Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 II 200



114 II 200

34. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 28. April 1988 i.S. B.
gegen M. (Berufung) Regeste

    Art. 156 Abs. 1 ZGB; Offizialmaxime.

    Die Offizialmaxime gibt keinen bundesrechtlichen Anspruch auf die
Einholung weiterer Gutachten, wenn sich der Richter aufgrund der bisherigen
- teilweise widersprechenden - Gutachten ein zutreffendes Bild über die
entscheidenden Faktoren für die Kinderzuteilung machen kann (E. 2b).

    Art. 156 Abs. 1 ZGB; Kinderzuteilung im Falle der Scheidung.

    Weisen Vater und Mutter im übrigen gleichwertige Voraussetzungen auf,
so hat bei der Zuteilung von Kindern im schulpflichtigen Alter oder kurz
davor derjenige Elternteil den Vorrang, der die grössere Bereitschaft
aufweist, die Kinder auf Dauer in eigener Obhut zu haben, sie unmittelbar
selber zu betreuen und zu pflegen (Präzisierung der Rechtsprechung) (E. 3).

    Zuteilung der Kinder an den Vater aufgrund des Kriteriums der
Stabilität der Verhältnisse (E. 5).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- b) (...) Insbesondere begründet die Offizialmaxime keinen
bundesrechtlichen Anspruch auf eine unbegrenzte Zahl von Gutachten
und Obergutachten. Es wäre verfehlt, immer neue Gutachten in Auftrag
zu geben in der zweifelhaften Hoffnung, am Schluss den letzten Rest
unterschiedlicher Beurteilung ausräumen zu können. Der Richter kann
sich seiner Aufgabe, die Meinungsäusserung des Sachverständigen
auf ihre Überzeugungskraft hin zu überprüfen, nicht einfach durch
einen Obergutachtensauftrag entledigen, sofern es wie hier nicht
um reine Sachfragen - namentlich um die Regeln der Kunst - geht. Im
vorliegenden Fall sind die massgeblichen Verhältnisse durch die Kinder-
und Erwachsenengutachten jedenfalls soweit abgeklärt worden, dass sich der
Sachrichter ohne Verletzung von Bundesrecht ein zutreffendes Bild über
die entscheidenden Faktoren für die Kinderzuteilung machen konnte. Auf
ein weiteres Gutachten durfte somit verzichtet werden.

Erwägung 3

    3.- Der Richter hat im Falle der Scheidung über die Gestaltung der
Elternrechte und die persönlichen Beziehungen der Eltern zu den Kindern
nach Anhörung der Eltern und nötigenfalls der Vormundschaftsbehörde die
erforderlichen Anordnungen zu treffen (Art. 156 Abs. 1 ZGB). Dabei steht
ihm ein weites Ermessen zu. Das Bundesgericht hat jedoch einige Regeln
aufgestellt, die dem Richter den Entscheid erleichtern sollen. Oberster
Grundsatz bildet danach stets das Wohl des Kindes, während die Interessen
der Eltern in den Hintergrund zu treten haben. Die Kinderzuteilung ist
in Würdigung der gesamten Umstände in jedem Einzelfall so vorzunehmen,
dass den Bedürfnissen des Kindes entsprechend seinem Alter, seinen
Neigungen und seinem Anspruch auf elterliche Fürsorglichkeit, Zuwendung
und Erziehung bestmöglich entsprochen wird. Für den Entscheid stehen daher
die persönlichen Beziehungen der Eltern zum Kind, ihre erzieherischen
Fähigkeiten, aber auch ihre Fähigkeit und Bereitschaft, das Kind in eigener
Obhut zu haben und es weitgehend persönlich zu betreuen und zu pflegen,
im Vordergrund (BGE 112 II 382; 111 II 227; 109 II 193 f.).

