Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 II 123



114 II 123

20. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 7. März 1988 i.S.
Gemeinde Leissigen gegen A. (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Auszahlung einer Kinder-Zusatzrente nach Art. 35 Abs. 1 IVG an die
Mutter; Tilgung des Unterhaltsbeitrages des geschiedenen Vaters (Art.
285 Abs. 2 ZGB)?

    Es ist nicht willkürlich, davon auszugehen, dass gerichtlich
festgelegte Beiträge an den Unterhalt des Kindes dadurch getilgt werden,
dass eine erst nach der Scheidung entstandene Kinder-Zusatzrente des
Unterhaltsschuldners an die Inhaberin der elterlichen Gewalt ausbezahlt
wird, und die definitive Rechtsöffnung im entsprechenden Umfang zu
verweigern.

Sachverhalt

    A.- H. und A. wurden am 22. Oktober 1981 durch das Amtsgericht Frutigen
geschieden. Die beiden Kinder stellte das Gericht unter die elterliche
Gewalt der Mutter. Der Vater wurde zu einem indexierten monatlichen
Unterhaltsbeitrag an die beiden Kinder von je Fr. 300.-- verpflichtet.

    Mit Zahlungsbefehl Nr. 2648 des Betreibungsamtes Frutigen betrieb die
Gemeinde Leissigen den Vater für bevorschusste Unterhaltsbeiträge vom 1.
Februar 1984 bis und mit März 1987 im Betrage von Fr. 21'428.--. Der
Betriebene erhob Rechtsvorschlag.

    B.- Am 13. August 1987 erteilte der Gerichtspräsident des Amtsbezirkes
Frutigen die definitive Rechtsöffnung für Fr. 18'628.--. Für den
Restbetrag wurde das Rechtsöffnungsgesuch abgewiesen, da die entsprechende
Unterhaltsforderung durch die Auszahlung einer IV-Kinderrente getilgt
worden sei.

    Gegen diesen Entscheid appellierte die Gemeinde Leissigen an
den Appellationshof des Kantons Bern. Dieser wies die Appellation am
6. Oktober 1987 ab und bestätigte das Urteil des Gerichtspräsidenten des
Amtsbezirkes Frutigen.

    C.- Gegen dieses Urteil wendet sich die Gemeinde Leissigen mit
staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht. Sie beantragt die
Aufhebung von Ziff. 1 des Dispositivs, soweit der Gemeinde Leissigen
im Betrage von Fr. 2'800.-- die definitive Rechtsöffnung verweigert
worden sei, sowie die Aufhebung von Ziff. 3 des Dispositivs betreffend
Kostenauflage.

    Der Appellationshof des Kantons Bern hat unter Hinweis auf die Akten
auf eine Vernehmlassung verzichtet. Der betriebene Vater hat sich nicht
vernehmen lassen.

    Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Beruht die Forderung auf einem vollstreckbaren gerichtlichen
Urteil im Sinne von Art. 80 SchKG, das von einer Behörde des Bundes oder
des Betreibungskantons gefällt worden ist, so gewährt der Richter nach
Art. 81 Abs. 1 SchKG die Rechtsöffnung, wenn der Betriebene nicht durch
Urkunden beweist, dass die Schuld seit Erlass des Urteils getilgt oder
gestundet worden ist, oder die Verjährung anruft.

    a) Die strittige Teilsumme von Fr. 2'800.-- beruht unbestrittenermassen
auf einem rechtskräftigen Urteil im Sinne von Art. 80 SchKG. Zu prüfen
bleibt, ob der Appellationshof die Tragweite von Art. 35 Abs. 1 IVG im
Hinblick auf Art. 285 Abs. 2 ZGB völlig verkannt hat, indem er angenommen
hat, die betreffenden Unterhaltsforderungen seien durch IV-Kinderrenten
getilgt worden.

    b) Der Beschwerdegegner bezieht eine IV-Rente. Gestützt auf Art. 35
Abs. 1 IVG ist ihm zusätzlich eine Kinderrente zugesprochen worden. Nach
dem klaren Wortlaut des Gesetzes handelt es sich dabei um einen Anspruch,
der ihm selber zusteht. Die Feststellung in BGE 113 III 84 f., wonach
die analoge Zusatzrente für die Ehefrau des IV-Empfängers gemäss Art. 34
IVG unabhängig vom Auszahlungsmodus grundsätzlich der Erleichterung der
Unterhaltspflicht des invalid gewordenen Schuldners diene, nicht der
Bereicherung des Unterhaltsempfängers, gilt für die Kinderrente nach
Art. 35 Abs. 1 IVG gleichermassen.

