Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 II 396



114 II 396

76. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 17. November 1988 i.S.
H.-M. gegen H. (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Familienwohnung (Art. 145 und 169 ZGB).

    1. Eine im Zusammenhang mit Art. 169 ZGB stehende Rüge kann im
Rechtsmittelverfahren nach dem 1. Januar 1988 vorgebracht werden, auch
wenn die vor diesem Datum urteilenden kantonalen Gerichte die Bestimmung
noch nicht angewendet haben (E. 4).

    2. Ein Ehegatte kann sich auch während des Scheidungsprozesses auf
Art. 169 ZGB berufen. Doch verliert der von dieser Bestimmung gewährte
Schutz seine Berechtigung, wenn der Ehegatte die Familienwohnung endgültig
verlassen hat oder verlassen muss und wenn keine Aussicht mehr besteht,
dass die Ehegatten in der vormaligen Familienwohnung das Zusammenleben
wieder aufnehmen werden (E. 5).

    3. Es ist im vorliegenden Fall nicht zu beanstanden, wenn durch die
vorsorgliche Massnahme nach Art. 145 ZGB der richterliche Entscheid über
den triftigen Grund im Sinne von Art. 169 Abs. 2 ZGB schon vorweggenommen
wird (E. 6).

Sachverhalt

    A.- Mit Beschluss vom 1. Februar 1988 verpflichtete das Obergericht
des Kantons Zürich, an welches die Ehefrau rekurriert hatte, den Ehemann
zu monatlichen Unterhaltsbeiträgen von Fr. 10'000.-- bis zum Auszug der
Ehefrau aus der ehelichen Wohnung. Von diesem Zeitpunkt an sollte der
Ehemann monatliche Unterhaltsbeiträge von Fr. 7'000.-- entrichten. Ferner
verlängerte das Obergericht die Frist zum Auszug aus der bisherigen
Familienwohnung, die der Ehefrau in erster Instanz gesetzt worden war,
bis zum 31. Juli 1988 und bestätigte die Aufhebung der zwei Jahre zuvor
angeordneten Kanzleisperre über die im Eigentum des Ehemannes stehende
Liegenschaft.

    Eine Nichtigkeitsbeschwerde der Ehefrau gegen diesen Beschluss des
Obergerichts wurde vom Kassationsgericht des Kantons Zürich am 23. Juni
1988 abgewiesen.

    B.- Die Ehefrau erhob beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung von Art. 4 BV. Diese wurde abgewiesen mit den folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Vor dem Kassationsgericht des Kantons Zürich war einzig noch die
Verpflichtung der Ehefrau, das eheliche Einfamilienhaus zu verlassen,
streitig. Das Kassationsgericht hatte zu prüfen, ob dem Obergericht des
Kantons Zürich insofern eine Verletzung klaren Rechts vorzuwerfen sei,
als es dem am 1. Januar 1988 in Kraft getretenen Art. 169 ZGB keine
Rechnung getragen habe.

    Diese Frage hat das Kassationsgericht verneint, weil Gegenstand
des Abänderungsverfahrens im Rahmen von Art. 145 ZGB vor Obergericht
nur die Unterhaltsbeiträge an die Ehefrau und die Tochter sowie die
Benutzung der bisherigen ehelichen Liegenschaft und deren Sicherung
durch eine Kanzleisperre gewesen seien. In diesem Zusammenhang sei
über eine Veräusserung oder eine andere Beschränkung von Rechten an
der Familienwohnung nicht entschieden worden. Darum - das heisst um die
Familienwohnung betreffende Rechtsgeschäfte - aber gehe es immer, wenn
Art. 169 ZGB zum Zuge komme. Zwar sei eine Veräusserung der bisherigen
ehelichen Liegenschaft schon in Aussicht genommen worden und habe der
Beschwerdegegner beim Bezirksgericht um die Zustimmung gemäss Art. 169
Abs. 2 ZGB ersucht. Indessen müsse die Beschwerdeführerin ihre Einwände
gegen den Verkauf des Einfamilienhauses in jenem Verfahren vorbringen;
im vorliegenden Verfahren nach Art. 145 ZGB sei sie diesbezüglich nicht
beschwert. Da Art. 169 ZGB im Rahmen der vorsorglichen Massnahmen nicht
zur Diskussion stand, konnte nach der Auffassung des Kassationsgerichts
auch keine Rede von der Verletzung klaren (neuen) Rechts sein.

