Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IA 200



114 Ia 200

31. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 22. September 1988
i.S. Rajaratnam gegen Rajaratnam und Obergericht des Kantons Zürich
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 84 Abs. 1 lit. c OG (Haager Übereinkommen über die
zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober
1980).

    Der Entscheid, mit dem gestützt auf das Haager Übereinkommen über die
zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober
1980 die Rückführung eines Kindes an seinen vormaligen Aufenthaltsort
angeordnet wird, kann beim Bundesgericht nicht mit staatsrechtlicher
Beschwerde im Sinne von Art. 84 Abs. 1 lit. c OG angefochten werden,
da es dabei um die Verletzung zivilrechtlicher Bestimmungen dieses
Übereinkommens geht.

Sachverhalt

    A.- Am 21. Januar 1988 verbrachte Margrith Rajaratnam ihre beiden
Kinder Alexander Misha und Natasha Ursula aus England in die Schweiz.
Durch Vermittlung der Zentralbehörde zur Behandlung internationaler
Kindesentführungen beim Bundesamt für Justiz ersuchte Henry Vijaya
Rajaratnam, der Vater der beiden Kinder, beim Einzelrichter im summarischen
Verfahren am Bezirksgericht Horgen gestützt auf das Haager Übereinkommen
über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung
vom 25. Oktober 1980 um Rückführung der Kinder nach England. Der
Einzelrichter wies das Gesuch mit Verfügung vom 11. Mai 1988 ab. Dagegen
rekurrierte der Gesuchsteller an das Obergericht des Kantons Zürich. Mit
Beschluss vom 18. Juli 1988 hob dieses die angefochtene Verfügung auf und
verpflichtete die Gesuchsgegnerin unter Androhung von Zwangsvollstreckung
und Ordnungsbusse, die beiden Kinder unverzüglich wieder an den vormaligen
Ort des gewöhnlichen Aufenthalts in Dorset/GB zurückzuführen bzw. dem
Gesuchsteller zur Rückführung an diesen Ort zu übergeben.

    Gegen diesen Entscheid hat Margrith Rajaratnam staatsrechtliche
Beschwerde an das Bundesgericht erhoben. Das Bundesgericht tritt auf die
Beschwerde nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Mit der Beschwerde wird eine Verletzung von Art. 4 BV
gerügt. Es wird namentlich geltend gemacht, das Obergericht habe das
Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler
Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 (SR 0.211.230.02) willkürlich
angewandt. Staatsrechtliche Beschwerden wegen Verletzung von Art. 4
BV sind jedoch erst zulässig, nachdem von den kantonalen Rechtsmitteln
Gebrauch gemacht worden ist (Art. 86 Abs. 2 OG). An dieser Voraussetzung
fehlt es hier, da der obergerichtliche Entscheid beim Kassationsgericht des
Kantons Zürich mit kantonaler Nichtigkeitsbeschwerde angefochten werden
konnte, und zwar mit den gleichen Rügen, die in der staatsrechtlichen
Beschwerde erhoben worden sind.

Erwägung 2

    2.- Es stellt sich indessen die Frage, ob es sich bei dem
vom Beschwerdeführer eingereichten Rechtsmittel nicht um eine
Staatsvertragsbeschwerde im Sinne von Art. 84 Abs. 1 lit. c OG handle,
für welche die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs nach Art. 86 OG
nicht vorgeschrieben ist.

    a) Nach Art. 84 Abs. 1 lit c OG ist die staatsrechtliche Beschwerde
unter anderem zulässig wegen Verletzung von Staatsverträgen mit dem
Ausland, "ausgenommen bei Verletzung zivilrechtlicher oder strafrechtlicher
Bestimmungen von Staatsverträgen durch kantonale Verfügungen
(Entscheide)". Dieser Vorbehalt will nicht nur gewährleisten, dass die
Verletzung zivil- oder strafrechtlicher Bestimmungen eines Staatsvertrags
durch die einschlägigen zivil- bzw. strafrechtlichen Rechtsmittel zu rügen
ist. Denn der Grundsatz der Subsidiarität der staatsrechtlichen Beschwerde
ergibt sich bereits aus Art. 84 Abs. 2 OG. Vielmehr soll wegen Verletzung
zivil- oder strafrechtlicher Bestimmungen von Staatsverträgen überhaupt
nie staatsrechtliche Beschwerde im Sinne von Art. 84 Abs. 1 lit. c OG
geführt werden können, also auch dann nicht, wenn die Voraussetzungen
für Berufung oder Nichtigkeitsbeschwerde nicht gegeben sind. Das Gesetz
geht davon aus, dass die zivil- oder strafrechtlichen Bestimmungen
von Staatsverträgen im Verhältnis zwischen Privaten dem internen
schweizerischen Recht gleichgestellt sind und dass daher wegen deren
Verletzung das Bundesgericht nur in gleicher Weise und unter denselben
Voraussetzungen angerufen werden kann wie sonst wegen Verletzung zivil-
oder strafrechtlicher Vorschriften (BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, S. 325;
Botschaft zum OG 1943, BBl 1943 S. 137/138). Die Staatsvertragsbeschwerde
gemäss Art. 84 Abs. 1 lit. c OG ist demzufolge ausgeschlossen, wenn zwar
die Verletzung einer zivilrechtlichen Bestimmung eines Vertrags gerügt
werden will, die Berufung aber nicht zulässig ist, weil der erforderliche
Streitwert nicht erreicht ist oder weil es an einem Endentscheid im Sinne
von Art. 48 Abs. 1 OG fehlt. In einem solchen Fall steht - sofern auch
die Nichtigkeitsbeschwerde nicht in Frage kommt nur die staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte im Sinne von Art. 84
Abs. 1 lit. a OG, namentlich die Willkürbeschwerde, zur Verfügung. In
diesem Sinne wurde trotz des missverständlichen Wortlauts von Art. 182
Abs. 2a OG bereits unter der Herrschaft des alten Rechts entschieden
(BGE 27 I 194/195).

