Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IA 88



114 Ia 88

14. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 8. Juni 1988 i.S. S. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht
(I. Strafkammer) des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 5 Ziff. 4 EMRK; Dauer des Haftentlassungsverfahrens.

    Ausnahme vom Erfordernis des aktuellen praktischen Interesses gemäss
Art. 88 G (E. 5b).

    Verpflichtung des Gerichts, über ein Haftentlassungsbegehren
"raschmöglichst" zu befinden (E. 5c).

    Die Frage, ob diese Pflicht verletzt worden ist, hängt von der
Würdigung der konkreten Umstände des einzelnen Falles ab (E. 5c).

    Fall, in dem über ein Begehren um Haftentlassung nicht genügend rasch
im Sinne von Art. 5 Ziff. 4 EMRK entschieden worden ist (E. 5c).

    Konsequenzen der Verletzung dieser Vorschrift (E. 5d).

Sachverhalt

    A.- S. befindet sich seit längerer Zeit im Kanton Zürich in Haft. Am
29. Januar 1987 erhob die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen
S. wegen verschiedener Delikte Anklage. Die I. Strafkammer des Obergerichts
des Kantons Zürich führte am 14. Januar 1988 die Hauptverhandlung durch;
wegen Fernbleibens des Angeklagten S. verschob sie die Beratung. Am
12. Februar 1988 ersuchte S. um Entlassung aus der Haft. Das Obergericht
holte von der Staatsanwaltschaft eine Stellungnahme ein. Mit Beschluss
vom 24. März 1988 wies die I. Strafkammer des Obergerichts das
Haftentlassungsgesuch ab. Diesen Entscheid focht S. am 28. März 1988
mit einer staatsrechtlichen Beschwerde beim Bundesgericht an. Gestützt
auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit sowie Art. 5
Ziff. 3 und Ziff. 4 EMRK rügte er zum einen die Aufrechterhaltung der
Haft und die Dauer des Haftentlassungsverfahrens. Im Eventualstandpunkt
machte er zum andern geltend, es verstosse gegen Art. 4 BV und Art. 5
Ziff. 4 EMRK, dass er zur Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft nicht
habe Stellung nehmen können. Mit Urteil vom 20. April 1988 (BGE 114 Ia
84 ff.) hiess das Bundesgericht die Beschwerde wegen Verletzung des dem
Angeschuldigten aufgrund von Art. 5 Ziff. 4 EMRK zustehenden Replikrechts
gut und hob den angefochtenen Beschluss auf, ohne dass es zu den andern
Rügen Stellung nahm. Das Obergericht gab S. daraufhin Gelegenheit,
sich zur Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft zu äussern. Mit Beschluss
vom 11. Mai 1988 entschied es erneut über das Haftentlassungsgesuch vom
12. Februar 1988 und wies es ab.

    Auch gegen diesen Entscheid reichte S. staatsrechtliche Beschwerde
ein. Er macht wiederum geltend, die Fortdauer der Haft verstosse gegen
Verfassung und Konvention, und es liege eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 4
EMRK vor, weil das Haftentlassungsverfahren zu lange gedauert habe. Das
Bundesgericht erachtet die Beschwerde lediglich in diesem letzten Punkt
als begründet.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- Schliesslich wirft der Beschwerdeführer dem Obergericht vor, es
habe erst nach 41 Tagen über das Haftentlassungsgesuch vom 12. Februar
1988 entschieden und damit Art. 5 Ziff. 4 EMRK verletzt, wonach über
ein solches Begehren "innert kürzester Frist (à bref délai)" zu befinden
sei. Er beruft sich dabei auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte vom 21. Oktober 1986 i.S. Sanchez-Reisse gegen die
Schweiz, gemäss welchem der Gerichtshof im damals zu beurteilenden Fall
eine Dauer (vom Einreichen des Gesuchs bis zur gerichtlichen Entscheidung)
von 31 Tagen als übermässig und mit dem Erfordernis des "bref délai"
unvereinbar erachtet habe.

    a) Der Vorwurf bezieht sich auf den ersten Entscheid des Obergerichts
über das Haftentlassungsgesuch vom 12. Februar 1988, d.h. auf den Beschluss
vom 24. März 1988, der vom Bundesgericht mit Urteil vom 20. April
1988 in Gutheissung der staatsrechtlichen Beschwerde vom 28. März 1988
wegen Verweigerung des dem Angeklagten aufgrund von Art. 5 Ziff. 4 EMRK
zustehenden Replikrechts aufgehoben wurde. Da das Bundesgericht damals die
Rüge der übermässigen Dauer des Haftrekursverfahrens nicht behandelt hat,
ist der Beschwerdeführer berechtigt, sie mit der vorliegenden Beschwerde
im Anschluss an den neuen Entscheid des Obergerichts über das erwähnte
Haftentlassungsbegehren nochmals vorzubringen.