Erwägung 3

    3.- Nach der Meinung der Beschwerdeführerin führt die Betrachtungsweise
des Kassationsgerichts zu einem völlig sachfremden und damit
willkürlichen Ergebnis. Wenn sich das Kassationsgericht weigere, im
Rahmen der vorsorglichen Massnahmen gemäss Art. 145 ZGB auch Art. 169
ZGB anzuwenden, so unterlaufe es damit die letztere, zum Schutz der
Familienwohnung aufgestellte Bestimmung. Auch liege ein Zirkelschluss in
den Überlegungen des Kassationsgerichts: Mit den vorsorglichen Massnahmen,
die nach der Auffassung des Kassationsgerichts ohne Rücksicht auf Art. 169
ZGB anzuordnen seien, werde die Ehefrau zum Verlassen der ehelichen
Liegenschaft gezwungen, und im folgenden Verfahren nach Art. 169 Abs. 2
ZGB werde die richterliche Zustimmung zur Veräusserung der Familienwohnung
damit begründet, dass nach der Ausweisung der Ehefrau nicht mehr von
einer Familienwohnung gesprochen werden könne.

Erwägung 4

    4.- Obschon im vorliegenden Fall die Abänderung der vorsorglichen
Massnahmen gemäss Art. 145 ZGB noch vor dem 1. Januar 1988 beantragt
worden ist - also vor dem Inkrafttreten des neuen Art. 169 ZGB -,
ist dem revidierten, in die Zukunft wirkenden Recht auch noch im
Rechtsmittelverfahren Rechnung zu tragen (Art. 8 Abs. 1 SchlT zum ZGB;
BGE 114 II 14 f. E. 2). Eine im Zusammenhang mit Art. 169 ZGB stehende Rüge
kann daher nach dem 1. Januar 1988 noch vorgebracht werden, auch wenn die
vor diesem Datum urteilenden kantonalen Gerichte die Bestimmung noch nicht
angewendet haben. Vorbehalten bleiben kantonale Verfahrensvorschriften
hinsichtlich ausreichender Tatsachenbehauptungen, die indessen hier nicht
in Frage stehen.

    Es ist daher zu prüfen, ob das Kassationsgericht des Kantons Zürich
aus materiellrechtlichen Gründen über Art. 169 ZGB hinwegsehen durfte,
ohne dadurch in Willkür zu verfallen.

Erwägung 5

    5.- a) Nach Art. 169 ZGB kann ein Ehegatte nur mit der ausdrücklichen
Zustimmung des andern einen Mietvertrag kündigen, das Haus oder die
Wohnung der Familie veräussern oder durch andere Rechtsgeschäfte die
Rechte an den Wohnräumen der Familie beschränken.

    Damit soll verhindert werden, dass - insbesondere auch bei Spannungen
in der Ehe - der Ehegatte, der die dinglichen oder obligatorischen
Rechte an der Familienwohnung innehat, den anderen Ehegatten gegen dessen
Willen der für ihn lebenswichtigen Wohnung beraubt (vgl. Botschaft über
die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Wirkungen der Ehe im
allgemeinen, Ehegüterrecht und Erbrecht) vom 11. Juli 1979, Ziff. 217.221,
BBl 1979 II S. 1191 ff.). Zu Recht geht daher das Kassationsgericht
des Kantons Zürich davon aus, dass ein Ehegatte auch während des
Scheidungsprozesses, also grundsätzlich bis zur Auflösung der Ehe
bzw. bis zu deren Trennung durch den Richter, sich auf Art. 169 ZGB soll
berufen können. Diese Bestimmung ist im übrigen zwingendes Recht; sie kann
vertraglich zum voraus weder wegbedungen noch abgeändert werden (Kommentar
HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N. 10 zu Art. 169 ZGB und Art. 271a OR).

