Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IA 263



114 Ia 263

41. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 4. Mai 1988 i.S.
Appenzeller Bürgerinnen und Landesring der Unabhängigen gegen Kanton
Appenzell A.Rh. (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Stimmrechtsbeschwerde: Legitimation und Letztinstanzlichkeit.

    1. Für die Legitimation zur Stimmrechtsbeschwerde im Sinne von Art. 85
lit. a OG genügt es im vorliegenden Fall, dass die Wahlberechtigung der
Beschwerdeführerinnen umstritten ist (E. 1).

    2. Die Stimmrechtsbeschwerde verlangt nach Art. 86 Abs. 1 OG die
Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzuges. Im vorliegenden Fall sind
keine Umstände gegeben, davon abzuweichen (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Am 17./18. Oktober 1987 fand im Kanton Appenzell A.Rh.
die Ständeratswahl statt; ihr Ergebnis wurde im Amtsblatt vom
21. Oktober 1987 publiziert. Wählbar und wahlberechtigt war jeder
im Kanton wohnhafte, handlungsfähige und stimmberechtigte Schweizer
Bürger männlichen Geschlechts. Der Ausschluss der Frauen vom aktiven
und passiven Wahlrecht ergab sich aus Art. 19 und 20 der Verfassung für
den Kanton Appenzell A.Rh. (KV).

    Mit Stimmrechtsbeschwerden vom 16. und 18. November 1987 verlangen
zahlreiche im Kanton Appenzell A.Rh. wohnhafte volljährige Frauen sowie
die Kantonalpartei Appenzell A.Rh. des Landesrings der Unabhängigen, die
Ständeratswahl sei ungültig zu erklären und der Kanton sei anzuweisen, die
Wahlen in Berücksichtigung des aktiven und passiven Wahlrechts der Frauen
zu wiederholen. Das Bundesgericht tritt auf die Stimmrechtsbeschwerde
nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Die privaten Beschwerdeführerinnen sind unbestrittenermassen
volljährige, im Kanton wohnhafte Kantonsbürger oder niedergelassene
Schweizer Bürger, denen wie allen im Kanton wohnhaften Frauen gemäss
Art. 19 und 20 der Kantonsverfassung das aktive und passive Stimm-
und Wahlrecht in kantonalen Angelegenheiten nicht zusteht. Nur
bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen (Art. 74 BV) sowie in
Gemeindeangelegenheiten (Art. 19 Abs. 3 und 20 Abs. 2 KV) sind die Frauen
in gleicher Weise stimm- und wahlberechtigt wie die Männer.

    Die Beschwerdeführerinnen machen geltend, ihr Ausschluss von der
politischen Stimmberechtigung in kantonalen Angelegenheiten verstosse gegen
das Rechtsgleichheitsgebot von Art. 4 BV, insbesondere gegen die in Art. 4
Abs. 2 BV ausdrücklich angeordnete Gleichberechtigung von Mann und Frau,
sowie gegen das ungeschriebene Verfassungsrecht der persönlichen Freiheit.

    b) Die Legitimation zur Stimmrechtsbeschwerde bestimmt sich nicht
nach Massgabe von Art. 88 OG, sondern ausschliesslich aufgrund von
Art. 85 lit. a OG (BGE 105 Ia 360 E. 4a mit Verweisungen). Gemäss
konstanter Praxis bezeichnet das Bundesgericht die stimmberechtigten
Einwohner zur Erhebung der Stimmrechtsbeschwerde befugt (BGE 113 Ia
149 E. 1b, 395 E. 2b bb, je mit Hinweisen). Das politische Stimmrecht
ist ein vom Bundesrecht gewährleistetes verfassungsmässiges Recht. Es
gibt dem Stimmbürger unter anderem Anspruch darauf, dass kein Wahl-
oder Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der
Stimmberechtigten zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (BGE
113 Ia 294 E. 3a mit Hinweisen). Damit dieses verfassungsmässige Recht
zum Tragen kommen kann, muss es in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem
die Wahlberechtigung der Beschwerdeführerinnen als solche umstritten ist,
für ihre Legitimation genügen, dass sie Adressatinnen des Hoheitsaktes
sind, mit welchem ihnen die kantonale Behörde das Wahlrecht abspricht
(BGE 83 I 173 ff.; WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen
Beschwerde, Bern 1984, S. 262). Die privaten Beschwerdeführerinnen sind
demnach legitimiert, ihren Ausschluss von der Teilnahme an kantonalen
Wahlen mit Stimmrechtsbeschwerde zu rügen.