    b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 88 OG muss der
Beschwerdeführer grundsätzlich ein aktuelles praktisches Interesse an der
Aufhebung des angefochtenen Entscheids bzw. an der Überprüfung der von ihm
erhobenen Rügen haben, damit auf die Beschwerde eingetreten werden kann
(BGE 110 Ia 141 mit Hinweisen). Bei Rechtsverzögerungsbeschwerden fällt
das aktuelle praktische Interesse weg, wenn die verlangte Amtshandlung
vorgenommen wird. Im vorliegenden Fall hatte das Obergericht über das
Haftentlassungsgesuch von S. bereits entschieden, als sich dieser
beim Bundesgericht wegen Rechtsverzögerung durch das Obergericht im
Haftentlassungsverfahren beschwerte. Ein aktuelles praktisches Interesse
an der Überprüfung der Frage, ob eine Rechtsverzögerung begangen worden
sei, war somit schon bei Einreichung der Beschwerde vom 28. März 1988
nicht mehr gegeben.

    Das Bundesgericht verzichtet jedoch ausnahmsweise auf das
Erfordernis des aktuellen praktischen Interesses, wenn der gerügte
Eingriff sich jederzeit wiederholen könnte und eine rechtzeitige
verfassungsgerichtliche Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich wäre, so
dass die Voraussetzung des aktuellen praktischen Interesses eine Kontrolle
der Verfassungsmässigkeit faktisch verhindern würde. Es prüft demnach
Beschwerden materiell trotz Wegfall des aktuellen praktischen Interesses,
wenn sich die aufgeworfenen Fragen jederzeit unter gleichen oder ähnlichen
Umständen wieder stellen können und an deren Beantwortung wegen der
grundsätzlichen Bedeutung ein hinreichendes öffentliches Interesse besteht
und sofern sie im Einzelfall kaum je rechtzeitig verfassungsgerichtlich
überprüft werden könnten (BGE 110 Ia 143 E. 2b mit Hinweisen). Das trifft
hinsichtlich der hier in Frage stehenden Rüge der Verletzung des "bref
délai" im Sinne von Art. 5 Ziff. 4 EMRK zu. Das Bundesgericht hatte bis
jetzt noch nicht Gelegenheit, diese Konventionsbestimmung im Licht des
erwähnten grundsätzlichen Entscheids des Europäischen Gerichtshofes
in der Sache Sanchez-Reisse auszulegen. Es drängt sich auf, die vom
Beschwerdeführer aufgeworfene Frage, die einen prinzipiellen Aspekt hat,
trotz Wegfall des aktuellen Interesses zu prüfen. Auf die Beschwerde ist
somit auch in diesem Punkt einzutreten.

    c) Gemäss Art. 5 Ziff. 4 EMRK hat jedermann, dem seine Freiheit durch
Festnahme oder Haft entzogen wird, das Recht, ein Verfahren zu beantragen,
in dem von einem Gericht "raschmöglichst" (im französischen Text: "à bref
délai") über die Rechtmässigkeit der Haft entschieden und im Falle der
Widerrechtlichkeit seine Entlassung angeordnet wird. Diese Vorschrift
verpflichtet das Gericht, über ein Haftentlassungsbegehren so rasch als
möglich zu befinden. Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in
dem vom Beschwerdeführer erwähnten Urteil vom 21. Oktober 1986 festgehalten
hat, kann die Frage, innerhalb welcher Frist nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK über
ein Haftentlassungsgesuch entschieden werden muss, nicht abstrakt beurteilt
werden; der Entscheid hängt vielmehr von der Würdigung der konkreten
Umstände des einzelnen Falles ab (Urteil Sanchez-Reisse, Publications de
la Cour européenne des droits de l'homme, Série A, vol. 107, Ziff. 55,
S. 20). Im damals vom Gerichtshof beurteilten Fall hatte der argentinische
Staatsangehörige Sanchez-Reisse mit Eingaben vom 25. Januar und 21. Mai
1982 um Entlassung aus der Auslieferungshaft ersucht, und das Bundesgericht
hatte über das erste Begehren nach 31 Tagen, über das zweite nach 46
Tagen entschieden. Der Europäische Gerichtshof führte im wesentlichen aus,
aufgrund der Erwägungen der bundesgerichtlichen Entscheide ergebe sich,
dass es bei der Frage, ob der Gesuchsteller aus der Auslieferungshaft zu
entlassen sei, nicht um komplexe Probleme gegangen sei, welche vertiefte
Abklärungen und eine eingehende Prüfung erfordert hätten. Mit Rücksicht
darauf erscheine es als übermässig lang und mit dem durch Art. 5 Ziff. 4
EMRK gewährleisteten Anspruch des Inhaftierten auf einen vom Gericht innert
kurzer Frist zu treffenden Entscheid unvereinbar, dass das Bundesgericht
erst nach 31 bzw. 46 Tagen über die Haftentlassungsbegehren entschieden
habe (Urteil Sanchez-Reisse, Ziff. 57-61, S. 21/22).

