Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IV 146



114 IV 146

41. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 14. September 1988
i.S. A. gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 14 Abs. 1 VRV; Begriff der Behinderung.

    Eine Behinderung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 VRV ist zu bejahen, wenn
der Berechtigte seine Fahrweise brüsk ändern muss, d.h. vor, auf oder kurz
nach einer Verzweigung zu brüskem Bremsen, Beschleunigen oder Ausweichen
gezwungen wird, gleichgültig ob es zu einem Zusammenstoss kommt oder
nicht. Diese Einschränkung des Begriffs der Behinderung darf nicht zu einer
Entwertung des Vortrittsrechts führen, weshalb eine erhebliche Behinderung
nur ausnahmsweise zu verneinen ist (Bestätigung der Rechtsprechung).

    Die Erheblichkeit einer Behinderung hängt nicht davon ab, ob der
Vortrittsberechtigte diese im voraus erwartet und sich darauf einstellt,
dass sie sich verwirklichen könnte (Präzisierung der Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Wer zur Gewährung des Vortritts verpflichtet ist, darf den Berechtigten
in seiner Fahrt nicht behindern (Art. 14 Abs. 1 VRV). Während früher
eine Behinderung bereits angenommen wurde, wenn der Vortrittsberechtigte
seine Fahrt nicht gleichmässig und ungestört fortsetzen konnte (BGE 85
IV 86 mit Hinweisen), fasst die Rechtsprechung den Begriff heute enger;
sie bejaht eine Behinderung, falls der Berechtigte seine Fahrweise brüsk
ändern muss, d.h. vor, auf oder kurz nach einer Verzweigung zu brüskem
Bremsen, Beschleunigen oder Ausweichen gezwungen wird, gleichgültig ob
es zu einem Zusammenstoss kommt oder nicht (BGE 105 IV 341). Eine solche
Auslegung von Art. 14 Abs. 1 VRV entspricht dem Sinn von Art. 1 lit. z
aa) des internationalen Übereinkommens über den Strassenverkehr vom
8. November 1968, wonach die Pflicht, anderen Fahrzeugen die Vorfahrt
zu gewähren, bedeutet, dass der Fahrzeugführer seine Fahrt oder seine
Fahrbewegung nicht fortsetzen oder wiederaufnehmen darf, wenn dies andere
Fahrzeugführer dazu zwingen könnte, die Richtung oder Geschwindigkeit
ihrer Fahrzeuge unvermittelt zu ändern. Der Begriff der Behinderung
wurde in der neueren Rechtsprechung eingeschränkt, um den besonderen
Verhältnissen bei hohem Verkehrsaufkommen Rechnung zu tragen. Das darf
aber nicht zur Entwertung des Vortrittsrechts - einer Grundregel des
Strassenverkehrs - führen. Solche Regeln müssen klar und einfach zu
handhaben sein. Deshalb ist unter dem Gesichtspunkt von Art. 14 Abs. 1
VRV eine erhebliche Behinderung nur ausnahmsweise zu verneinen, was in
der Rechtsprechung ausdrücklich hervorgehoben wurde (BGE 105 IV 342 E. a).

    Eine derartige Ausnahmesituation liegt hier nicht vor. Der
Beschwerdeführer wendete sein Fahrzeug im Einmündungstrichter des
Meriedweges in Niederwangen innerorts und bog vor einem herannahenden
vortrittsberechtigten Polizeifahrzeug in die Freiburgstrasse ein, auf
der in jenem Bereich damals sonst kein Verkehr herrschte. Der Lenker des
Polizeifahrzeugs musste von ca. 50 auf 10 bis 20 km/h abbremsen, um eine
kritische Situation oder gar einen Zusammenstoss zu vermeiden. Durch die
Notwendigkeit plötzlicher und massiver Änderung der Geschwindigkeit zur
Abwendung der Gefahr ist eine wesentliche Behinderung ausgewiesen. Daran
ändert nichts, dass der Polizist seinen Aussagen gemäss und insbesondere
ohne "brüsk" zu bremsen verlangsamen konnte, weil er das Wendemanöver
von Anfang an beobachtet hatte und darauf gefasst war, abbremsen zu
müssen, falls der Beschwerdeführer ohne anzuhalten einbiegen sollte. Die
Erheblichkeit einer Behinderung kann nicht davon abhängen, ob der
Vortrittsberechtigte diese im voraus erwartet und sich darauf einstellt,
dass sie sich verwirklichen könnte. Denn er darf grundsätzlich davon
ausgehen, dass sein Recht beachtet werde, und muss das zur Abwendung der
Gefahr Zumutbare erst vorkehren, wenn konkrete Anhaltspunkte erkennen
lassen, dass der andere Verkehrsteilnehmer sich nicht richtig verhalten
werde (BGE 99 IV 175 E. c mit Hinweisen). Da vorliegendenfalls der
Vortrittsberechtigte unvermittelt seine Fahrweise anpassen musste, hat
die Vorinstanz zutreffend eine rechtserhebliche Behinderung im Sinne von
Art. 14 Abs. 1 VRV angenommen (vgl. BGE 99 IV 174 E. 3a).