Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IA 25



114 Ia 25

5. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung vom
11. Mai 1988 i.S. X. gegen Kanton Schwyz und Verwaltungsgericht des
Kantons Schwyz (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; Auslegung einer unklaren oder zweideutigen Regelung der
Klagevoraussetzungen.

    Nach Lehre und Praxis gebietet der Grundsatz von Treu und Glauben
sowie das Willkürverbot, dass dem Rechtsuchenden aus einer unklaren
oder zweideutigen Regelung der Klagevoraussetzungen kein Nachteil
erwachsen darf. Solche Normen sind deshalb derart auszulegen, wie sie
vernünftigerweise von den Rechtsuchenden verstanden werden dürfen (E. 3).

Sachverhalt

    A.- X. wurde am 5. August 1984 wegen Verdachts der Widerhandlung
gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie verschiedener Vermögensdelikte
verhaftet. Das Kantonale Strafgericht Schwyz erklärte X. am 7./8. März
1985 der fortgesetzten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz,
des Betruges, der Veruntreuung und der Zechprellerei schuldig und
verurteilte ihn zu fünf Jahren und 356 Tagen Zuchthaus, unter Anrechnung
der Untersuchungshaft. Am 17. Dezember 1985 hiess das Kantonsgericht des
Kantons Schwyz eine Berufung von X. teilweise gut, sprach ihn nur noch
des Betruges und der Zechprellerei schuldig und verminderte die Strafe
auf einen Monat Gefängnis. Gleichentags wurde X. aus der Haft entlassen.

    Mit Eingabe vom 17. März 1986 reichte X. beim Regierungsrat des
Kantons Schwyz ein Entschädigungsbegehren ein, mit dem Antrag, es seien
ihm zufolge ungerechtfertigter Haft ein Verdienstausfall von Fr. 42'500.--
und eine Genugtuung von Fr. 100'000.-- auszurichten. Der Regierungsrat
wies das Entschädigungsbegehren am 2. Dezember 1986 ab. Hierauf erhob
X. beim kantonalen Verwaltungsgericht Klage gegen den Kanton Schwyz
mit dem Begehren, dieser sei zu verpflichten, ihm gestützt auf § 52 der
Verordnung über den Strafprozess im Kanton Schwyz (Strafprozessordnung)
vom 28. August 1974 (StPO) Schadenersatz und Genugtuung zu bezahlen. Das
Verwaltungsgericht wies die Frage mit Urteil vom 29. Dezember 1987 im
Sinne der Erwägungen ab.

    Am 15. Februar 1988 gelangte X. mit staatsrechtlicher Beschwerde an
das Bundesgericht. Er beantragt, das Urteil vom 29. Dezember 1987 sei
aufzuheben. Er rügt eine Verletzung von Art. 4 BV. Das Bundesgericht
heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Das Verwaltungsgericht wies die Klage im wesentlichen
gestützt auf § 52 der Verordnung über den Strafprozess im Kanton Schwyz
(Strafprozessordnung) vom 28. August 1974 (StPO) und § 68 der Verordnung
über die Verwaltungsrechtspflege vom 6. Juni 1974 (VRP) ab. Der Wortlaut
der massgeblichen Bestimmungen lautet wie folgt:

    "§ 52 StPO. Entschädigung bei Freispruch

    Dem freigesprochenen Angeklagten ist auf Begehren eine Entschädigung
für
   ungerechtfertigte Nachteile auszurichten.

    Das Begehren ist, unter Nachweis des erlittenen Schadens, spätestens
   innert drei Monaten nach Eröffnung des Freispruches geltend zu machen.

    Die Entschädigung kann verweigert werden, wenn der Freigesprochene
durch
   verwerfliches oder leichtfertiges Benehmen die Untersuchung verschuldet
   oder das Verfahren erschwert hat.

    § 68 VRP 2. Vorverfahren

    Vor Einreichung der Klage teilt der Kläger dem Beklagten sein Begehren
   schriftlich mit. Der Beklagte nimmt dazu innert angemessener Frist

    Stellung.

