Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 II 402



114 II 402

77. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 17. November 1988 i.S.
B.-H. gegen B. (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Familienwohnung (Art. 145 und 169 ZGB).

    Die Tatsache des Getrenntlebens gestützt auf Art. 145 ZGB stellt
nicht schon als solche einen triftigen Grund im Sinne von Art. 169 Abs. 2
ZGB dar.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- b) Der dem nicht dinglich oder obligatorisch an der Wohnung
berechtigten Ehegatten von Art. 169 ZGB gewährte Schutz mag dort
seine Berechtigung verlieren, wo dieser Ehegatte die Familienwohnung
endgültig verlassen hat oder verlassen muss und wo keine Aussicht mehr
darauf besteht, dass die Ehegatten in der vormaligen Familienwohnung das
Zusammenleben wiederaufnehmen werden (Kommentar HAUSHEER/REUSSER/GEISER,
N. 22 zu Art. 169 ZGB und Art. 271a OR; BGE 114 II 399 E. b).

    Im vorliegenden Fall ist der Präsident der II. Zivilkammer des
Kantonsgerichts St. Gallen nicht vorweg davon ausgegangen, angesichts
des schon seit rund zwei Jahren andauernden Getrenntlebens sei keine
Familienwohnung im Sinne von Art. 169 ZGB mehr vorhanden. Er hält
aber dafür, dass nur noch rechtlich, jedoch nicht mehr faktisch von
einer Familienwohnung gesprochen werden könne. Nicht nur lebten die
Ehegatten getrennt - wird im angefochtenen Entscheid ausgeführt -,
sondern auch von den vier Kindern wohne nur noch das jüngste im
angestammten Einfamilienhaus. Aussicht auf Wiedervereinigung der
Parteien bestehe trotz der von der Ehefrau geäusserten Hoffnung bei
nüchterner Betrachtung kaum. Die Ehefrau beanspruche die vormalige
Familienwohnung "als Basis und Symbol eines möglichen Neuanfangs", doch
erscheine dies nicht mehr realistisch. Der Ehemann nämlich betrachte
ein erneutes Zusammenleben als absolut undenkbar, und auch die Ehefrau
habe in anderem Zusammenhang ausgeführt, dass eine Wiedervereinigung
nur unter verschiedenen Vorbehalten erfolgen könnte. Zudem erscheine es
nicht zwingend, dass eine Wiedervereinigung durch die frühere Umgebung
erleichtert werde; vielmehr sei es denkbar, dass ein Neuanfang durch
eine neue Umgebung, die weniger an die früheren Verhältnisse erinnere,
gefördert werde. Unter diesen Umständen und im Hinblick auf den grossen
Aufwand für das Einfamilienhaus im Vergleich zu anderen, den Verhältnissen
angemessenen Lösungen wird es im angefochtenen Entscheid für richtig
gehalten, dem Ehemann den Verkauf des Einfamilienhauses zu gestatten, was
die Verpflichtung der Ehefrau nach sich zieht, sich binnen sechs Monaten
nach Abschluss eines Kaufvertrags nach einer neuen Wohnung umzusehen.

Erwägung 3

    3.- Damit verkennt der Präsident der II. Zivilkammer des
Kantonsgerichts St. Gallen den zentralen Schutzgedanken von Art. 169
ZGB, dem auch im Rahmen von Art. 145 ZGB Rechnung zu tragen ist. Seine
Betrachtungsweise ist insofern widersprüchlich, als einerseits die
besondere Schutzbedürftigkeit auch und gerade in Ehekrisen anerkannt wird,
anderseits in Vorwegnahme der noch nicht ausgesprochenen Scheidung und der
Regelung der Nebenfolgen dem schutzbedürftigen Ehegatten der Verzicht auf
die Familienwohnung nur schon aufgezwungen wird, weil die Eheleute seit
rund zwei Jahren getrennt leben und der Ehemann ein erneutes Zusammenleben
als undenkbar bezeichnet.

    Freilich kann der in Art. 169 ZGB verankerte Schutzgedanke nicht dazu
führen, die bisherige Familienwohnung dem schutzbedürftigen Ehegatten
ungeachtet wesentlicher Änderungen der Verhältnisse immer bis zur Auflösung
der Ehe zu erhalten. Indessen verlangt Art. 169 Abs. 2 triftige Gründe,
die den Richter veranlassen, anstelle des betroffenen Ehegatten die
Zustimmung zur Veräusserung der Familienwohnung zu erteilen. Ein solcher
triftiger Grund läge zum Beispiel beim Nachweis darüber vor, dass die
veränderten Verhältnisse die bisherige Familienwohnung als nicht mehr
tragbar erscheinen lassen BGE 114 II 401 E. b.

    Darüber enthält der angefochtene Entscheid keine konkreten Angaben,
wenngleich auf den grossen finanziellen Aufwand für die eheliche
Liegenschaft hingewiesen wird. Es lässt sich aus diesem Hinweis nicht
der zwingende Schluss ziehen, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse
des Ehemannes derart verändert hätten, dass die zwischen den Ehegatten am
5. Dezember 1986 abgeschlossene Vereinbarung unumgänglich einer Änderung
bedürfte. Ohne eine solche Feststellung über die tatsächlichen Verhältnisse
aber entbehrt der angefochtene Entscheid der sachlichen Begründung und
ist daher als willkürlich aufzuheben.