Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IV 173



114 IV 173

48. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 26. April 1988 i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Glarus gegen B. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 14 VO über die Verhütung von Unfällen bei Arbeiten an und auf
Dächern (SR 832.311.15).

    1. Die Nichteinhaltung der gestützt auf Art. 83 UVG erlassenen
Vorschriften über technische Massnahmen zur Verhütung von Berufsunfällen
indiziert in aller Regel eine Sorgfaltswidrigkeit (E. 2a).

    2. Von den Schutzmassnahmen gemäss Art. 14 VO kann nur dann abgesehen
werden, wenn keine Arbeiten an der Traufe (wie bspw. das Auswechseln der
Dachrinne) bzw. am Dachgesims vorgenommen werden (E. 2b/c, E. 3).

Sachverhalt

    A.- B. stellte anlässlich des Umbaus eines Geschäftshauses in Glarus am
30. August 1985 für die Vornahme von Spengler- und Dachdeckerarbeiten das
Baugerüst auf; wie er wusste, sollte insbesondere die Dachrinne ersetzt
werden. Da keine Arbeiten auf dem Dach selber auszuführen waren, wurde
darauf verzichtet, einen Gerüstgang mit dicht geschlossenem Bretterbelag
unterhalb der Dachtraufe zu errichten.

    Am 4. September 1985 stürzte S., als er im Begriffe stand, einen Eimer
mit Werkzeug an einem Seil aussen über das Gerüst zu sich heraufzuziehen,
vom obersten Gerüstgang ca. 12 m in die Tiefe und verschied auf der
Unfallstelle. Es muss angenommen werden, dass er sich an die horizontale
Geländerstange anlehnte und diese aus einer ihrer Fixationen sprang,
worauf S. das Gleichgewicht verlor und hinunterstürzte.

    B.- Das Polizeigericht des Kantons Glarus verurteilte K., den
Arbeitgeber des Verunfallten, wegen fahrlässiger Tötung zu einer Busse
von Fr. 500.-- und B. wegen fahrlässiger Tötung und Gefährdung durch
Verletzung der Regeln der Baukunde zu einer Busse von Fr. 1'000.--.

    C.- Gegen diese Verurteilung wandte sich B. mit Appellation an
das Obergericht des Kantons Glarus, welches ihn von Schuld und Strafe
freisprach, unter gleichzeitiger Abweisung der Anschlussappellation der
Staatsanwaltschaft.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Glarus führt eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichtes
aufzuheben und den Fall zur Verurteilung von B. an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    E.- Der Instruktionsrichter holte beim Bundesamt für Sozialversicherung
(BSV) einen Amtsbericht ein über die Entstehungsgeschichte von Art. 14
der Verordnung über die Verhütung von Unfällen bei Arbeiten an und auf
Dächern (SR 832.311.15; nachstehend Verordnung bzw. VO).

Auszug aus den Erwägungen:

                  Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Eine Verurteilung des Beschwerdeführers wegen fahrlässiger
Tötung nach Art. 117 StGB und gegebenenfalls wegen der Straftatbestände
gemäss Art. 229 oder 230 StGB setzt voraus, dass er durch sorgfaltswidriges
Verhalten den Tod von S. herbeigeführt bzw. die anerkannten Regeln
der Baukunde missachtet oder Sicherheitsvorrichtungen nicht angebracht
hat. Sorgfaltswidrig im Sinne von Art. 117 StGB ist eine Handlung dann,
wenn der Täter zum Zeitpunkt der Handlung aufgrund seiner Kenntnisse
und Fähigkeiten die damit bewirkte Gefährdung des Lebens des Opfers
hätte erkennen können. Bei der Bestimmung des dem Einzelfall zugrunde zu
legenden Massstabes des sorgfaltsgemässen Verhaltens kann auf Verordnungen
zurückgegriffen werden, die der Unfallverhütung dienen (BGE 106 IV 80; 112
IV 5; MICHEL CARRARD, ZStrR 1987, 284). Dies gilt insbesondere im Bauwesen,
wo der Bundesrat gestützt auf Art. 83 UVG (SR 832.20) Vorschriften über
technische Massnahmen zur Verhütung von Berufsunfällen erlassen kann. Ein
Verstoss gegen die in derartigen Verordnungen enthaltenen Vorschriften
indiziert in der Regel eine Sorgfaltswidrigkeit.

    b) Gemäss Art. 14 VO ist bei Arbeiten an und auf Dächern mit
Arbeitsverrichtungen an der Traufe (Anbringen oder Auswechseln der
Rinne) ungefähr 1 m unterhalb der Dachtraufe ein Gerüstgang mit dicht
geschlossenem Bretterbelag, d.h. einer Schutzwand an der Sturzseite zu
errichten oder sind andere, mindestens gleichwertige Schutzmassnahmen
zu treffen. Gemäss Art. 15 VO kann auf die Errichtung eines Gerüstganges
gemäss Art. 14 VO verzichtet werden, sofern bei Arbeiten an bestehenden
Bauten keine eigentlichen Arbeitsverrichtungen an der Traufe bzw. am
Dachgesims erforderlich sind. Diesfalls ist an der Dachtraufe eine
durchgehende, wenigstens 60 cm hohe solide Schutzwand zu errichten
von einer Stärke, dass sie den Sturz von Personen oder niederfallenden
Materialien mit Sicherheit aufhält.

    c) Im vorliegenden Fall ging es, wie auch die Vorinstanz einräumt,
gerade um das Auswechseln der Rinne, weshalb Art. 14 VO schon aufgrund
des klaren Wortlautes Anwendung finden müsste. Entgegen der Ansicht des
Obergerichtes kann Art. 15 VO nicht zum Zuge kommen; denn nach dieser
Bestimmung kann von den Schutzmassnahmen gemäss Art. 14 VO nur abgesehen
werden, wenn keine eigentlichen Arbeitsverrichtungen an der Traufe
erforderlich sind. Gemäss dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 1 VO stellt das
Auswechseln der Rinne aber eine Arbeitsverrichtung an der Traufe dar.