    Auch in jüngsten Entscheiden hat das Bundesgericht betont, dass
kleinere Kinder in besonderer Weise der mütterlichen Fürsorge bedürften;
der unmittelbaren Betreuung der Kinder durch die Mutter komme daher
vorrangige Bedeutung zu. Gleichzeitig ist aber auch darauf hingewiesen
worden, dass dem Bedürfnis des Kindes nach stabilen Lebensverhältnissen
Rechnung zu tragen sei (BGE 112 II 382; 108 II 370); es sei diejenige
Lösung zu treffen, welche die für eine harmonische Entfaltung des Kindes
in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht notwendige Stabilität
der Verhältnisse gewährleiste (BGE 111 II 227).

    a) Eine gewisse mütterliche Vorgabe bei der Kinderzuteilung infolge
Scheidung ist indessen nach und nach weniger auf einen natürlichen
Vorrang der Mutter gegenüber dem Vater in der Betreuung und Pflege
der Kinder gestützt worden. Statt dessen ist zunehmend das Kriterium
der unmittelbaren Betreuung und Pflege - der Kinder in den Vordergrund
getreten. Danach sind die Kinder vorab demjenigen Elternteil zuzuteilen,
der bereit ist, seine berufliche Belastung zeitlich ganz oder soweit als
möglich einzuschränken, um die Obhut über die Kinder selber ausüben zu
können. Wenn eine bestimmte mütterliche Vorgabe aufrechterhalten worden
ist, so also vor allem wenn auch nicht ausschliesslich deswegen, weil in
aller Regel die Mutter eher die Möglichkeit und Bereitschaft aufweise,
im Interesse der Kinder auf vollen beruflichen Einsatz und entsprechendes
Fortkommen zu verzichten. Ein eigentliches Umdenken habe nicht zuletzt
angesichts von Art. 161 Abs. 3 aZGB bisher noch nicht stattgefunden,
auch wenn Ansätze dazu durchaus vorhanden seien (vgl. BGE 109 II 194;
111 II 227 f.).

    In der Lehre wird der mütterliche Vorrang zumindest für Kinder im
schulpflichtigen Alter - heute ebenfalls in Frage gestellt (HEGNAUER,
Kinderzuteilung und Besuchsrecht als Aufgaben der Gesetzgebung, in:
Kindeszuteilung, Zürich 1985, S. 155, der die Auffassung von der
besonderen Qualität der Mutter-Kind- Beziehung nach dem Befund der
Sozialwissenschaften als heute überholt bezeichnet; ferner DUSS-VON WERDT,
Die Scheidungsfamilie, aaO, S. 124; SJZ 80/1984, S. 96, mit weiteren
Hinweisen).

    b) Ob bei ganz kleinen Kindern weiterhin von einem gewissen
natürlichen Vorrang der Mutter auszugehen ist, ist hier nicht zu
entscheiden. Für Kinder im schulpflichtigen Alter oder kurz davor ist
hingegen zur Vermeidung jeglichen Anscheins einer ungerechtfertigten
geschlechtsbezogenen Benachteiligung eines Elternteils bei sonst
gleichwertigen übrigen Voraussetzungen statt von einer mütterlichen
Vorgabe besser vom Vorrang desjenigen Elternteils zu sprechen, der aller
Voraussicht nach auf die Dauer die grössere Bereitschaft aufweist, die
Kinder in eigener Obhut zu haben, sie unmittelbar selber zu betreuen und zu
pflegen. Dies steht im Einklang mit dem neuen Eherecht, das grundsätzlich
von der Gleichberechtigung der Ehepartner ausgeht und keine feste
Aufgabenteilung mehr vorsieht. Ob sich in der Rechtswirklichkeit mit dem
neuen Eherecht diesbezüglich schon bald viel ändern wird, bleibt allerdings
abzuwarten. Im heutigen Zeitpunkt ist jedenfalls festzustellen, dass in der
weit überwiegenden Zahl der Fälle die Mutter nach wie vor eher bereit ist,
ihre berufliche Entfaltung zugunsten der Kinder einzuschränken. Solange
dies der Fall bleibt, werden die Kinder bei sonst gleichen Voraussetzungen
weiterhin in der Regel der Mutter zuzuteilen sein.

Erwägung 4

    4.- Die Vorinstanz hat angenommen, die Klägerin werde eher als der
Beklagte in der Lage sein, die beiden Töchter persönlich zu betreuen.

