Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IV 138



114 IV 138

39. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 11. Juli 1988
i.S. H. gegen Generalprokurator des Kantons Bern Regeste

    Art. 397 StGB; Art. 6 Ziff. 2 EMRK; Art. 2, 4 und 6 der Verordnung
über das Strafregister; Verjährung, Strafregistereintrag bei erneuter
Verurteilung im wiederaufgenommenen Verfahren.

    In dem zugunsten des Verurteilten wiederaufgenommenen
Verfahren lebt die Verfolgungsverjährung nicht auf, sondern
läuft die Vollstreckungsverjährung weiter (E. 2a; Bestätigung
der Rechtsprechung). Eine erneute Verurteilung unter gleichzeitiger
Feststellung, die Strafe sei zufolge Verjährung nicht mehr vollstreckbar,
verstösst nicht gegen die Unschuldsvermutung (E. 2b).

    Im wiederaufgenommenen Verfahren gilt aufgrund von Art. 397 StGB
das Verbot der reformatio in peius (E. 3a), und zwar auch hinsichtlich
der Eintragung des Urteils in das Strafregister (E. 3b). Es ist Sache
des Richters, im neuen verurteilenden Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen,
dass dieses registerrechtlich so zu behandeln ist, wie wenn es im Zeitpunkt
des aufgehobenen gefällt worden wäre (E. 3c).

Sachverhalt

    A.- H. wurde am 21. Januar 1977 vom Gerichtspräsidenten
I von Interlaken wegen vorsätzlicher Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz, begangen am 26. oder 27. Oktober 1973,
rechtskräftig verurteilt. Am 30. April 1984 hiess der Kassationshof des
Kantons Bern ein Wiederaufnahmegesuch von H. gut. Daraufhin verurteilte
ihn der Gerichtspräsident II von Thun am 3. Dezember 1984 erneut, und
zwar zu 1 1/2 Monaten Gefängnis bedingt bei einer Probezeit von zwei
Jahren. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass die ausgesprochene Strafe
zufolge eingetretener Verjährung nicht mehr vollstreckbar sei. Auf
Appellation von H. bestätigte das Obergericht des Kantons Bern dieses
Urteil am 15. Dezember 1987.

    H. erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Freisprechung an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das Obergericht begründet sein Urteil im wesentlichen wie
folgt: An sich wäre der dem Verfahren zugrundeliegende Sachverhalt
heute absolut verjährt. Im Anschluss an BGE 85 IV 169 lebe
jedoch bei Wiederaufnahmeverfahren zugunsten des Verurteilten
die Verfolgungsverjährung nicht wieder auf. Der Eintritt der
Vollstreckungsverjährung stehe einer neuen Verurteilung nicht
entgegen. Eine Löschung des Eintrages im Strafregister falle in die
Kompetenz der zuständigen Verwaltungsbehörde.

Erwägung 2

    2.- a) Das Bundesgericht hat in BGE 85 IV 169 angenommen, das
Wiederaufnahmeverfahren zugunsten des Verurteilten verfolge den Zweck, das
frühere Urteil, sofern ihm ein Justizirrtum zugrunde liegt, rückwirkend
zu beseitigen und den zu Unrecht Verurteilten freizusprechen oder milder
zu bestrafen. Würde die Verfolgungsverjährung im Revisionsverfahren
wieder aufleben, so wären jedesmal, wenn nach Aufhebung des Sachurteils
während des wiederaufgenommenen Verfahrens die Verjährung einträte,
die Berichtigung des objektiven und subjektiven Tatbestandes, auf dem
die Verurteilung beruht, und die Ausfällung eines neuen Sachurteils
ausgeschlossen. Es bliebe somit dem zu Unrecht Verurteilten die
Verwirklichung des gesetzlichen Anspruches auf Wiedergutmachung
gemäss Art. 397 StGB für immer verwehrt oder jedenfalls nicht mehr
von Bundesrechts wegen gewährleistet. Denn die Einstellung des
Verfahrens wegen Verjährung böte ihm hiefür keinen gleichwertigen
Ersatz. Demgemäss setze die Revision zugunsten des Verurteilten voraus,
dass das wiederaufgenommene Verfahren ohne Rücksicht auf den Zeitablauf
zu Ende geführt werden könne. Es wäre auch ein Widerspruch, wenn die
Verjährungsbestimmung, die gerade im Interesse des Angeklagten bestehe,
im Revisionsverfahren sich zu seinen Ungunsten auswirken könnte. Es sei
überdies nicht unbillig, dass die Verjährung auch dann nicht eintreten
könne, wenn das wiederaufgenommene Verfahren erneut zu einer Verurteilung
führe. Denn das Rechtsmittel der Revision gebe dem Verurteilten nur
Anspruch auf Feststellung, ob das verurteilende Erkenntnis materiell
unrichtig sei, und zutreffendenfalls auf Ausfällung eines Urteils, dem
der berichtigte oder ergänzte Sachverhalt zugrunde liege, nicht aber
darauf, dass ein neues Sachurteil wegen Zeitablaufes unterbleibe. Die
Vollstreckungsverjährung laufe jedoch weiter. Ihr Eintritt hindere die
Wiederaufnahme des Verfahrens nicht, weshalb der Revisionsrichter im
neuen Urteil allenfalls festzustellen habe, ob die an Stelle der früheren
getretene neue Strafe wegen Verjährung nicht mehr vollstreckbar sei.

