Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 II 253



114 II 253

43. Urteil der I. Zivilabteilung vom 18. November 1988 i.S. A. gegen B.
(Berufung) Regeste

    1. Art. 48 Abs. 1 und 51 Abs. 1 lit. a OG. Berufung gegen einen
kantonalen Endentscheid über die Zulässigkeit einer Feststellungsklage.
Fehlende Angaben über den Streitwert (E. 1).

    2. Eine Feststellungsklage nach Bundesrecht setzt insbesondere
voraus, dass der Klüger an der sofortigen Feststellung des streitigen
Rechtsverhältnisses ein schutzwürdiges Interesse hat (E. 2a). Umstände,
unter denen dies zu verneinen ist (E. 2b).

Sachverhalt

    A.- Der Knabe A. wurde am 22. März 1985, als er acht Jahre alt war,
auf einem Spielplatz in Rheinfelden von einem Kunststoffpfeil, der mit
einer Metallspitze versehen war, ins linke Auge getroffen. Er hat die
Sehkraft dieses Auges daraufhin verloren; dessen Entfernung kann sich
zudem als notwendig erweisen, wenn es weiter schrumpfen sollte. Auch ist
eine Entzündung des rechten Auges durch das linke nicht ausgeschlossen.

    A. befand sich zur Zeit des Unfalls hinter einer Bretterwand, die als
Zielscheibe diente, und schaute durch ein Loch dem Spielgeschehen zu. Der
Pfeil wurde vom damals elfjährigen B. abgeschossen, der den Verletzten
vor dem Unfall zusammen mit andern Kameraden gewarnt und weggeschickt
haben will und deshalb ein Mitverschulden bestreitet.

    B.- Am 14. März 1986 klagte A. gegen B. auf Feststellung, dass der
Beklagte für die ihm zugefügte Körperverletzung vollumfänglich hafte. Der
Beklagte widersetzte sich diesem Begehren und beantragte, das Verfahren
vorerst auf die Frage zu beschränken, ob eine blosse Feststellungsklage
überhaupt zulässig sei.

    Mit Urteil vom 26. November 1987 verneinte das Bezirksgericht
Rheinfelden diese Frage und erkannte, dass auf die Klage nicht einzutreten
sei. Der Kläger appellierte an das Obergericht des Kantons Aargau, das
am 14. April 1988 im gleichen Sinne entschied.

    C.- Der Kläger hat Berufung eingelegt mit den Anträgen, das Urteil des
Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen oder sein Feststellungsbegehren gutzuheissen.

    Der Beklagte beantragt, auf die Berufung nicht einzutreten oder sie
jedenfalls abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das angefochtene Urteil enthält entgegen der Vorschrift von Art. 51
Abs. 1 lit. a OG keine Angaben über den Streitwert. Beide Parteien sind
sich indes darüber einig, dass dieser Wert den Betrag von Fr. 15'000.--
jedenfalls übersteigt, nach Auffassung des Beklagten sogar bei weitem,
was übrigens schon nach den schweren Unfallfolgen auf der Hand liegt.

    Dass das Obergericht bloss über die Zulässigkeit einer
Feststellungsklage zu entscheiden hatte, steht der Berufung entgegen
der Auffassung, die in der Berufungsantwort vertreten wird, nicht im
Wege. Der Beklagte übersieht, dass die Berufung sich gegen einen kantonalen
Endentscheid über die Frage richtet, ob vorliegend eine Feststellungsklage
nach Bundesrecht zuzulassen sei, oder ob das Obergericht dies zu Unrecht
verneint habe. Es lässt sich im Ernst auch nicht sagen, es gehe bloss
um die Feststellung einer Tatsache, wie die Berufungsantwort anzunehmen
scheint, will der Kläger doch festgestellt wissen, dass der Beklagte
den Unfall verschuldet habe und daher dafür hafte (vgl. die nicht
veröffentlichte Erwägung 1 des in BGE 99 II 172 ff. wiedergegebenen
Urteils).