    Geht man von dieser sehr strengen Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte aus, so lässt es sich unter dem
Gesichtspunkt der erwähnten Konventionsbestimmung nicht vertreten, dass
es im vorliegenden Fall von der Einreichung des Haftentlassungsgesuches
(12. Februar 1988) bis zum Entscheid des Obergerichts (24. März 1988)
41 Tage gedauert hat. Der lediglich drei Seiten umfassenden Begründung
des obergerichtlichen Beschlusses vom 24. März 1988 ist zu entnehmen,
dass die Frage der Haftentlassung keine besonderen Probleme aufwarf,
die ausgedehnte Abklärungen oder ein umfassendes Aktenstudium erfordert
hätten, musste doch das Obergericht schon am 22. Juli und 24. September
1987 über Begehren des Beschwerdeführers um Haftentlassung befinden.
Es verwies denn auch in seinem Entscheid vom 24. März 1988 bei fast
allen sich stellenden Fragen auf die bereits ergangenen Beschlüsse
und fügte seinen damaligen Ausführungen jeweils nur weniges bei. Unter
diesen Umständen hat das Obergericht den dem Beschwerdeführer aufgrund
von Art. 5 Ziff. 4 EMRK zustehenden Anspruch auf einen vom Gericht
"raschmöglichst" zu treffenden Entscheid verletzt, indem es erst nach 41
Tagen über das Haftentlassungsgesuch entschied. Das Bundesgericht hat
sich bei Anwendung des Art. 5 Ziff. 4 der Konvention an die Praxis des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu halten.

    d) Stellt das Bundesgericht fest, ein kantonales Gericht habe über ein
Haftentlassungsbegehren nicht genügend rasch im Sinne von Art. 5 Ziff. 4
EMRK entschieden, so hat das klarerweise nicht zur Folge, dass die Haft -
wie der Beschwerdeführer meint - "nach Ablauf des zulässigen bref délai als
ungesetzlich erachtet" werden müsste, was "zur sofortigen Haftentlassung"
führen würde. Einen Anspruch auf Entlassung aus der Haft hätte der
Beschwerdeführer nur dann, wenn kein Haftgrund mehr bestünde, wenn die
Haftdauer übermässig wäre oder wenn sich eine Haftentlassung aus Gründen
der Rechtsgleichheit aufdrängen würde. Wie dargelegt wurde (E. 2-4), konnte
das Obergericht ohne Verletzung der Verfassung und der EMRK annehmen,
es seien nach wie vor Haftgründe (dringender Tatverdacht; Fluchtgefahr)
gegeben, die Haftdauer sei nicht übermässig und eine Entlassung aus der
Haft komme auch nicht aufgrund des Gebots der rechtsgleichen Behandlung in
Frage. Bei dieser Sachlage fällt eine Haftentlassung des Beschwerdeführers
ausser Betracht, und der Umstand, dass das Obergericht nicht rasch genug
über das Begehren um Entlassung aus der Sicherheitshaft entschied, hat im
bundesgerichtlichen Verfahren zur Folge, dass das Bundesgericht in den
Erwägungen seines Urteils feststellt, die kantonale Instanz habe Art. 5
Ziff. 4 EMRK (Anspruch auf einen Entscheid innert kurzer Frist) verletzt,
und die Beschwerde in diesem Punkt formell gutzuheissen ist.

    Zusammenfassend ergibt sich, dass die vorliegende staatsrechtliche
Beschwerde im Sinne der Erwägungen teilweise gutzuheissen ist.