Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IV 26



114 IV 26

9. Urteil des Kassationshofes vom 10. Juni 1988 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Basel-Landschaft gegen E. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 110 Ziff. 5 und 251 Ziff. 2 StGB. Urkundencharakter von
Fotokopien.

    Fotokopien kommt im gewöhnlichen Geschäftsverkehr Beweiseignung zu. Wer
eine vom Original eines Steuerinventars abweichende Fotokopie benützt,
um für einen Autokauf seine Solvenz zu beweisen, macht sich der Fälschung
einer öffentlichen Urkunde schuldig.

Sachverhalt

    A.- M., Geschäftsführer der Garage A., und E. standen in Verhandlungen
über einen Kaufvertrag betreffend einen Occasionswagen Saab 900 Turbo
DOHC. Ungeklärt ist, ob es zu einem Vertragsschluss kam. Unstrittig
machte E. gegenüber der Garage immer wieder Zusicherungen bezüglich der
Übernahme des Wagens und seiner Solvenz. So schickte er am 23. September
1986 dem Geschäftsführer der Garage eine Fotokopie des Steuerinventars
seines am 16. Januar 1986 verstorbenen Onkels zu, die insbesondere in
bezug auf dessen Vermögen vom Original erheblich abweichende Angaben
enthielt. In einem Begleitschreiben versicherte er, dass er nun endlich
zu dem ihm zustehenden Geld kommen werde, und dass die Einsprachen gegen
das Testament zurückgezogen worden seien. Mit Schreiben vom 8. Oktober
1986 bestätigte er diese Angaben und kündigte an, er werde sich mit der
Garage in Verbindung setzen und alles Notwendige für die Übernahme des
Saab veranlassen; er käme damit seiner Zusage nach, nach Erledigung der
Erbschaft den Wagen zu übernehmen und alle Ausstände zu regeln. Zu einer
Übergabe des Wagens kam es jedoch nicht, da nach einer Rückfrage der Garage
A. beim Steueramt des Kantons Zürich betreffend den Inhalt des angeblichen
Steuerinventars dieses Amt Strafanzeige wegen Urkundenfälschung, eventuell
Betrug erstattete.

    B.- Das Strafgericht des Kantons Basel-Landschaft sprach E. mit
Urteil vom 24. August 1987 von der Anklage der Urkundenfälschung und des
Betruges frei.

    In teilweiser Gutheissung einer Appellation der Staatsanwaltschaft
sprach das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft am 8. Dezember 1987
E. des vollendeten Betrugsversuchs (Art. 148 i.V.m. Art. 22 Abs. 1
StGB) schuldig und bestrafte ihn mit zwei Monaten Gefängnis bedingt;
den Freispruch vom Vorwurf der Urkundenfälschung bestätigte es sinngemäss.

    C.- Mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde beantragt die
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft, das obergerichtliche
Urteil sei aufzuheben und die Sache sei an die Vorinstanz zurückzuweisen,
damit sie den Beschwerdegegner nicht nur des vollendeten Betrugsversuchs,
sondern auch der Urkundenfälschung nach Art. 251 Ziff. 2 StGB schuldig
spreche. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz geht zu Recht davon aus, dass das Original eines
Steuerinventars eine öffentliche Urkunde im Sinne von Art. 110 Ziff. 5
Abs. 2 StGB darstellt. Umstritten ist einzig, ob die Fotokopie eines
solchen Originals der Legaldefinition der genannten Bestimmung entspricht.

    Dass im vorliegenden Fall der Fotokopie Beweisbestimmung zukam, ergibt
sich aus deren Zusendung an die Garage und den Briefen vom 23. September
und 8. Oktober 1986, die auf die im Steuerinventar ausgewiesene Erbschaft
verweisen; das Steuerinventar sollte die Solvenz des Beschwerdegegners
beweisen. Zu prüfen bleibt, ob der fraglichen Fotokopie auch die
Beweiseignung bzw. eine erhöhte Beweisfunktion zuzuerkennen sei.

Erwägung 2

    2.- a) Einig sind sich die schweizerische Lehre und Rechtsprechung
über den Urkundencharakter von Fotokopien, wenn dieser sich direkt aus
einem Gesetz ergibt (vgl. Art. 962 Abs. 2 OR a.F. bzw. Abs. 2 und 4 n.F.,
Art. 963 OR; BGE 100 IV 26), indirekt aus dem Prozessrecht bzw. der
prozessualen Editionspflicht hergeleitet wird (BGE 102 IV 34; SJZ 1969
S. 381; SJZ 1977 S. 41 f.; HAUSER, Kurzlehrbuch des schweizerischen
Strafprozessrechts, 2. Aufl., S. 182) oder sich auf eine Beglaubigung
der Kopie stützt.

    b) Entgegen der in der schweizerischen Lehre zum Teil vertretenen
und in Deutschland und Österreich vorherrschenden wissenschaftlichen
Meinung sowie einer Tendenz, die sich in der Rechtsprechung der beiden
letzteren Länder abzuzeichnen beginnt (KIENAPFEL, Urkunden und andere
Gewährschaftsträger, S. 102; derselbe in ZStR 1981 S. 25 f.), stellte
sich das Bundesgericht bisher auf den Standpunkt, dass Beweiseignung im
Sinne von Art. 110 Ziff. 5 StGB einer Schrift nicht nur dann zukomme, wenn
ihr diese durch Gesetz, sondern auch dann, wenn sie durch Verkehrsübung
zuerkannt wird (BGE 102 IV 34; 101 IV 279). Unter diesem Gesichtspunkt
wurde der Urkundencharakter von Kopien wiederholt bejaht (BGE 100 IV
26, 70 IV 170; Urteil vom 6. Februar 1968, teilweise publiziert in SJZ
1968, S. 302), und es wurde ausgeführt, die Kopie bzw. drucktechnische
Reproduktion einer Urkunde könne unter Umständen Urkundencharakter haben,
wenn sie im Verkehr als Ersatz für das Original anerkannt und ihr daher
Vertrauen entgegengebracht wird. An dieser Auffassung ist festzuhalten.