Erwägung 2

    2.- Der Kläger machte bereits in der Klageschrift vom 14.  März 1986
geltend, dass er mit seinem Feststellungsbegehren zuzulassen sei, weil
sich weder die medizinischen noch die wirtschaftlichen Folgen seiner
Körperverletzung überblicken liessen, eine Leistungsklage folglich
noch gar nicht möglich sei; um unlösbaren Beweisproblemen vorbeugen
zu können und sich gegen die drohende Verjährung zu schützen, habe
er zudem ein rechtlich erhebliches Interesse an der Feststellung der
Haftung. Der Kläger hält daran auch vor Bundesgericht fest; er wirft dem
Obergericht insbesondere vor, dass es die bundesrechtlichen Voraussetzungen
eines Feststellungsbegehrens, das unabhängig von der Möglichkeit einer
Leistungsklage bestehe, verkenne und von einer "Sachverhaltsfeststellung"
ausgehe, die aktenwidrig sei und auf offensichtlichen Versehen
beruhe. Jedenfalls sei es ihm zur Zeit der Klage noch nicht möglich
gewesen, seine Ansprüche abzuschätzen oder gar zu beziffern und damit
auf abschliessende Leistungen zu klagen. Das angefochtene Urteil laufe
auf eine absolute Subsidiarität der Feststellungsklage gegenüber der
Leistungsklage hinaus.

    a) Das Obergericht hat die Zulässigkeit der Feststellungsklage
ausschliesslich nach Bundesrecht beurteilt und die Frage, ob ein
weitergehender Anspruch auf eine solche Klage nach kantonalem Recht mit
Bundesrecht vereinbar wäre, offengelassen. Eine Klage auf Feststellung
eines dem eidgenössischen Recht unterstehenden Rechtsverhältnisses
ist zuzulassen, wenn der Kläger an der sofortigen Feststellung ein
schutzwürdiges Interesse hat, das rechtlicher oder tatsächlicher
Natur sein kann, aber erheblich sein muss. Ein solches Interesse
fehlt in der Regel, wenn der Kläger in der Lage ist, über eine blosse
Feststellung hinaus eine vollstreckbare Leistung zu verlangen (BGE 97 II
375 E. 2 und 99 II 173 E. 2 mit Hinweisen). Zu bejahen ist es dagegen
insbesondere, wenn die Rechtsbeziehungen der Parteien ungewiss sind und
die Ungewissheit durch die richterliche Feststellung über den Bestand und
den Inhalt des Rechtsverhältnisses beseitigt werden kann (BGE 110 II 357
E. 2). Vorbehalten bleibt ferner der Fall, wo die Verletzung andauert
und der Schaden noch wächst, der Geschädigte aber an der sofortigen
Feststellung der Verletzung interessiert ist und die Leistungsklage
vorläufig auf einen Teil des Schadens beschränken muss (BGE 99 II 174).

    Das heisst nicht, dass jede abstrakte Ungewissheit genüge;
erforderlich ist vielmehr, dass ihre Fortdauer dem Kläger nicht mehr
zugemutet werden kann, weil sie ihn in seinen Entschlüssen behindert (BGE
110 II 357 E. 2). Gewiss hat ein Geschädigter vom Schaden nicht schon
dann im Sinne von Art. 60 Abs. 1 OR Kenntnis, wenn er weiss, dass die
unerlaubte Handlung sein Vermögen vermindert hat oder vermindern wird,
sondern erst, wenn er ihre schädlichen Auswirkungen soweit kennt, dass
er in der Lage ist, für alle Schadensposten auf dem Prozesswege Ersatz
zu verlangen (BGE 93 II 502 E. 2, 92 II 4, 89 II 404 und 417). Dagegen
braucht er nicht zu wissen, wie hoch ziffernmässig der Schaden ist. Es
ist auch nicht nötig, dass sich dieser im Vermögen des Ersatzberechtigten
schon ausgewirkt habe. Der Betroffene kann auf Ersatz künftigen Schadens
klagen, selbst wenn dessen Umfang sich noch nicht sicher ermitteln lässt,
weil künftige Ereignisse ihn noch erhöhen oder vermindern können. Der
Satz, wonach der nicht ziffernmässig nachweisbare Schaden nach Ermessen
des Richters mit Rücksicht auf den gewöhnlichen Lauf der Dinge und auf
die vom Geschädigten getroffenen Massnahmen abgeschätzt werden soll
(Art. 42 Abs. 2 OR), ist nicht nur auf den bereits eingetretenen, aber
schwer nachweisbaren Schaden zugeschnitten, sondern auch auf Nachteile,
die der Betroffene wegen der schädigenden Handlung voraussichtlich noch
erleiden wird (BGE 86 II 45, 84 II 576/77, 60 II 130 f.).