Erwägung 3

    3.- a) Die Vorinstanz beruft sich auf das von der SUVA herausgegebene
Merkblatt 22024, welches in der Tat für das Auswechseln der Dachrinne eine
blosse Seilsicherung genügen lässt (Bilder 6 und 8, ebenso S. 11 2. Bild);
dabei fällt allerdings auf, dass auf dessen Abbildungen keinerlei Gerüst
vorhanden ist. Es ist daher nicht einzusehen, wie die Vorinstanz in diesem
Zusammenhang zum Schluss kommt, dass auch mit einem Gerüst ohne Schutzwand
"eine mit einer blossen Seilsicherung vergleichbare und gleichwertige
Schutzmassnahme auf diese Art und Weise zweifelsohne gegeben" sei. Das
Merkblatt geht vielmehr davon aus, dass beim blossen Auswechseln der
Dachrinne auf ein Gerüst überhaupt verzichtet werden könne, sofern eine
ausreichende Seilsicherung erfolgt. Nun nimmt die Vorinstanz selbst nicht
an, dass der Verunfallte mit einem Seil gesichert war. Dann ist aber
nicht ersichtlich, weshalb auf die Anforderungen gemäss Art. 14 VO hätte
verzichtet werden dürfen. Im Gegenteil: Die Installation eines Gerüstes
ohne Schutzwand barg die Gefahr in sich, dass es für Arbeiten benützt
würde, für die die Sicherung mittels einer Schutzwand notwendig war.

    b) Die Vorinstanz stützt sich weiter auf die Äusserungen des
Sachverständigen Vogel, wonach im vorliegenden Fall die Verordnung
über die Verhütung von Unfällen bei Bauarbeiten (SR 832.311.141)
anwendbar sei und das verwendete Gerüst, soweit er dies beurteilen
könne, den darin geforderten Sicherheiten entsprochen habe. Dessen
Äusserungen können jedoch, wie die Beschwerdeführerin zu Recht hervorhebt,
Sicherheitsvorschriften, wie sie in einer Verordnung niedergelegt sind,
nicht ausser Kraft setzen.

    c) Auch die Entstehungsgeschichte von Art. 14 VO ergibt keine
Anhaltspunkte für eine Auslegung der Bestimmung gegen ihren Wortlaut. Im
Entwurf vom 19.1.1967 lautete die Überschrift von Abschnitt III noch:
"Dachdeckerarbeiten bei Neubauten oder Umdecken von bestehenden
Dachflächen". Sowohl diese Überschrift wie auch der Text von Abs. 1 der
damaligen Fassung ("beim Eindecken von Neubauten sowie beim Umdecken oder
Neueindecken ganzer Dachflächen an bestehenden Bauten") zeigen, dass bei
Art. 14 VO zumindest ursprünglich nur an eigentliche Dachdeckerarbeiten
gedacht wurde. Die heutige Fassung sowohl der Überschrift von Abschnitt
III ("Arbeiten an und auf Dächern") wie auch des Textes von Abs. 1
("bei Arbeiten an und auf Dächern") geht zurück auf eine im Anschluss
an die Vernehmlassung durchgeführte Besprechung vom 5.7.1967 mit
interessierten Organisationen; danach wurde die Änderung vorgenommen,
um eine "Diskriminierung der Dachdecker zu vermeiden", nachdem diese die
Entwurfsfassung kritisiert hatten. Im Antrag des EDI an den Bundesrat
betreffend Verabschiedung der VO wird denn auch ausdrücklich differenziert:

    "Im Abschnitt über die Arbeiten an und auf Dächern werden die
Massnahmen
   umschrieben, welche einerseits zum Schutze der Versicherten gegen
   Absturz über die Dächer hinaus, andererseits gegen Absturz bei

    Verrichtungen an den Dachtraufen und -rinnen sowie an der
Dachuntersicht
   zu treffen sind."

    Daraus erhellt, dass der Wortlaut von Art. 14 VO durchaus den Sinn
und Zweck der Bestimmung wiedergibt. Wenn die italienische Fassung von
Art. 14 Abs. 1 VO abweichend von der übereinstimmenden deutschen und
französischen Fassung lautet "Per lavori di qualsiasi genere sui tetti",
so stellt sich dies als blosse redaktionelle Ungenauigkeit heraus, wie
schon die Bezeichnung der Verordnung ("Ordinanza concernente la prevenzione
degli infortuni per lavori di qualsiasi genere inerenti ai tetti") erkennen
lässt. Damit besteht kein Grund, vom Wortlaut der Bestimmung abzuweichen.