    Kommt eine Partei dieser Pflicht nicht nach, so kann das

    Verwaltungsgericht darauf bei der Kostenauflage Rücksicht nehmen.

    § 69 VRP 3. Anhängigmachung

    Die Klage wird durch eine schriftliche Eingabe beim Verwaltungsgericht
   anhängig gemacht."

    Unbestritten ist, dass gemäss § 67 Abs. 1 VRP das kantonale
Verwaltungsgericht zur Behandlung von Schadenersatzklagen der vorliegenden
Art gegen den Kanton zuständig ist. Das Verwaltungsgericht kam aber
zum Schluss, die Dreimonatsfrist gemäss § 52 Abs. 2 StPO sei eine
Verwirkungsfrist und diese sei nur eingehalten, wenn innert dieser Zeit
die Klage bei ihm eingereicht werde, was vorliegend aber nicht erfolgt
sei. Im einzelnen führte es aus, "Geltendmachen" im Zusammenhang mit einer
Verwirkungsfrist könne nicht schon ein Verhalten sein, das allenfalls im
Verwaltungsrecht genüge, eine Verjährungsfrist zu unterbrechen. Auch wenn
in § 52 StPO nicht ausdrücklich von einer Klageeinreichung die Rede sei,
werde wie im Zivilprozess ein Verfahrensschritt verlangt, der für den
Fall der nicht gütlichen Erledigung eine speditive prozessuale Erledigung
in die Wege leite. Die Unverbindlichkeit des Vorverfahrens gemäss § 68
Abs. 1 VRP erlaube es deshalb nicht, die Einleitung dieses Verfahrens
als Geltendmachung der Entschädigungsansprüche im Sinne von § 52 Abs. 2
StPO zu qualifizieren. Das Entschädigungsbegehren im Vorverfahren stelle
somit nur eine Handlung dar, welche die Verjährungsfrist zu unterbrechen
vermöge. Die innert drei Monaten nach Eröffnung des Freispruchs beim
Regierungsrat eingereichte Eingabe vom 17. März 1986 stelle deshalb nicht
eine Geltendmachung bzw. Klageanhebung im Sinne von § 52 Abs. 2 StPO dar.

    b) Der Beschwerdeführer rügt, diese Auslegung des kantonalen Rechts
halte vor dem Willkürverbot nicht stand, insbesondere sei es unhaltbar,
die Frist von § 52 Abs. 2 StPO als Verwirkungsfrist zu interpretieren
und anzunehmen, diese könne nur durch Klageanhebung gewahrt werden;
die unklare Bestimmung von § 52 Abs. 2 StPO dürfe nicht zum Nachteil des
Rechtsuchenden ausgelegt werden.

    Nach der Rechtsprechung liegt Willkür nicht schon dann vor, wenn
eine andere Lösung in Betracht zu ziehen oder sogar vorzuziehen
wäre; das Bundesgericht hebt einen Entscheid der kantonalen
Behörde nur auf, wenn dieser offensichtlich unhaltbar ist, mit der
tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen
unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 113 Ia 19 E. 3a; 112 Ia 122 E. 4;
je mit Hinweisen).

