nicht zu entscheiden.