    b) Nach Sinn und Zweck von Art. 169 ZGB ist indessen vorauszusetzen,
dass tatsächlich ein Ehegatte auf die Familienwohnung angewiesen ist. Von
einer Familienwohnung kann daher nicht mehr gesprochen werden, wenn die
vordem gemeinsame Wohnung von beiden Ehegatten endgültig aufgegeben
wird. Das ist der Fall, wenn der Ehegatte, der an sich Art. 169 ZGB
anrufen könnte, die eheliche Wohnung aus freiem Entschluss für unbestimmte
Zeit verlässt (HEGNAUER, Grundriss des Eherechts, Bern 1987, Rz. 17.21)
oder wenn sich beide Ehegatten darauf einigen, dass die Familienwohnung
aufgegeben werden soll (WESSNER, Mietrecht und neues Eherecht, in:
Mietrechtspraxis 1987, S. 88 ff., 94; NÄF-HOFMANN, Das neue Ehe- und
Erbrecht im Zivilgesetzbuch, Zürich 1986, N. 117 f., 122). Gleiches
gilt, wenn die Ehegatten - allerdings nicht schon zum voraus - eine
Vereinbarung treffen, wonach der nicht dinglich oder obligatorisch an
der Familienwohnung berechtigte Ehegatte diese nicht nur vorübergehend
verlässt, sondern sie endgültig dem anderen Ehegatten überlässt (GEISER,
Neues Eherecht und Grundbuchführung, in: Schweiz. Zeitschrift für
Beurkundungs- und Grundbuchrecht 68/1987, S. 15 ff., 17).

    Einer solchen rechtsgeschäftlichen Einigung unter den Ehegatten ist
nun aber auch eine Regelung vergleichbar, die zwar nicht vom freien Willen
der Ehegatten getragen, aber angesichts von objektiven Umständen für
diese dennoch verbindlich wird (RUOSS, Der Einfluss des neuen Eherechts
auf Mietverhältnisse an Wohnräumen, in ZSR 107/1988 I, S. 75 ff.,
83). Der dem Ehegatten von Art. 169 ZGB gewährte Schutz verliert somit
überall dort seine Berechtigung, wo der Ehegatte die Familienwohnung
endgültig verlassen hat oder verlassen muss und wo keine Aussicht mehr
darauf besteht, dass die Ehegatten in der vormaligen Familienwohnung das
Zusammenleben wiederaufnehmen werden (Kommentar HAUSHEER/REUSSER/GEISER,
N. 22 zu Art. 169 ZGB und Art. 271a OR).

    c) Können somit schon die besonderen Umstände der Auflösung des
gemeinsamen Haushalts dazu führen, dass von einer Familienwohnung nicht
mehr gesprochen werden kann, so kann der Anordnung des Getrenntlebens im
Rahmen von Art. 145 ZGB (wie unter Umständen auch im Rahmen von Art. 176
ZGB) im Hinblick auf Art. 169 ZGB massgebliche Bedeutung zukommen. Das
trifft, wie der vorliegende Fall zeigt, selbst dann zu, wenn man mit einem
anderen Teil der Lehre davon ausginge, dass die voraussichtlich endgültige
Trennung des nicht dinglich oder obligatorisch berechtigten Ehegatten
von der gemeinsamen Wohnung dieser die Eigenschaft als Familienwohnung im
Sinne von Art. 169 ZGB nicht zu nehmen vermag (GROSSEN, La protection du
logement de la famille, in: Mélanges en l'honneur de Henri Deschenaux,
Fribourg 1977, S. 99 ff., 103; HASENBÖHLER, Verfügungsbeschränkungen
zum Schutze eines Ehegatten, BJM 1986, S. 57 ff., 70; NÄF-HOFMANN,
aaO, Rz. 120). Auch bei dieser Betrachtungsweise kann nämlich unter
dem Gesichtswinkel von Art. 169 ZGB nicht darüber hinweggesehen werden,
dass der aufgrund dieser Bestimmung geschützte Ehepartner die bisherige
Familienwohnung auf Dauer verlässt.

