Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 II 435



114 II 435

84. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 14. Dezember 1988 i.S.
Firmen R. und S. gegen X. AG und Präsidenten des Obergerichts des Kantons
Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Art. 77 PatG; vorsorgliche Massnahmen nach Wegfall des
Patentschutzes.

    Die Weigerung, nach Ablauf des Patentschutzes bundesrechtliche
Massnahmen gemäss Art. 77 PatG anzuordnen, verletzt Art. 4 BV nicht.

Sachverhalt

    A.- Am 16. Mai 1988 stellten die Firmen R. und S. bezüglich eines
patentierten Verfahrens zum Belegen textiler Unterlagen mit pulverförmigem
Kunstharz ein Gesuch um vorsorgliche Massnahmen gemäss Art. 77 PatG. Sie
beantragten dem Präsidenten des Obergerichts des Kantons Thurgau, der X. AG
zur Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes und zur Beweissicherung
jede Verwendung von Vorrichtungen zur Durchführung eines patentverletzenden
Verfahrens zu untersagen, sie zur Offenbarung anzuhalten und die zur
Patentverletzung verwendeten Vorrichtungen zu beschlagnahmen.

    Ein Begehren um superprovisorische Anordnung der verlangten Massnahmen
erklärte der Präsident des Obergerichts am 27. Mai 1988 als gegenstandslos.

    Ende Mai 1988 lief die Schutzdauer des Patentes gemäss Art. 14 PatG ab,
worauf das Begehren um vorsorglichen Schutz des Unterlassungsanspruchs
zurückgezogen, die übrigen Anträge aber aufrechterhalten wurden. In
der Folge wies der Präsident des Obergerichts das Gesuch um vorsorgliche
Massnahmen - soweit es nicht bereits durch den Entscheid über die Begehren
um superprovisorische Anordnungen gegenstandslos geworden war - am 20. Juli
1988 mit den Begründungen ab, der Hinfall des Patentschutzes schliesse
Anordnungen im Sinne von Art. 77 PatG aus, zudem sei die Patentverletzung
nicht glaubhaft gemacht und das Begehren um vorläufigen Rechtsschutz
verspätet gestellt worden.

    B.- Die R. und die S. führen staatsrechtliche Beschwerde wegen
Verletzung von Art. 4 BV. Sie rügen eine willkürliche Anwendung von
Art. 77 PatG und machen insbesondere geltend, der Anspruch auf vorsorgliche
Massnahmen zur Beweissicherung bestehe nach Ablauf der patentrechtlichen
Schutzdauer weiter.

    Die X. AG schliesst auf kostenfällige Abweisung der Beschwerde. Die
gleichen Anträge stellt unter Hinweis auf den angefochtenen Entscheid
der Präsident des Obergerichts des Kantons Thurgau.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 3

    3.- Der Obergerichtspräsident hält die Anordnung vorsorglicher
Massnahmen nach Ablauf der patentrechtlichen Schutzdauer nicht mehr für
möglich. Die Beschwerdeführerinnen bezeichnen diese Auffassung unter
Hinweis auf die auch nach Erlöschen des Patentes noch durchsetzbaren
Feststellungs- und Schadenersatzansprüche sowie die hiefür gebotene
Beweissicherung als willkürlich.

    a) Vorsorgliche Massnahmen können zur Beweissicherung, zur
Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes oder zur vorläufigen
Vollstreckung streitiger Unterlassungs- oder Beseitigungsansprüche
verfügt werden (Art. 77 Abs. 1 PatG). Dabei bedarf keiner weiteren
Erörterung, dass vorsorgliche Massnahmen zum Schutz patentrechtlicher
Defensivansprüche vom Bestand eines materiellen Schutzrechtes abhängig
sind, ist der Rechtsbestand des angeblich verletzten Patentes doch
Voraussetzung des Rechtsschutzes schlechthin. Nichtige oder erloschene
Patente lassen sich nicht durch vorsorgliche Massnahmen schützen (BRINER,
Vorsorgliche Massnahmen im schweizerischen Immaterialgüterrecht, SJZ
78/1982 S. 157 ff., 159 bei Fn. 25).