    Das gilt namentlich auch für Schäden aus Körperverletzung. Dafür
ist selbst dann Ersatz zuzusprechen, wenn die körperlichen Folgen der
Verletzung noch unsicher sind; denn Art. 46 Abs. 2 OR ermächtigt den
Richter, bis auf zwei Jahre, vom Tage des Urteils an gerechnet, dessen
Abänderung vorzubehalten, wenn die Folgen der Verletzung im Zeitpunkt
der Urteilsfällung nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt
sind. Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass die Schadenersatzklage
sogar dann geschützt werden muss, wenn der künftige Grad der körperlichen
Behinderung noch nicht einmal "hinreichend" sicher ist und auch noch
ungewiss bleibt, ob er binnen zwei Jahren nach der Ausfällung des Urteils
genügend zuverlässig wird festgestellt werden können. Das Gesetz findet
sich damit ab, dass ein Urteil gefällt werde und in Kraft bleibe, das
der späteren gesundheitlichen Entwicklung des Verletzten nicht in allen
Teilen entspricht (BGE 86 II 47).

    b) Nach dem angefochtenen Urteil waren die medizinischen Folgen des
verhängnisvollen Schusses schon im März 1986, als die Klage eingereicht
wurde, abzusehen und mit grosser Wahrscheinlichkeit zu bestimmen;
im Verlaufe des erstinstanzlichen Verfahrens sei sogar mit Sicherheit
festgestanden, dass der Kläger sein linkes Auge vollständig verlieren
werde. Das Obergericht stützt sich dabei vorweg auf je einen Bericht
der Augen-Poliklinik Basel vom 22. Mai 1985 und der Augenklinik des
Kantonsspitals Luzern vom 17. Mai 1985, in denen bereits davon die Rede
gewesen sei, dass das verletzte Auge schrumpfe und eventuell entfernt
werden müsse. Die vom Bezirksgericht eingeholte Expertise sodann habe
bestätigt, dass der medizinische Zustand des Klägers vom 6. April 1987 den
vorbekannten Umständen entsprochen habe und sein Auge, wie im Mai 1985
befürchtet, weiter schrumpfe, später entfernt und durch eine Prothese
ersetzt werden müsse und damit zu einer dauernden Einäugigkeit führe.

    Diese Feststellungen des Obergerichts betreffen tatsächliche
Verhältnisse und binden das Bundesgericht, da von offensichtlichen
Versehen im Sinne von Art. 63 Abs. 2 OG entgegen den. Einwänden des
Klägers keine Rede sein kann. Die Vorinstanz hat die medizinischen
Berichte nicht übersehen, sie vielmehr gewürdigt, aber nicht in dem vom
Kläger gewünschten Sinne. Was in der Berufung dagegen vorgebracht wird,
ist daher als blosse Kritik an der Beweiswürdigung des Obergerichts nicht
zu hören. Dass der medizinische Zustand zur Zeit der Klage stabil gewesen
sei, wie der Kläger dem Obergericht unterstellt, ist dem angefochtenen
Urteil übrigens nicht zu entnehmen; es heisst darin vielmehr, dass
die medizinische Entwicklung des Zustandes damals, d.h. als der Kläger
beim Bezirksgericht Klage einleitete, klar absehbar und die Folgen davon
bestimmbar gewesen seien. Diesen Zeitpunkt auf das Datum des Sühnebegehrens
vom 9. Dezember 1985 oder des Sühneversuchs vom 7. Januar 1986 beziehen
und als Versehen ausgeben zu wollen, ist zudem kühn und kaum ernst gemeint.

    Ist mit dem angefochtenen Urteil aber davon auszugehen, dass die
Unfallfolgen schon zur Zeit der Klage mit grosser Wahrscheinlichkeit
bestimmbar waren, so ist die Auffassung des Obergerichts, eine
Leistungsklage sei schon damals möglich gewesen, dem Kläger ein
Rechtsschutzbedürfnis an einer Feststellungsklage folglich abzusprechen,
bundesrechtlich nicht zu beanstanden; sie deckt sich vielmehr mit der
hiervor angeführten Rechtsprechung zu den bundesrechtlichen Voraussetzungen
einer Feststellungsklage, zum ziffernmässig nicht nachweisbaren Schaden
(Art. 42 Abs. 2 OR), zum Rektifikationsvorbehalt (Art. 46 Abs. 2 OR)
und zum Beginn der Verjährung (Art. 60 Abs. 1 OR). Der Kläger war damals
übrigens nicht anderer Meinung, erklärte er doch in der Klageschrift
vom 14. März 1986, dass er auf dem linken Auge "für immer erblindet"
sei. Bei diesem Ergebnis kann dahingestellt bleiben, ob das Obergericht mit
seinem Vorhalt, im erstinstanzlichen Verfahren sei sogar mit Sicherheit
festgestanden, dass der Kläger sein linkes Auge vollständig verlieren
werde, sagen wollte, der Kläger hätte noch vor Bezirksgericht von der
Feststellungsklage auf eine Leistungsklage übergehen oder jene mit dieser
ergänzen dürfen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen, soweit auf sie einzutreten ist, und
das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 14. April 1988 wird
bestätigt.