    Das Bundesgericht folgte mit diesem Entscheid der in der Literatur
herrschenden Auffassung (CLERC, ZStR 61/1946, S. 245; PFENNINGER, ZStR
70/1955, S. 59; WAIBLINGER, ZStR 75/1960, S. 393), welche auch später
nicht in Frage gestellt worden ist (vgl. SCHULTZ, ZBJV 97/1961, S. 172 f.;
ADAM-CLAUS ECKERT, Die Wiederaufnahme des Verfahrens im schweizerischen
Strafprozessrecht, Berlin 1974, S. 104; PIQUEREZ, Traité de procédure
pénale bernoise et jurassienne II, N 1021). Sie entspricht auch der in
der deutschen Doktrin vertretenen Meinung, dass bei Wiederaufnahme
zugunsten eines Verurteilten die Zeit zwischen Verurteilung und
Wiederaufnahmebeschluss in die Verjährungsfrist nicht einbezogen wird
(SCHÖNKE/SCHRÖDER/STREE, 23. Aufl., § 78a N 15; LÖWE/ROSENBERG/GÖSSEL,
24. Aufl., § 370 N 35 ff.).

    b) An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Sie ist entgegen
der Ansicht des Beschwerdeführers auch mit der Unschuldsvermutung zu
vereinbaren. Diese verbietet, den Angeschuldigten ohne rechtskräftiges
Strafurteil als schuldig anzusehen. Vorliegend ist der Beschwerdeführer in
einem Strafverfahren rechtskräftig beurteilt und schuldig gesprochen
worden, so dass eine Verletzung der Unschuldsvermutung nicht
ersichtlich ist. Dass gleichzeitig mit der Schuldigerklärung und der
Strafaussprechung festgestellt wird, eine Vollstreckung des Urteils komme
nicht mehr in Betracht, ändert daran nichts. Im angerufenen Fall Minelli
(EuGRZ 10/1983, S. 475 ff.) ging es um eine Verfahrenseinstellung
wegen Verfolgungsverjährung, also nicht wie hier um eine Frage der
Vollstreckungsverjährung. Die Unschuldsvermutung erfordert entgegen der
Auffassung des Beschwerdeführers keine vollstreckbare Strafe. So ist
etwa eine Schuldigerklärung des Angeklagten unter Absehen von Strafe
(Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG) oder, soweit gesetzlich vorgesehen, eine
blosse Verwarnung mit der Unschuldsvermutung vereinbar. Bei der Einweisung
in eine Arbeitserziehungsanstalt erfolgt ebenfalls Schuldigerklärung
ohne Strafausspruch (Art. 100bis Ziff. 1 StGB). Ob im Falle des Todes des
Angeschuldigten zwischen der Kassation des ersten Urteils und dem neuen
Urteil eine Einstellung zu erfolgen hätte, kann offenbleiben. Die Pflicht
zur Verfahrenseinstellung ergäbe sich nämlich allenfalls daraus, dass gegen
einen Verstorbenen rechtsgültig nicht mehr verhandelt werden kann, weshalb
auch die Aussprechung eines Urteils gegen ihn nicht mehr in Betracht
kommt. Immerhin spricht die Möglichkeit, dass die Angehörigen auch nach
dem Tode des Verurteilten eine Revision verlangen können (WAIBLINGER, aaO,
S. 402; PIQUEREZ, aaO, N 1005) gegen die Pflicht zur Verfahrenseinstellung,
wenn der Beschuldigte erst nach dem Wiederaufnahmeentscheid stirbt.

