Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 II 295



114 II 295

53. Urteil der II. Zivilabteilung vom 7. Juli 1988 i.S. J. gegen B.
(Berufung) Regeste

    Art. 153 Abs. 1 ZGB; Verlust des Rentenanspruchs des im Konkubinat
lebenden geschiedenen Ehegatten.

    Lebt der rentenberechtigte geschiedene Ehegatte im Konkubinat,
so ist im Hinblick auf eine analoge Anwendung von Art. 153 Abs. 1
ZGB möglichst umfassend zu prüfen, ob das Konkubinatsverhältnis eine
der Ehe vergleichbare Gemeinschaft bildet. Der geschiedene Ehegatte
verliert seine Scheidungsrente indessen nur dann, wenn sein Verhalten
als rechtsmissbräuchlich erscheint. Dies ist bei einem durch lange
Dauer stabilisierten Konkubinat in der Regel anzunehmen, wobei bei einem
Konkubinat, das bei Einleitung der Abänderungsklage bereits fünf Jahre
gedauert hat, die Beweislast umgekehrt wird. Dem geschiedenen Ehegatten
bleibt anderseits der Nachweis offen, dass besondere und ernsthafte Gründe
vorliegen, die der begründeten Erwartung einer eheähnlichen Versorgung
entgegenstehen.

Sachverhalt

    A.- J. und B. heirateten im Jahre 1954. Am 17. März 1977 wurde ihre
Ehe durch das Amtsgericht Thun geschieden.

    In Ziff. 4 der gerichtlich genehmigten Ehescheidungskonvention
verpflichtete sich J., seiner geschiedenen Ehefrau eine monatliche
und indexierte Rente von Fr. 600.-- bis zum Eintritt ins AHV-Alter und
anschliessend von Fr. 400.-- auszurichten.

    B.- Am 2. Juli 1986 reichte J. beim Amtsgericht Thun Klage
auf Abänderung des Scheidungsurteils ein. Er beantragte, seine
Unterhaltsverpflichtung gemäss Ziff. 4 der Scheidungskonvention sei mit
Wirkung ab 31. Januar 1986 aufzuheben. Seine geschiedene Ehefrau sei
zu verpflichten, die seit der Einleitung des gerichtlichen Verfahrens
am 31. Januar 1986 ausgerichteten Unterhaltsbeiträge nebst Zins zu 5%
seit deren jeweiligen Fälligkeit zurückzubezahlen. Zur Begründung machte
er geltend, seine geschiedene Ehefrau lebe seit dem 1. Juli 1979 in einem
eheähnlichen Verhältnis mit einem anderen Mann.

    Das Amtsgericht wies die Abänderungsklage am 17. Juni 1987 ab.

    J. erhob Appellation an den Appellationshof des Kantons Bern. Dieser
wies die Klage mit Urteil vom 21. Dezember 1987 ebenfalls ab.

    C.- Gegen dieses Urteil hat J. Berufung an das Bundesgericht
erhoben. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und
wiederholt die im kantonalen Verfahren gestellten Anträge.

    Die geschiedene Ehegattin beantragt die Abweisung der Berufung.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wird als Entschädigung, Genugtuung oder Unterhaltsbeitrag durch
Urteil oder Vereinbarung eine Rente festgesetzt, so hört die Pflicht
zur ihrer Entrichtung auf, wenn der berechtigte Ehegatte sich wieder
verheiratet (Art. 153 Abs. 1 ZGB).

    a) Das Bundesgericht ist in seiner jüngeren Rechtsprechung davon
ausgegangen, es stelle einen offenbaren Rechtsmissbrauch dar, wenn der
rentenberechtigte Ehegatte nach der Scheidung mit einem Angehörigen
des anderen Geschlechts eine eheähnliche Lebensgemeinschaft eingehe,
diesen aber nur deswegen nicht heirate, um den gesetzlichen Folgen des
Rentenverlusts auszuweichen. Während der Nachweis der entsprechenden
Umstände gemäss den Erwägungen von BGE 104 II 155 f. noch mehr oder weniger
uneingeschränkt den Verlust des scheidungsrechtlichen Unterhaltsbeitrages
nach sich ziehen sollte, sind die Voraussetzungen des Rentenverlustes
in BGE 106 II 2 ff. genauer umschrieben worden. Unter Betonung der
wirtschaftlichen Aspekte hat das Bundesgericht erwogen, von einem
rechtsmissbräuchlichen Verhalten, das zum Verlust der Scheidungsrente
führe, könne erst dann gesprochen werden, wenn der Rentenberechtigte aus
der neuen Gemeinschaft ähnliche Vorteile ziehe, wie sie ihm die Ehe bieten
würde, wenn also anzunehmen sei, der neue Partner biete ihm Beistand und
Unterstützung, wie es Art. 159 Abs. 3 ZGB von einem Ehegatten fordere.