    c) Die Kantonalpartei des Landesrings der Unabhängigen ist ebenfalls
zur Stimmrechtsbeschwerde befugt. Dass sie als politische Partei im Kanton
Appenzell A.Rh. tätig ist und sich als juristische Person konstituiert
hat, ist unbestritten. Sie erfüllt damit die Voraussetzungen der
Beschwerdelegitimation (BGE 112 Ia 211 E. la mit Verweisung).

Erwägung 2

    2.- Stimmrechtsbeschwerden gemäss Art. 85 lit. a OG sind, wie Art. 86
Abs. 1 OG ausdrücklich festhält, nur gegen letztinstanzliche kantonale
Entscheide zulässig (sog. relative Subsidiarität der staatsrechtlichen
Beschwerde).

    a) Sowohl die privaten Beschwerdeführerinnen als auch die
Kantonalpartei des Landesrings der Unabhängigen haben ausdrücklich darauf
verzichtet, zunächst das im kantonalen Recht vorgesehene Beschwerderecht
auszuüben. Gemäss Art. 47 der Verordnung vom 6. November 1978 über die
politischen Rechte kann wegen Verletzung des Stimmrechts sowie wegen
Unregelmässigkeiten bei der Vorbereitung und Durchführung von Wahlen und
Abstimmungen beim Regierungsrat Beschwerde geführt werden. Die Beschwerde
ist innert drei Tagen seit der Entdeckung des Beschwerdegrundes, spätestens
jedoch am dritten Tag nach der amtlichen Veröffentlichung der Ergebnisse
einzureichen (Art. 46 Abs. 2). Weil keine solche Beschwerde eingereicht
wurde, beantragt der Regierungsrat, wegen Nichterschöpfung des kantonalen
Instanzenzuges auf die Beschwerden nicht einzutreten.

    b) Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann vom Erfordernis
der Ausschöpfung der kantonalen Instanzen abgesehen werden, wenn ernsthafte
Zweifel über die Zulässigkeit eines kantonalen Rechtsmittels bestehen (BGE
110 Ia 213 E. 1, mit Hinweisen). Dies trifft in der vorliegenden Sache
nicht zu und wird auch nicht geltend gemacht. Eine zweite Ausnahme lässt
die Rechtsprechung zu, wenn die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges
eine leere, zwecklose Formalität wäre (BGE 103 Ia 363 E. 1a). Auf diese
Ausnahme berufen sich die Beschwerdeführerinnen, indem sie geltend machen,
in der Wegleitung des Regierungsrates für die Ständeratswahl sei in Ziffer
1 festgehalten worden, dass nur im Kanton wohnhafte Schweizerbürger
männlichen Geschlechts wählbar und wahlberechtigt seien. Nach ihrer
Meinung hat damit der Regierungsrat seine Auffassung in der umstrittenen
Frage bereits eindeutig zum Ausdruck gebracht, so dass eine Ausschöpfung
des kantonalen Instanzenzuges sinnlos gewesen wäre.

    c) Eine Ausnahme vom Erfordernis der Erschöpfung des kantonalen
Instanzenzuges darf nicht leichthin angenommen werden. Der Grundsatz der
relativen Subsidiarität der staatsrechtlichen Beschwerde bezweckt nicht
nur die Entlastung des Bundesgerichts, sondern dient auch der Schonung
der kantonalen Souveränität (KÄLIN, aaO, S. 277).