    Selbstverständlich ist weiter, dass - vorbehältlich eines
Forderungsuntergangs zufolge Verjährung, Verwirkung oder aus andern
Gründen - Schadenersatzansprüche aus Patentverletzung auch nach
Ablauf der Schutzdauer noch geltend gemacht werden können, sofern die
rechtswidrige Handlung in die Zeit des Patentschutzes fällt. Folglich
muss dem Belangten ebenfalls die Möglichkeit gewahrt sein, sich in dieser
Auseinandersetzung auf die Nichtigkeit des Schutzrechtes zu berufen. Sein
Feststellungsinteresse ist unbesehen der abgelaufenen Patentdauer zu
bejahen, wenn die Frage der Patentgültigkeit die künftigen Beziehungen
und Auseinandersetzungen der Parteien zu beeinflussen vermag (BGE 109
II 167 ff.). Streitgegenstand bildet diesfalls nicht mehr der reale
Schutz des Patentes, sondern allein noch der Ausgleich wirtschaftlicher
Beeinträchtigungen durch Schutzrechtsverletzungen. Zu prüfen ist daher, ob
hiefür, insbesondere zur Sicherung der die Ansprüche stützenden Beweise,
der vorsorgliche Rechtsschutz nach Bundesrecht ebenfalls zur Verfügung
steht.

    b) Nach dem Wortlaut von Art. 77 Abs. 1 PatG kann die vorsorgliche
Massnahme zur Beweissicherung schlechthin beansprucht werden, ohne
dass zwischen den zu sichernden Ansprüchen unterschieden wird. In der
Literatur wird die Beweissicherung im allgemeinen weder näher erörtert noch
nach Massgabe der einzelnen Ansprüche differenziert, sondern als Zweck
der Massnahme bloss erwähnt (TROLLER, Immaterialgüterrecht, 3. Aufl.,
Band II, S. 1065 lit. a), als unproblematisch bezeichnet (PEDRAZZINI,
Patent- und Lizenzvertragsrecht, 2. Aufl., S. 178 Ziff. 17.9.2) oder
dazu unter anderem ausgeführt, dass sie geeignet sei, patentverletzende
Erzeugnisse vor dem drohenden Untergang zu bewahren (BLUM/PEDRAZZINI,
Anm. 2 zu Art. 77 PatG; vgl. auch S. 659/1 Anm. 2A zu Art. 77 PatG; HANS
PETER MING, Die vorsorglichen Massnahmen im Gewerblichen Rechtsschutz
und Urheberrecht, Diss. Zürich 1969, S. 19). Einzelne Autoren lehnen die
vorsorgliche Massnahme als Mittel zur Feststellung und Ausgleich bereits
eingetretenen und nicht unter Anwachsungsgefahr stehenden Schadens unter
dem Kriterium der Nachteilsvoraussetzung ausdrücklich ab (TROLLER, aaO,
S. 1066 lit. c; differenziert MING, aaO, S. 34 f.).

    c) Art. 64 Abs. 3 BV belässt die Organisation der Gerichte und das
gerichtliche Verfahren der Regelungskompetenz der Kantone. Bundesrechtliche
Vorschriften, welche in diese Rechtssetzungshoheit eingreifen, sollen dort
eine einheitliche Anwendung des Bundesrechts gewährleisten, wo die Vielfalt
der kantonalen Ordnungen die Gefahr ungenügenden oder unterschiedlichen
prozessualen Schutzes gleichgerichteter Ansprüche in sich birgt. Als
Prinzip der verfassungskonformen Interpretation hat jedoch zu gelten,
dass die bundesrechtlichen Prozessvorschriften ihrem beschränkten Sinn
entsprechend auszulegen und die kantonalen Zuständigkeiten nicht unnötig
einzuengen sind.