    Das Argument, bei Verjährungseintritt während des
Rechtsmittelverfahrens erfolge ebenfalls Einstellung, verfängt
nicht. Zum einen gilt dies ohnehin nur bei ordentlichen Rechtsmitteln
(BGE 92 IV 172 E. b, 111 IV 91 E. b); die Wiederaufnahme steht aber
einem ausserordentlichen Rechtsmittel näher. Zum andern besteht ein
wesentlicher Unterschied zwischen einem Wiederaufnahmeverfahren zugunsten
des Verurteilten und einem ordentlichen Rechtsmittelverfahren. Im ersteren
geht es, wie in E. 2a dargelegt, darum, ob die frühere rechtskräftige
Verurteilung zu Recht erfolgte. Im zweiten ist dagegen ein noch nicht
rechtskräftiges Erkenntnis der ersten Instanz zu überprüfen.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer macht geltend, dass auch die
Strafregistereinträge nicht erfolgen dürften. Das Obergericht ist
der Ansicht, die Frage des Zeitpunktes der Löschung des Eintrages im
Strafregister sei nicht von den Gerichten, sondern den zuständigen
Verwaltungsbehörden zu entscheiden.

    a) Art. 397 StGB enthält für die Wiederaufnahme des Verfahrens
zugunsten des Verurteilten einen bundesrechtlichen Revisionsgrund im Sinne
einer Minimalvorschrift an die Kantone, denen im übrigen die Ordnung
dieses Rechtsmittels obliegt (BGE 69 IV 137). Das Gesetz spricht sich
nicht ausdrücklich darüber aus, ob für das wiederaufgenommene Verfahren
das Verbot der reformatio in peius gilt. Die Frage ist jedoch aufgrund des
Zweckes von Art. 397 zu bejahen: Sieht das Bundesrecht eine Wiederaufnahme
zugunsten des Verurteilten vor, so wäre es ein Widerspruch in sich
selbst, wenn das im wiederaufgenommenen Verfahren ergangene Urteil für
den Betroffenen schlechter ausfallen könnte als das aufgehobene. Daraus
folgt, dass das Verbot der reformatio in peius im Wiederaufnahmeverfahren
zugunsten des Verurteilten von Bundesrechts wegen aufgrund von Art. 397
StGB gegeben ist (CLERC, aaO, S. 246; im Ergebnis ebenso WAIBLINGER, aaO,
S. 406 FN 71; SCHULTZ, ZBJV 97/1961, S. 173; vgl. auch NICOLAUS BERNOULLI,
Das Verbot der reformatio in peius im schweizerischen Strafprozessrecht,
Diss. Zürich 1953, S. 26; PIQUEREZ, aaO, N 1020; ECKERT, aaO, S. 108 f.).

    Dem könnte BGE 86 IV 77 entgegenstehen. Hier wurde angenommen, es
sei nicht bundesrechtswidrig, dass der Revisionsrichter bei der Würdigung
des Vorlebens und der persönlichen Verhältnisse des Täters auch Umstände
berücksichtige, die erst nach dem früheren Urteil eingetreten seien. Das
Bundesgericht hat jedoch in jenem Fall zur Frage der reformatio in peius
nicht ausdrücklich Stellung genommen. Vielmehr ist es davon ausgegangen,
dass es unzweckmässig wäre, in Fällen wie dem damals beurteilten, wo
die früher ausgesprochene Strafe bedingt aufgeschoben wurde, später
aber vollziehbar erklärt werden musste, im Revisionsverfahren nur auf
den zur Zeit des früheren Urteils bekannten Sachverhalt abzustellen
und nachträglich im Widerrufsverfahren die Gewährung des bedingten
Strafvollzuges wieder rückgängig zu machen, anstatt ihn schon bei der
Ausfällung des neuen Urteils zu verweigern. In der Doktrin ist wohl
zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der zitierte Entscheid eine
ausgesprochene Ausnahmesituation betraf und dass die Ansicht, die neue
Verurteilung dürfe nie schwerer ausfallen als die ursprüngliche, einen
besseren Ausgangspunkt zur Beurteilung der Problematik biete (SCHULTZ,
ZBJV 98/1962, S. 133; vgl. auch BONNARD, JdT 1960 IV 121 ff.).