    Der praktisch wichtigste Anwendungsfall des Verzichtes auf die
Ausschöpfung des Instanzenzuges ist dann gegeben, wenn eine untere
Instanz nach Weisungen der Rechtsmittelinstanz entschieden hat (BGE
105 Ia 56 E. 1a, mit Hinweisen). So verhält es sich bei Anfechtung
von Vorbereitungshandlungen für eine kantonale Abstimmung oder bei
Beschwerden gegen das Abstimmungsergebnis nicht. Bei Anfechtung von
Vorbereitungsmassnahmen - etwa von amtlichen Abstimmungserläuterungen -
hat das Bundesgericht vom Erfordernis einer förmlichen Beschwerde an den
Regierungsrat als Beschwerdeinstanz in einem Falle abgesehen, in welchem
die Beschwerdeführer ihre Rügen in einem Schreiben vorgebracht hatten,
die vom Regierungsrat noch vor dem Abstimmungstermin ebenfalls mit einem
Schreiben zurückgewiesen wurden (Urteil vom 4. Oktober 1978 i.S. POCH
c. Solothurn, in: ZBl 80/1979 S. 529 E. 2b).

    Im vorliegenden Falle gibt die amtliche Wegleitung für die
Ständeratswahl einzig die gemäss der Kantonsverfassung geltende
Rechtslage hinsichtlich des Ausschlusses der Frauen von der politischen
Wahlberechtigung in kantonalen Angelegenheiten wieder. Eine Stellungnahme
des Regierungsrates als Beschwerdeinstanz zu der in beiden Beschwerden
aufgeworfenen Rechtsfrage, ob die in den Artikeln 19 und 20 der
Kantonsverfassung am 30. April 1972 getroffene Regelung gegen den im Jahre
1981 auf eidgenössischer Ebene angenommenen Artikel 4 Abs. 2 BV betreffend
gleiche Rechte für Mann und Frau sowie allenfalls gegen weitere Grundrechte
verstösst, ist darin nicht enthalten.

    d) Selbst wenn anzunehmen ist, der Regierungsrat werde als
Beschwerdeinstanz die Rechtsauffassung der Beschwerdeführerinnen
ablehnen, so ändert dies nichts daran, dass er als kantonale
Rechtsmittelinstanz darauf bestehen darf, in dieser Eigenschaft sich in
dem ihm obliegenden Entscheid mit den Vorbringen der Beschwerdeführerinnen
auseinanderzusetzen. Für den Verzicht auf die Ausschöpfung des kantonalen
Instanzenzuges genügt es nicht, dass vorausgesehen werden kann, wie
der Entscheid der Rechtsmittelinstanz ausfällt (KÄLIN, aaO, S. 279 in
Anm. 108). Nur wenn die oberste Instanz in der gleichen Sache ihre Meinung
bereits klar zum Ausdruck gebracht hat, kann hierauf verzichtet werden
(BGE 96 I 644 E. 1).

    So verhält es sich in der vorliegenden Auseinandersetzung nicht. Es ist
nicht dasselbe, ob sich der Regierungsrat erstmals in einer Stellungnahme
auf eine Stimmrechtsbeschwerde zuhanden des Bundesgerichts zu den erhobenen
Rügen äussert, oder ob er als Staatsorgan, dem die Beurteilung von
Beschwerden wegen Verletzung des Stimmrechts in kantonalen Angelegenheiten
obliegt, als Entscheidungsinstanz urteilt. Zu Recht durfte er sich in
seiner Vernehmlassung damit begnügen, lediglich der Vollständigkeit halber
einige Bemerkungen in materieller Hinsicht anzubringen, primär jedoch
darauf zu bestehen, Nichteintreten zu beantragen, weil der kantonale
Instanzenzug nicht ausgeschöpft wurde. Nach PETER LUDWIG (Endentscheid,
Zwischenentscheid und Letztinstanzlichkeit im staatsrechtlichen
Beschwerdeverfahren, in: ZBJV 110/1974 S. 194) ist es in diesem Falle
ausgeschlossen, auf die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges zu
verzichten, auch wenn die Rechtsmittelinstanz in ihrer Vernehmlassung zu
erkennen gibt, dass sie gegen den Beschwerdeführer entschieden hätte.