    c) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen
(BGE 113 V 109 E. 4a; 112 V 171 E. 3a; 105 Ib 53 E. 3a; je mit
Hinweisen). In § 52 Abs. 2 StPO wird von "Geltendmachen" gesprochen,
was nicht auf eine förmliche Anhängigmachung des Rechtsstreites bei
einer gerichtlichen Behörde hindeutet. Besonders deutlich ergibt sich
dies bei einem Vergleich dieser Bestimmung mit § 69 VRP, wo es heisst,
eine verwaltungsgerichtliche Klage werde durch schriftliche Eingabe
beim Verwaltungsgericht "anhängig gemacht". Das schwyzerische Recht
unterscheidet demnach klar zwischen blosser Geltendmachung und formellem
Anhängigmachen. § 52 Abs. 2 StPO lässt zudem verschiedene Fragen offen
(Rechtsnatur der Frist; Modalitäten der Geltendmachung). Dass diese Norm
in der heutigen Fassung zumindest unklar ist, ergibt sich insbesondere
auch daraus, dass das Verwaltungsgericht selbst darauf hinweist, diese
Bestimmung werde im Entwurf der Expertenkommission für die Revision der
kantonalen Rechtspflegeerlasse verdeutlicht. Nach Lehre und Praxis gebieten
aber der Grundsatz von Treu und Glauben und das Willkürverbot, dass solche
Bestimmungen derart auszulegen sind, wie sie vernünftigerweise von den
Rechtsuchenden verstanden werden dürfen (BGE 97 I 106 E. 4 mit Hinweis;
CLAUDE ROUILLER, La protection de l'individu contre l'arbitraire de
l'état, ZSR NF Bd. 106, 1987, II, S. 225 ff., 315 mit Hinweis). Aufgrund
des Wortlautes von § 52 Abs. 2 StPO durfte diese Bestimmung vom
Beschwerdeführer somit derart verstanden werden, dass das Begehren innert
drei Monaten nach Eröffnung des Freispruches beim angesprochenen Schuldner
(Beklagten) bzw. dessen obersten Verwaltungsorgan, dem Regierungsrat,
geltend zu machen sei. Dies auch deshalb, weil diese Regelung im Gegensatz
zu § 68 Abs. 1 VRP kein Vorverfahren normiert. Hat der Gesetzgeber aber
darauf verzichtet, ausdrücklich ein solches einzuführen, so geht es nicht
an, per analogiam ein noch strengeres vorzuschreiben, als dies selbst
in § 68 VRP für das allgemeine verwaltungsgerichtliche Klageverfahren
vorgesehen ist. Entgegen der Meinung des Verwaltungsgerichts spielt
es vorliegend keine Rolle, ob die in § 52 Abs. 2 StPO vorgesehene Frist
eine Verwirkungs- oder Verjährungsfrist darstellt, oder ob es sich dabei,
wie dies wohl der in der Schweiz vorherrschenden Auffassung entsprechen
dürfte (vgl. VON TUHR/ESCHER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen
Obligationenrechts, 2. Band, 3. Auflage, Zürich 1974, S. 161 f. und 211),
um eine dem Prozessrecht angehörende Ausschlussfrist (Präklusivfrist)
handelt. Entscheidend ist allein, dass die durch einen Rückgriff auf
die Regelung im zivilprozessualen Verfahren gewählte Lösung zu einer
krassen Verletzung eines unumstrittenen Rechtsgrundsatzes führt. Selbst
wenn man eine Verwirkungsfrist annehmen wollte, so würden nicht derart
gewichtige Gründe für eine Interpretation von "Geltendmachen" im Sinne von
"Klageeinreichen" beim Verwaltungsgericht sprechen, dass eine Verletzung
eines verfassungsmässigen Grundsatzes in Kauf zu nehmen wäre. Wenn
das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz in einem anderen Entscheid
vom 27. November 1984 ausgeführt hat, § 52 Abs. 2 StPO stipuliere
"ein zusätzliches, besonderes Verfahren" (Entscheide der Gerichts- und
Verwaltungsbehörden des Kantons Schwyz, EGV-SZ 1984, S. 12 f.), so kann
das nur so verstanden werden, dass dieses - nicht zuletzt zu Verhinderung
der Einleitung unnötiger Klagen - zuerst abgeschlossen sein muss, bevor
die Klageeinleitung beim Verwaltungsgericht zu erfolgen hat. Somit kann §
52 Abs. 2 StPO nicht den Sinn haben, die Klage beim Verwaltungsgericht
sei innert drei Monaten seit Eröffnung des Freispruches anhängig zu
machen, sondern nur, das Forderungsbegehren sei innert der erwähnten
Frist beim Beklagten, hier dem Regierungsrat, geltend zu machen. Eine
andere Auslegung wäre nicht nur offensichtlich unhaltbar, sondern würde
auch, wie gerade der vorliegende Fall zeigt, in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen.