Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IV 144



114 IV 144

40. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 5. Dezember 1988 i.S. B.
gegen Statthalteramt des Bezirkes Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 35 SVG und 39 Abs. 1 VRV; Überholen.

    Wer an einem Fahrzeug vorbeiführt, das wegen der Verkehrslage
vorübergehend wartet, überholt im Rechtssinne; dieser Begriff erfordert
somit nicht, dass sich beide Fahrzeuge in Bewegung befinden (Präzisierung
der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Am 13. Mai 1987 fuhr B. mit seinem Motorrad in den Milchbucktunnel
in Zürich und hielt am Ende einer stehenden Fahrzeugkolonne an. Trotz
signalisiertem Überholverbot fuhr er, ohne dabei die Gegenfahrbahn zu
benützen, links an zwei bis vier wartenden Personenwagen vorbei und
stellte sich hierauf vor einen ebenfalls stehenden Lastwagen.

    Die Einzelrichterin in Strafsachen des Bezirks Zürich verurteilte
B. wegen Verletzung von Verkehrsregeln (Art. 39 Abs. 1 VRV) zu einer
Busse von Fr. 80.--. Das Obergericht des Kantons Zürich wies die von
B. dagegen eingereichte Nichtigkeitsbeschwerde am 20. Oktober 1988 ab.

    B. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt
sinngemäss, der obergerichtliche Beschluss sei aufzuheben und die Sache
zur Freisprechung, eventuell zur Schuldigerklärung wegen Verletzung von
Art. 47 Abs. 2 SVG, an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 39 Abs. 1 VRV ist in Tunneln das Überholen von
Motorwagen in einer Fahrrichtung, in der nur ein Fahrstreifen besteht,
untersagt. Umstritten ist einzig, ob der Beschwerdeführer, als er an den
stehenden Personenwagen vorbeifuhr, im Rechtssinn überholt hat.

    Als Überholen gilt, wenn ein schnelleres Fahrzeug ein in gleicher
Richtung langsamer vorausfahrendes einholt, an ihm vorbeifährt und vor
ihm die Fahrt fortsetzt (BGE 104 IV 196 f. E. 2 mit Hinweisen). Ob auch
stehende Fahrzeuge überholt werden können, ist bisher nicht entschieden
worden. Indessen ist geklärt, dass vorübergehendes, durch die Verkehrslage
bedingtes Anhalten, etwa vor einem Rotlicht oder einem Stopsignal, zur
Gewährung des Vortritts oder in Befolgung der Grundregel von Art. 26
SVG dem Anhalten oder Parkieren gemäss Art. 37 Abs. 2 SVG und Art. 18
f. VRV nicht gleichgesetzt werden kann (BGE 101 IV 229 E. 2); nur das
auf der Fahrbahn abgestellte Fahrzeug gilt deshalb als Hindernis (BGE
106 IV 285 E. 3). Wer verkehrsbedingt wartet und dabei fahrbereit bleibt,
befindet sich nach wie vor im (fliessenden) Verkehr und fügt sich folglich
nicht in den Verkehr ein, wenn er nach Wegfall des Hinderungsgrundes
weiterfährt. Ein Fahrzeug in einer solchen Situation als Hindernis zu
betrachten, widerspricht den tatsächlichen Gegebenheiten und ist im Blick
auf die Rechtsfolge, wonach sämtliche Verkehrsteilnehmer ihm gegenüber
vortrittsberechtigt wären (Art. 36 Abs. 4 SVG), abwegig. Somit überholt,
wer an einem Fahrzeug vorbeifährt, das wegen der Verkehrslage vorübergehend
wartet; anderseits erfordert Überholen im Rechtssinn nicht, dass beide
Fahrzeuge sich in Bewegung befinden. Diese Betrachtungsweise entspricht
schweizerischer Lehre (SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen
Strassenverkehrsrechts I, S. 200 Rn. 542) sowie deutscher Rechtsprechung
(JAGUSCH/HENTSCHEL, Strassenverkehrsrecht, 29. Aufl., S. 350 N. 16 mit
Hinweisen). Weshalb sich beide Fahrzeuge in Bewegung befinden müssten,
damit ein Überholen angenommen werden könnte (BUSSY/RUSCONI, Code suisse
de la circulation routière, S. 203 N. 2.1), wird nicht begründet
und offenbart sich als widersprüchlich, wenn anderseits zutreffend
vorausgesetzt wird, nur ein haltendes oder parkiertes, nicht aber ein
im Verkehrsfluss angehaltenes Fahrzeug werde in den Verkehr eingefügt
(BUSSY/RUSCONI, aaO, S. 245 N. 4.3). Die Nichtigkeitsbeschwerde erweist
sich demnach als unbegründet.