    In BGE 109 II 190 ist weiter präzisiert worden, dabei könne
es selbstverständlich nicht darauf ankommen, ob der neue Partner
dem rentenberechtigten geschiedenen Ehegatten einen wegfallenden
scheidungsrechtlichen Unterhaltsbeitrag durch eigene finanzielle Leistungen
vollwertig zu ersetzen vermöge und dazu auch gewillt sei; im Falle der
Wiederverheiratung erlösche die Unterhaltspflicht des früheren Ehegatten
ohne weiteres von Gesetzes wegen, und zwar auch dann, wenn keine Gewähr
dafür bestehe, dass der Unterhalt in der neuen Ehe den Umfang desjenigen
in der geschiedenen Ehe erreiche.

    Diese Präzisierung und der Hinweis auf Art. 159 Abs. 3 ZGB zeigen
deutlich, dass es bei der neuen Gemeinschaft im Hinblick auf den
Verlust eines scheidungsrechtlichen Unterhaltsbeitrages nicht allein
auf grundsätzlich gleichwertige finanzielle Vorteile ankommt. Die
Bereitschaft, einen Konkubinatspartner finanziell zu unterstützen, ist
in aller Regel vielmehr Ausdruck der inneren Verbundenheit bzw. einer
Schicksalsgemeinschaft, wie sie bei der Frage der Weitergeltung bzw. des
Wegfalles der Scheidungsrente ebenfalls nicht zu vernachlässigen ist
(vgl. hierzu KEHL-ZELLER, Die analoge Anwendung von Art. 153/I ZGB auf
Konkubinatsverhältnisse, SJZ 80/1984, S. 42 f.; HAUSHEER in ZBJV 1986,
66 f.).

    b) Art. 153 Abs. 1 ZGB knüpft den Verlust der Scheidungsrente an die
Wiederverheiratung. Im Hinblick auf eine entsprechende Anwendung dieser
Bestimmung ist möglichst umfassend zu prüfen, ob ein Konkubinatsverhältnis
eine der Ehe vergleichbare Gemeinschaft bildet - soweit dies überhaupt
möglich ist. Die Dauer des Konkubinatsverhältnisses bildet hierzu
deswegen ein ganz wesentliches Beurteilungskriterium, weil sie nicht nur
Rückschlüsse auf die Stabilität des Verhältnisses und die Bereitschaft
zu gegenseitiger persönlicher und finanzieller Unterstützung zulässt,
sondern auch solche auf die innere Verbundenheit der Konkubinatspartner.

    Die analoge Anwendung von Art. 153 Abs. 1 ZGB (vgl. hierzu KEHL-ZELLER,
aaO, S. 40 ff.; ferner: SCHNYDER, Die privatrechtliche Rechtsprechung
des Bundesgerichts im Jahre 1983, ZBJV 121/1985, S. 85 f.) erfordert
somit den Bestand einer solcherweise qualifizierten eheähnlichen
Lebensgemeinschaft. In Übereinstimmung damit steht die vom Bundesgericht
aufgestellte Tatsachenvermutung, wonach bei einem Konkubinat, das im
Zeitpunkt der Einleitung der Abänderungsklage bereits fünf Jahre gedauert
hat, grundsätzlich anzunehmen sei, die Beziehung zwischen den beiden
Parteien sei so eng und stabil, dass der beklagte Konkubinatspartner von
seinem neuen Lebensgefährten in einer allfälligen Notlage Unterstützung
und Beistand wie von einem Ehegatten erwarten könne (vgl. BGE 109 II
191). Diese Tatsachenvermutung führt lediglich zu einer Umkehrung der
Beweislast; der Verlust der Scheidungsrente als solcher beruht insoweit
nach wie vor auf einer analogen Anwendung von Art. 153 Abs. 1 ZGB.

    c) Entgegen vereinzelten Stimmen in der Lehre (KEHL-ZELLER,
aaO) besteht nun aber kein Anlass, ganz von der Betrachtungsweise des
Rechtsmissbrauchs abzurücken. Auch wenn ein qualifiziertes Konkubinat im
Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung vorliegt, soll der geschiedene
Ehegatte seine Scheidungsrente nur dann verlieren, wenn sein Festhalten
an der Rente als rechtsmissbräuchlich erscheint. Dies ist bei einem durch
lange Dauer stabilisierten Konkubinat in der Regel zwar anzunehmen. Ein
solches Konkubinat legt die Vermutung nahe, von einer neuen Ehe werde nur
deshalb abgesehen, um den scheidungsrechtlichen Unterhaltsanspruch nicht
untergehen zu lassen (vgl. BGE 109 II 191). Dem geschiedenen Ehegatten
soll indes der Nachweis offenbleiben, dass besondere und ernsthafte Gründe
vorliegen, die der begründeten Erwartung einer eheähnlichen Versorgung
entgegenstehen.

    Bei diesem Nachweis geht es somit weniger um die Gründe, weshalb die
Konkubinatspartner keine neue Ehe eingehen wollen oder können (so noch BGE
106 II 5 oben). Entscheidend ist vielmehr, ob trotz der qualifizierten
eheähnlichen Lebensgemeinschaft aufgrund der gesamten Situation nicht
erwartet werden kann, dass eine mit der Ehe vergleichbare gegenseitige
Unterstützung des bedürftigen Partners sichergestellt ist.