    Diese Zukunftsprognose findet in den tatsächlichen Feststellungen
des Obergerichts keine sichere Stütze. Wohl hat die Klägerin ihre
ausserhäusliche Erwerbstätigkeit aufgegeben, so dass sie ihren Tagesablauf
nach den Bedürfnissen der Kinder ausrichten kann. Ebenso hat aber der
Beklagte seine Erwerbstätigkeit eingeschränkt; er arbeitet heute nur
noch an vier Tagen. Als selbständigerwerbender Architekt erfreut er sich
zudem offensichtlich einer gewissen Flexibilität. Nach den Feststellungen
im Urteil des Kantonsgerichts, auf das die Vorinstanz verwiesen hat,
betreut er die Kinder in erheblichem Umfange selber. Nach dem unerwarteten
Auszug der Klägerin habe er sein Leben tiefgreifend umgestaltet und seine
Tätigkeiten im sozialen Bereich aufgegeben. Entgegen der Auffassung
der Vorinstanz ist somit davon auszugehen, dass beide Elternteile nicht
nur in der Frage der Erziehungsfähigkeit, sondern auch hinsichtlich der
persönlichen Betreuung der Kinder etwa gleichwertige Voraussetzungen
aufweisen.

Erwägung 5

    5.- a) Da bei beiden Parteien in persönlicher, wirtschaftlicher
und erzieherischer Hinsicht etwa die gleichen Voraussetzungen gegeben
sind, ist im vorliegenden Fall auf die Stabilität der Verhältnisse
abzustellen. Nach diesem Kriterium soll es nicht zu unnötigen Wechseln
im örtlichen und sozialen Umfeld der Kinder kommen. Einschneidende und
wiederholte Wechsel der Lebensverhältnisse sind vor allem bei kleineren
Kindern geeignet, deren harmonische Entwicklung zu beeinträchtigen. Die
momentane Situation ist daher nicht allein entscheidend. Es ist auch
danach zu fragen, welcher Elternteil aller Voraussicht nach auf längere
Sicht ein dem Kindeswohl günstiges, stabiles Milieu zu bieten vermag (BGE
112 II 382 f. mit Hinweisen; ZVW 38/1983, S. 126 und 134; SJZ 80/1984, S.
96 unten, 97 oben; ARNTZEN, Elterliche Sorge und persönlicher Umgang mit
Kindern aus gerichtspsychologischer Sicht, München 1980, S. 18 f.).

    b) Dieser Grundsatz lässt die Waagschale hier auf die Seite des Vaters
sinken. Im Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils betreute er die beiden
Mädchen bereits während rund zweieinhalb Jahren. Das Bundesgericht hat
zwar auch in seiner jüngsten Rechtsprechung betont, dass nicht einfach
darauf abzustellen sei, welcher Elternteil während der oft langen Dauer
des Scheidungsverfahrens die Obhut ausgeübt habe (BGE 112 II 383; 111 II
228). Hier ist der Klägerin die Obhut indes nicht durch eine vorsorgliche
Massregel gegen ihren Willen entzogen worden. Sie hat diese Situation
vielmehr selber verursacht, indem sie unerwartet die Familiengemeinschaft
verlassen, den Beklagten zur Umstellung seiner Lebensverhältnisse gezwungen
und sich in einer Vereinbarung mit der väterlichen Obhut einverstanden
erklärt hat. Dieses Verhalten muss sie sich mindestens teilweise anrechnen
lassen.

    Für den Beklagten spricht sodann eine günstigere Zukunftsprognose. Wohl
wird der Klägerin im Erwachsenengutachten, das die Vorinstanz zusätzlich
zu den eher negativen Gutachten und Berichten zuhanden der ersten Instanz
eingeholt hat, eine positive Persönlichkeitsentwicklung bescheinigt. Das
Gutachten stützt sich jedoch nur auf einen recht kurzen Lebensabschnitt,
so dass daraus noch kein sicherer Schluss für die Zukunft gezogen werden
kann. Die unstete Vergangenheit mit kurzfristig wechselnden beruflichen
und familiären Verhältnissen lässt sich bei dieser Sachlage nicht völlig
beiseite schieben. Ebenso lässt die erst kurze Dauer der dritten Ehe noch
keine zuverlässige Zukunftsprognose zu.

    Unter diesen Umständen bietet der Beklagte die bessere Gewähr für
eine Fortsetzung der bisherigen klaglosen und langjährigen Betreuung der
beiden Mädchen. Im Unterschied zu BGE 112 II 382 ff., der eindeutig als
Grenzfall bezeichnet worden ist, steht beim Vater auch keine einschneidende
Änderung der Lebensverhältnisse bevor, so dass es nicht ohnehin zu einem
wesentlichen Einschnitt in die Lebensverhältnisse der Kinder kommen
wird. Eine Zuteilung der Kinder an die Klägerin rechtfertigt sich somit
entgegen der Auffassung der Vorinstanz unter dem Gesichtspunkt der
Stabilität nicht.