    c) Das Gesetz will mit den Tatbeständen des Urkundenstrafrechts
das Vertrauen schützen, das im Rechtsverkehr einer Urkunde als
einem Beweismittel entgegengebracht wird (HÄFLIGER, Probleme der
Falschbeurkundung, in ZStR 1958 S. 404). Dieses Vertrauen ist u.a. abhängig
von allgemeinen Umständen (technische Entwicklung im Reproduktionswesen,
Tendenzen in der Abwicklung von Geschäftstransaktionen usw.) sowie von den
Gegebenheiten des Einzelfalles (Art und Beschaffenheit des Schriftstücks;
Zweck, für den es als Beweismittel eingesetzt wird). Die Verwendung
von Fotokopien ist im heutigen Rechtsverkehr aufgrund der allgemeinen
Verbreitung der entsprechenden Technik nicht mehr wegzudenken. Nicht
zuletzt dank der Möglichkeit, ein - gegenüber den früheren Methoden -
präziseres bzw. mit dem Original inhaltlich und formmässig identisches
Doppel herzustellen, geniessen Fotokopien im Geschäftsverkehr allgemeines
Vertrauen und werden nach der geltenden Übung als Beweismittel in der
Regel anerkannt. Die Frage einer Beglaubigung stellt sich im gewöhnlichen
Geschäftsverkehr nicht, sondern erlangt lediglich bei Geschäften von
ausserordentlicher Tragweite Bedeutung. Daran ändert nichts, dass
die Verfälschung von Fotokopien leicht zu bewerkstelligen ist. Das
Vertrauen, welches der Fotokopie heute im Geschäftsleben ganz allgemein
entgegengebracht wird, ist daher grundsätzlich als schützenswert im Sinne
des Urkundenstrafrechts zu bezeichnen.

    In casu geht es um die Beweiseignung der Fotokopie einer öffentlichen
Urkunde. Bei Geschäftsvorgängen der vorliegenden Art widerspricht es der
geltenden Übung, eine öffentliche Urkunde im Original einzureichen,
ganz abgesehen davon, dass die Steuerämter in einem solchen Fall
nur ein Original zu erstellen und den Erbschaftsanwärtern eine Kopie
zu versenden pflegen. Der Benützer der Fotokopie weiss, dass deren
Wahrheitsgehalt bei dem aus der Kopie ersichtlichen Aussteller (wie hier
beim Steueramt) jederzeit und ohne Schwierigkeiten nachgeprüft werden kann;
er wird sich deshalb in der Regel hüten, eine derart leicht eruierbare
Verfälschung vorzunehmen. Wenn also davon auszugehen ist, dass im heutigen
Geschäftsverkehr das Vertrauen gegenüber Fotokopien grundsätzlich ein
schützenswertes ist, so gilt dies nach dem Gesagten in besonderem Masse
für Fotokopien öffentlicher Urkunden.

    d) Der Beschwerdegegner übersandte die Fotokopie des Steuerinventars im
Zusammenhang mit dem geplanten Kauf eines Occasionswagens Saab 900 Turbo
DOHC der betreffenden Autogarage. Ihre Beweisbestimmung (Beleg seiner
Solvenz aufgrund einer anfallenden Erbschaft) ist unbestritten. Bei diesem
Autokauf handelt es sich um ein Geschäft üblichen Durchschnitts, wobei
auf Fotokopien, die geeignet sind, die Solvenz des Käufers zu belegen, in
der Regel abgestellt wird, auch wenn sie nicht beglaubigt sind. Dass der
verantwortliche Geschäftsführer trotzdem den Wahrheitsgehalt nachprüfte,
ist dabei unerheblich. Der vom Beschwerdegegner eingereichten Fotokopie
kann somit auch unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles die
vom Gesetz verlangte Beweiseignung zuerkannt werden.

    e) Beim Strafschutz von Fotokopien geht es nicht darum,
die "Leichtgläubigkeit und Nachlässigkeit im Geschäftsverkehr" zu
unterstützen, wie die Vorinstanz meint. Der von ihr zitierten Lehrmeinung,
den Beteiligten im Rechtsverkehr sei zur Wahrung dessen Sicherheit ein
gewisser Standard an "eigener Wachsamkeit und Sorge abzuverlangen",
kann zwar durchaus beigepflichtet werden. Die im Geschäftsverkehr
Verantwortlichen werden denn auch alles Interesse daran haben, zur
Verhinderung eines allfälligen Vermögensschadens gewisse Abklärungen
vorzunehmen, wie dies der Geschäftsführer der betreffenden Garage
tatsächlich getan hat. Vorliegend steht indessen nicht der Schutz des
Vermögens zur Diskussion, sondern der Schutz des Vertrauens, das einer
Urkunde nach der Verkehrsübung und den Umständen entgegengebracht wird.
Dass dieses Vertrauen im vorliegenden Fall ein schützenswertes im Sinne
des Urkundenstrafrechts ist, untersteht nach dem Gesagten keinem Zweifel.