    b) Ohne das Wiederaufnahmeverfahren wäre es beim Eintrag des Urteils
vom 21. Januar 1977 geblieben. Die Löschungsfrist wäre ab diesem Datum
zu berechnen gewesen. Wird dagegen das im wiederaufgenommenen Verfahren
ergangene Urteil vom 15. Dezember 1987 eingetragen, so würde sich der
Beginn der Löschungsfrist um rund zehn Jahre verschieben. Dies ist
mit dem Verbot der reformatio in peius nicht zu vereinbaren. Vielmehr
ist das am 15. Dezember 1987 ausgesprochene Urteil registerrechtlich
so zu behandeln, wie wenn es bereits im Zeitpunkt des aufgehobenen
Urteils (21. Januar 1977) ausgesprochen worden wäre. Dafür spricht
auch, dass mit dem wiederaufgenommenen Verfahren der status quo ante
wiederhergestellt werden soll (WAIBLINGER, aaO, S. 407). Es wäre in der
Tat unhaltbar, dass derjenige, der unter Umständen nach vielen Jahren im
Wiederaufnahmeverfahren erneut, wenn auch gegebenenfalls milder bestraft
wird, mit einem neuen Strafregistereintrag belastet würde.

    c) Bleibt zu prüfen, wie diesem Gesichtspunkt Rechnung zu tragen
ist. Das Obergericht vertritt die Ansicht, die Kompetenz zur Löschung
eines Eintrages liege bei der zuständigen Verwaltungsbehörde.

    Gemäss Art. 2 der Verordnung über das Strafregister (SR 331) sind alle
ausgesprochenen eintragungspflichtigen Urteile der Strafregisterbehörde
mitzuteilen, ebenso die Tatsachen, die eine Änderung der Eintragungen
herbeiführen oder den Vollzug der Strafen oder Massnahmen betreffen. Die
kantonale Amtsstelle trägt die eintragungspflichtigen Tatsachen in das
kantonale Strafregister ein und leitet die Meldung unverzüglich an das
schweizerische Zentralpolizeibüro weiter, welches die ihm gemeldeten
Tatsachen in das Zentralstrafregister einträgt (Art. 4). Gemäss Art. 6
prüft der Registerbeamte die eingehenden Urteilsmeldungen auf die
Vollständigkeit der Angaben.

    Daraus folgt, dass der Registerführer im Prinzip an die
Urteilsmitteilung durch das kantonale Gericht gebunden ist. Es ist
deshalb Sache des Richters, der im wiederaufgenommenen Verfahren ein neues
verurteilendes Erkenntnis spricht, dafür besorgt zu sein, dass das Verbot
der reformatio in peius auch in bezug auf den Strafregistereintrag befolgt
wird. Die Vorinstanz hat deshalb im vorliegenden Fall in ihrem Urteil zum
Ausdruck zu bringen, dass das Urteil registerrechtlich zu behandeln ist,
wie wenn es am 21. Januar 1977 gefällt worden wäre. Eine allfällige
Löschung des Eintrages ergibt sich dann gemäss den Regeln von Art.
80 und wie hier von Art. 41 Ziff. 4 StGB. Das heisst, es ist dann Sache
der jeweils zuständigen Behörde des Urteilskantons, im Falle der Bewährung
die Löschung des Urteils nach Ablauf der Probezeit vorzunehmen.

    Da sich das Obergericht zu dieser Frage nicht abschliessend
geäussert hat, ist sein Entscheid in diesem Sinne zu präzisieren. Das
Bundesrecht verlangt jedoch nicht, dass diese Erwägung im Dispositiv
seinen Niederschlag finden müsse. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist deshalb
in diesem Punkt im Sinne der Erwägungen abzuweisen.