    Den Interessen des unterhaltsverpflichteten geschiedenen
Ehepartners, der sich daran stösst, für seine ehemalige Ehefrau noch
Unterhaltsleistungen zu erbringen, wenn diese eine neue Lebensgemeinschaft
eingegangen ist, wird mit dieser Rechtsprechung ebenfalls Rechnung
getragen. Hat das Konkubinat bei Einleitung der Abänderungsklage bereits
fünf Jahre gedauert, so obliegt dem unterhaltsverpflichteten Kläger nur
der entsprechende Nachweis. Es ist dann Sache der beklagten Partei zu
beweisen, das Konkubinat sei nicht so eng und stabil, dass sie Beistand
und Unterstützung ähnlich wie in einer Ehe erwarten könne, oder dass
sie trotz des qualifizierten Konkubinates aus besonderen und ernsthaften
Gründen weiterhin Anspruch auf die Scheidungsrente erheben dürfe. Dieser
Beweis wird in der Regel nicht einfach zu erbringen sein. Das Vorbringen
beispielsweise, wegen der Enttäuschung in der vorherigen Ehe keine neue
Ehe eingehen zu wollen, vermag nach dem Gesagten kaum je zu genügen.

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz hat für das Bundesgericht verbindlich festgestellt,
die Beklagte unterhalte seit 1982 mit ihrem Freund ein eheähnliches
Verhältnis. Dieses habe im Zeitpunkt der Urteilsfällung somit mehr als
fünf Jahre gedauert. Anderseits könne die Beklagte glaubwürdige und
verständliche Gründe gegen eine neue Eheschliessung anführen. Sie habe
in ihrer ersten Ehe offenbar schwer gelitten. Die Ehe und die Scheidung
hätten bei ihr psychische Spuren hinterlassen. Sie habe immer noch Angst
vor einer zweiten Ehe, vor einer weiteren Enttäuschung und wolle deshalb
nicht wieder heiraten. Ausserdem wolle sie die unnötigen und belastenden
Probleme vermeiden, die im Fall einer Eheschliessung mit den beidseits
vorhandenen Erben entstehen könnten. Auch der Konkubinatspartner wolle
keine neue Ehe eingehen. Schliesslich verweist die Vorinstanz darauf,
dass die Beklagte bereits 54jährig sei.

Erwägung 3

    3.- Im Zeitpunkt der Klageeinreichung hat die Beklagte nach den
Feststellungen der Vorinstanz indessen erst rund vier Jahre im Konkubinat
gelebt. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kommt demnach die
Tatsachenvermutung, wonach bei einem im Zeitpunkt der Klageeinleitung
fünfjährigen Konkubinat angenommen werden könne, der Rentenberechtigte
ziehe aus der neuen Gemeinschaft eheähnliche Vorteile und gehe nur zur
Vermeidung des Rentenverlustes keine neue Ehe ein, nicht zum Tragen. Es
liegt somit am Kläger, das Vorliegen dieser Umstände positiv nachzuweisen.

    Diesen Nachweis hat der Kläger nicht geleistet. Dem erstinstanzlichen
Urteil, auf das die Vorinstanz insoweit verwiesen hat, lässt sich vielmehr
entnehmen, dass die Beklagte in einer eigenen Wohnung mit eigenem Mobiliar
wohnt. Sie führt eine getrennte Kasse, und es bestehen keine finanziellen
Verflechtungen. Den Akten - die vom Bundesgericht im Sinne von Art. 64
Abs. 2 OG zur Ergänzung der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz
herangezogen werden dürfen - lässt sich ferner entnehmen, dass die Beklagte
einer eigenen Erwerbstätigkeit nachgeht.

    Wohl sind anderseits gewisse Anhaltspunkte nicht zu übersehen,
die für das Vorliegen eines qualifizierten Konkubinates im Sinne der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung sprechen. Dass die Wohnung der Beklagten
durch eine Wendeltreppe mit derjenigen ihres Freundes verbunden ist und
dieser in der persönlichen Befragung ausgesagt hat, sich gegenüber der
Beklagten in einer Notsituation "schon zu Beistand verpflichtet zu fühlen",
lassen angesichts der übrigen Umstände jedoch nicht zwingend den Schluss
zu, die neue Gemeinschaft der Beklagten sei bereits so stabil und eng,
dass diese in einer allfälligen Notlage von ihrem Partner eine ähnliche
Unterstützung und Beistand erwarten könne, wie es Art. 159 Abs. 2 und 3
ZGB für Ehegatten vorsieht.

    Die Vorinstanz hat die Abänderungsklage im Ergebnis somit zu Recht
abgewiesen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens spielt es keine Rolle,
dass sie zu Unrecht in erster Linie nach den Gründen gefragt hat,
weshalb die Beklagte trotz eines mehrjährigen Konkubinates keine neue
Ehe eingehen wolle.