    Im Bestreben, die vorsorglichen Massnahmen des gewerblichen
Rechtsschutzes zu vereinheitlichen (BBl 1950 I 1062), wurden die
Vorschriften des Patentgesetzes über den vorsorglichen Rechtsschutz bewusst
denjenigen des Bundesgesetzes vom 30. September 1943 über den unlauteren
Wettbewerb (Art. 9 bis 12 aUWG) angeglichen. Diese wettbewerbsrechtlichen
Vorschriften ihrerseits bezweckten, die schädlichen Auswirkungen unlauteren
Wettbewerbs möglichst frühzeitig zu verhindern, drohenden Schaden zu
verhüten oder den eingetretenen Schaden wenigstens nach Möglichkeit
einzudämmen (Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom
3. November 1942 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über den unlauteren
Wettbewerb, BBl 1942 S. 665 ff., 681). Sie wurden im geltenden UWG im
wesentlichen durch einen allgemeinen Hinweis auf die entsprechenden
Regelungen des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes ersetzt,
erneut im Bestreben, die vorsorglichen Massnahmen des Bundesrechts zu
vereinheitlichen (Art. 13 UWG). Auch im Persönlichkeitsrecht aber ging der
Bundesgesetzgeber von der grundsätzlichen Gesetzgebungshoheit der Kantone
auf dem Gebiete des Prozessrechts aus und strebte eine bundesrechtliche
Vereinheitlichung nur insoweit an, als sie für die Verwirklichung des
zu regelnden Instituts des Privatrechts unerlässlich schien (Botschaft
vom 5. Mai 1982 über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches,
BBl 1982 II 636 ff., 642 Ziff. 133). Eine Rechtsvereinheitlichung wird
dabei als geboten erachtet, um Angriffe auf die Persönlichkeit wirksam
zu verhindern oder Störungen zu beseitigen (BBl 1982 II 644). Daraus
ist zu schliessen, dass nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers
und namentlich in Berücksichtigung seiner Tendenz zur materiellen
Vereinheitlichung möglichst aller bundesrechtlichen Vorschriften über
den vorläufigen Rechtsschutz - wobei die Zuständigkeit der Kantone
soweit wie möglich zu wahren ist - die vorsorglichen Massnahmen
lediglich zum Schutz von Defensivansprüchen vereinheitlicht werden
sollten. Der prozessuale Rechtsschutz im Ausgleichsverfahren nach
abgeschlossener Schädigung hingegen wurde grundsätzlich dem kantonalen
Recht belassen. Auch in der neueren Literatur wird die Meinung vertreten,
die vorsorglichen Massnahmen des Bundesrechts ständen zur Sicherung von
Entschädigungsforderungen nicht zur Verfügung (TERCIER, Le nouveau droit
de la personnalité, S. 149 Rz. 1110; vgl. auch L. DAVID, Supplement zum
Kommentar von H. David zum Schweizerischen Markenschutzgesetz, S. 86,
N 5 zu Art. 31 MSchG). Dieser Autor ist der Ansicht, die vorsorgliche
Massnahme könne insbesondere zur Beweissicherung angeordnet werden,
damit der Markeninhaber in den Stand gesetzt werde, Klage zum Schutz
seines behaupteten Rechtes anhängig zu machen. Sie überzeugt ebenfalls im
Bereich des Patentrechts. Soweit das Bundesgericht sich in seiner jüngeren
Praxis mit solchen Massnahmen zu befassen hatte, betrafen sie denn alle
auch den Schutz von Defensivansprüchen (BGE 94 I 8 ff.; 99 II 344 ff.;
103 II 287 ff.; 106 II 66 ff.; nicht veröffentlichte Urteile vom 27. Mai
1986 i.S. A. S. und vom 13. Februar 1987 i.S. I. SA).

    Die Beweissicherung ist nach Sinn und Zweck von Art. 77 PatG nicht
als selbständiges Institut zum Schutze aller beliebigen patentbezogenen
Forderungen, sondern lediglich als besondere Gewähr zur Sicherung
der Defensivansprüche zu betrachten. Das steht in Einklang mit der
Auffassung, dass die Beweissicherung ohnehin nicht zu den eigentlichen
vorsorglichen Massnahmen zählt (ISAAK MEIER, Grundlagen des einstweiligen
Rechtsschutzes, S. 48 f.; demgegenüber GULDENER, Schweizerisches
Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 576 Ziff. 3) und zudem in sämtlichen
kantonalen Prozessvorschriften bereits vorgesehen ist (Nachweise bei VOGEL,
Grundriss des Zivilprozessrechts, S. 193 Rz. 91), was eine umfassende
bundesrechtliche Regelung entbehrlich macht.

    d) Mit Ablauf der Schutzdauer des Patentes begrenzte die
Auseinandersetzung der Parteien sich auf den Schadensausgleich aus
behaupteter, zwangsläufig abgeschlossener Patentverletzung. Die Fragen
nach der Gültigkeit des Patentes während laufender Schutzdauer und
nach derjenigen seiner Verletzung sind allein noch im Hinblick auf die
beanspruchte Wiedergutmachung von Bedeutung, aber nicht mehr hinsichtlich
allfälliger Defensivansprüche. Damit ist der Entscheid des Präsidenten
des Obergerichts, den Erlass einer bundesrechtlichen Massnahme gemäss
Art. 77 PatG abzulehnen, im Lichte von Art. 4 BV nicht zu beanstanden.