    In BGE 103 V 98 ist zwar zu Recht festgehalten worden, dass zwischen
verheirateten und geschiedenen Eheleuten zu unterscheiden sei. Das
Rentensystem des IVG sei von der zivilrechtlichen Unterhaltspflicht
des Ehemannes geprägt; bei geschiedenen Eheleuten seien die Verhältnisse
grundlegend anders geregelt. Mit der Scheidung falle die Unterhaltspflicht
des Ehemannes dahin oder werde zumindest auf einen genau umschriebenen
Beitrag an den Unterhalt begrenzt. Beim Kinderunterhalt verhält es sich
indes gerade anders. Freilich wandelt sich die Unterhaltspflicht gemäss
Art. 276 Abs. 1 ZGB mit der Auflösung des gemeinsamen Haushaltes der Eltern
für den nicht obhutsberechtigten Elternteil zur Unterhaltsbeitragspflicht
in Gestalt eines Geldbeitrages (Art. 276 Abs. 2 ZGB; HEGNAUER, Berner
Kommentar, N. 19 und 82 f. zu Art. 272 aZGB). Dies ändert aber nichts
daran, dass grundsätzlich die volle Unterhaltspflicht der Eltern für
ihre Kinder weiterbesteht. Diese Unterhaltspflicht ist nicht wie der
nacheheliche Unterhaltsanspruch der Ehefrau nach Art. 151 und 152 ZGB
verschuldensabhängig. Die Scheidung der Eltern ändert somit nichts an
Grundlage und Zweck der Kinderrente, die Erfüllung der Unterhaltspflicht
des Schuldners zu erleichtern.

    c) Die Beschwerdeführerin ist der Auffassung, eine Tilgung der
Unterhaltspflicht durch die Kinder-Zusatzrente stehe mit Art. 285 Abs. 2
ZGB in unvereinbarem Widerspruch.

    Gemäss Art. 285 Abs. 2 ZGB sind Kinderzulagen,
Sozialversicherungsrenten und ähnliche für den Unterhalt des Kindes
bestimmte Leistungen, die dem Unterhaltspflichtigen zustehen, zusätzlich
zum Unterhaltsbeitrag zu bezahlen, soweit der Richter nichts anderes
bestimmt.

    Der Wortlaut dieser Gesetzesbestimmung scheint die Auffassung
der Beschwerdeführerin zu bestätigen. Ein Vorschlag des Ständerates,
in Art. 285 Abs. 2 ZGB eine Zusatzbestimmung aufzunehmen, wonach
Kinderzulagen, Sozialversicherungsrenten und ähnliche für den Unterhalt des
Kindes bestimmte Leistungen nur dann zusätzlich zum Unterhaltsbeitrag zu
bezahlen seien, wenn diese nicht dazu bestimmt seien, eine Verminderung der
Leistungsfähigkeit des Pflichtigen wettzumachen, ist nicht Gesetz geworden
(Amtl.Bull. 1975, StR S. 126, NR S. 1773 f.). Die Entstehungsgeschichte
zeigt indessen, dass sich der Reformgesetzgeber hierbei vor allem von
der Regelung für die Kinderzulagen in den kantonalen Gesetzen hat leiten
lassen und nicht unbedingt eine Kumulierung von Unterhaltsbeiträgen und
Sozialversicherungsleistungen gewollt hat (BGE 113 III 8 f.; KOLLER,
Die eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung im Verhältnis
zum schweizerischen Eherecht, Diss. Bern 1983, S. 141-144a). Gerade wenn
der fragliche Rentenanspruch - wie hier - erst nach der Festsetzung des
Unterhaltsbeitrages entsteht und die infolge Invalidität entstandene
Einkommenseinbusse nicht zu ersetzen vermag, kann eine Kumulierung des
Unterhaltsbeitrages mit der Sozialversicherungsrente stossend sein. Im
vorliegenden Fall hat der Scheidungsrichter denn auch nur bestimmt, dass
die jeweiligen Kinderzulagen zusätzlich zu den Unterhaltsbeiträgen zu
bezahlen seien. Hinsichtlich allfälliger Sozialversicherungsrenten hat
er nichts festgelegt.

    Ob bei einer freien Prüfung gleichwohl von einer Kumulation der
Kinderrente mit dem Unterhaltsbeitrag auszugehen wäre, solange der
Unterhaltspflichtige kein Abänderungsurteil erstritten hat (HEGNAUER, ZVW
1987, S. 53), ist hier nicht zu entscheiden. Massgebend ist im vorliegenden
Rechtsöffnungsverfahren einzig, dass es aufgrund der unsicheren Tragweite
von Art. 285 Abs. 2 ZGB, der klaren Vorschrift von Art. 35 Abs. 1 IVG
und den konkreten Sachverhaltsumständen nicht geradezu als willkürlich
erscheint, wenn der Appellationshof eine Kumulation der Ansprüche verneint
und die Tilgung von Unterhaltsbeiträgen durch die IV-Kinderrenten anerkannt
hat. Dem Rechtsöffnungsrichter kann insoweit auch keine offensichtliche
Kompetenzüberschreitung angelastet werden (vgl. BGE 113 III 86).