Erwägung 6

    6.- a) Nun ist zwar - jedenfalls dem Grundsatz nach - die Feststellung
des Kassationsgerichts des Kantons Zürich nicht zu beanstanden, das
Verfahren nach Art. 169 Abs. 2 ZGB setze eine konkrete rechtsgeschäftliche
Verfügung über die Familienwohnung voraus und eine solche Verfügung sei im
Zeitpunkt der Anordnung vorsorglicher Massnahmen nach Art. 145 ZGB nicht
unbedingt schon getroffen. Indessen kommt, wie dargelegt, der auf Art. 145
ZGB gestützten Anordnung des Getrenntlebens im Hinblick auf Art. 169
ZGB eine erhebliche präjudizierende Wirkung zu, und dies nicht nur, wenn
damit für den an der Familienwohnung nicht dinglich oder obligatorisch
berechtigten Ehepartner eine voraussichtlich endgültige Trennung von
der Familienwohnung herbeigeführt wird. Sodann ist zwar auch unter neuem
Recht daran zu denken, dass Eheschutzmassnahmen - um eine solche handelt
es sich auch bei Art. 169 Abs. 2 ZGB (DESCHENAUX/STEINAUER, Le nouveau
droit matrimonial, Bern 1987, S. 143; Kommentar HAUSHEER/REUSSER/GEISER,
N. 13 zu den Vorbemerkungen zu Art. 171 ff. ZGB, N. 8 und 65 zu Art. 169
ZGB und 271a OR) - nicht mehr angeordnet werden können, sobald die
Scheidungsklage rechtshängig gemacht worden ist (SCHNYDER, Die Wirkungen
der Ehe im allgemeinen, in: Das neue Ehe- und Erbrecht des ZGB mit
seiner Übergangsordnung, Berner Tage für die juristische Praxis 1987,
Bern 1988, S. 11 f., 30; DESCHENAUX/STEINAUER, aaO, S. 156; Kommentar
HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N. 17 ff. zu den Vorbemerkungen zu Art. 171
ff. ZGB, mit Hinweis auf BGE 101 II 2, 91 II 324, 86 II 307). Jedoch
kann der Richter im Rahmen der vorsorglichen Massnahmen nach Art. 145
ZGB auch solche treffen, die vom Gesetz beim Eheschutz vorgesehen sind
(Kommentar HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N. 19 zu den Vorbemerkungen zu Art. 17
ff. ZGB). Insofern ist, entgegen der Auffassung des Kassationsgerichts
des Kantons Zürich, bei Anwendung des Art. 145 ZGB auch den Anliegen
der in Art. 169 ZGB verankerten Eheschutzmassnahme Rechnung zu tragen.

    b) Im vorliegenden Fall ist die Anordnung, wonach die Ehefrau die
Familienwohnung zu verlassen habe, aus sachlichen Gründen getroffen
worden, lässt es sich doch nicht rechtfertigen, dass eine Familienwohnung
beibehalten wird, die den finanziellen Verhältnissen der Ehegatten in
keiner Weise mehr angemessen ist. Es ist daher nicht zu beanstanden,
wenn im Ergebnis durch die vorsorgliche Massnahme nach Art. 145 ZGB der
richterliche Entscheid über den triftigen Grund im Sinne von Art. 169
Abs. 2 ZGB schon vorweggenommen worden ist. Der angefochtene Entscheid
müsste aber im Ergebnis unhaltbar sein, um wegen Verstosses gegen das
Willkürverbot aufgehoben zu werden (BGE 112 Ib 247 E. 3b).

    Allerdings müsste die vom Obergericht des Kantons Zürich angeordnete
und durch den Beschluss des Kassationsgerichts unausgesprochen bestätigte
Anordnung, dass die Ehefrau das eheliche Einfamilienhaus bis 31. Juli 1988
zu verlassen habe, richtigerweise auf ein späteres Datum angesetzt werden.
Indessen hat es die Beschwerdeführerin unterlassen, dieses (mit ihrem
Begehren um aufschiebende Wirkung nicht zu vereinbarende) Ergebnis als
willkürlich zu rügen. Daher und wegen der grundsätzlich kassatorischen
Natur der staatsrechtlichen Beschwerde ist das Bundesgericht daran
gehindert, in diesem Punkt eine andere Anordnung zu treffen.