    b) Mit der Staatsvertragsbeschwerde kann somit nur die Verletzung
öffentlichrechtlicher Vorschriften eines Vertrags gerügt werden.
Öffentlichrechtlichen Charakter haben nach der Rechtsprechung
namentlich staatsvertragliche Bestimmungen betreffend die Rechtshilfe
(BGE 105 Ib 213, 99 I 82). Welcher Art das Haager Übereinkommen über die
zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ist, liegt nicht
ohne weiteres auf der Hand. Einerseits wird im Titel des Übereinkommens
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es um die zivilrechtlichen Aspekte
der internationalen Kindesentführung geht. Das lässt darauf schliessen,
dass das Übereinkommen privatrechtliche Bestimmungen enthält. Anderseits
wird in der bundesrätlichen Botschaft erklärt, das Übereinkommen habe
"eher den Charakter eines internationalen Rechtshilfeabkommens" (BBl 1983
I 116) bzw. es umfasse "lediglich Verfahrens- und Vollstreckungsrecht für
einen sehr kleinen Bereich des Familienrechts, der selbst materiell nicht
vereinheitlicht wird" (aaO S. 125). Vollstreckungsrechtlichen Charakter
hat das Übereinkommen indessen klarerweise nicht; seine Bedeutung liegt
gerade darin, dass die Rückgabe eines in einen andern Staat verbrachten
Kindes verlangt werden kann, ohne dass eine zu vollstreckende Entscheidung
im ursprünglichen Staat ergangen ist (vgl. Art. 3 Abs. 2). Es muss in
diesem Staat auch kein Verfahren betreffend die Regelung des Sorgerechts
im Gange sein. Aus diesem Grund handelt es sich auch nicht um ein
eigentliches Rechtshilfeverfahren (wo stets ein zu unterstützendes
ausländisches Hauptverfahren bestehen muss), auch wenn man die im
Übereinkommen vorgesehene Tätigkeit der zentralen Behörde in einem
weiteren Sinn als Rechtshilfe bezeichnen kann. Richtig ist sodann, dass
das Übereinkommen auch verfahrensrechtliche Bestimmungen enthält, die
dem öffentlichen Recht angehören, so z.B. Art. 22, der die Befreiung von
Sicherheitsleistungen vorsieht. Die im vorliegenden Verfahren streitigen
Bestimmungen haben jedoch eindeutig privatrechtlichen Charakter. So regelt
Art. 3, unter welchen Voraussetzungen das Verbringen eines Kindes in
einen andern Staat als widerrechtlich gilt, und Art. 13 bestimmt, unter
welchen Umständen die Rückgabe eines widerrechtlich weggebrachten Kindes
verweigert werden darf. Diese Bestimmungen schaffen vereinheitlichtes
Recht, auf das sich auch Private berufen können, was auch die Botschaft
einräumt (aaO S. 125). Das Verfahren, in dem über die Rückgabe befunden
wird, ist ein Erkenntnis-, nicht ein Vollstreckungsverfahren, das in der
Regel durch Private in Gang gesetzt wird, auch wenn es auch von einer
Behörde ausgehen kann (Art. 8 Abs. 1). Dabei stehen sich Private als
gleichberechtigte Prozessparteien gegenüber; dass die zentrale Behörde
die eine Partei unterstützt, verschafft dieser keine Vorzugsstellung.
Dass im Rückgabeverfahren nicht endgültig über das Sorgerecht befunden,
sondern nur eine Art vorläufiger Rechtsschutz gewährt wird, ändert an der
privatrechtlichen Natur dieser Bestimmungen nichts. Das Übereinkommen
lässt sich in dieser Beziehung mit dem Besitzesrecht vergleichen,
mit dem Unterschied, dass nicht die tatsächliche Gewalt an einer Sache,
sondern die tatsächliche Ausübung des Sorgerechts über ein Kind geschützt
wird. Es kann denn auch kein Zweifel bestehen, dass eine entsprechende
Regelung ohne weiteres in das Zivilgesetzbuch aufgenommen werden könnte,
falls der Gesetzgeber dies als notwendig erachten sollte.

    c) Haben die hier streitigen Bestimmungen des Übereinkommens aber
privatrechtlichen Charakter, so ist die staatsrechtliche Beschwerde im
Sinne von Art. 84 Abs. 1 lit. c OG ausgeschlossen. Die Berufung fällt
deswegen ausser Betracht, weil nicht endgültig über das Sorgerecht
entschieden und der Aufenthaltsort des Kindes nicht definitiv
festgelegt wird, so dass kein Endentscheid im Sinne von Art. 48 Abs. 1
OG vorliegt. Die Nichtigkeitsbeschwerde wäre zwar zulässig, doch wird
kein Nichtigkeitsgrund im Sinne von Art. 68 Abs. 1 OG geltend gemacht,
jedenfalls nicht mit hinreichender Deutlichkeit. (Wollte man in der
Behauptung, das zürcherische Verfahren, namentlich die Zulassung
des Rekurses, entspreche dem im Übereinkommen enthaltenen Gebot der
Beschleunigung nicht, eine Rüge im Sinne von Art. 68 Abs. 1 lit. a
OG erblicken, so wäre diese offensichtlich unbegründet, da keine
Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ordentliche Rechtsmittel gegen den
Rückgabeentscheid durch das Übereinkommen generell hätten ausgeschlossen
werden wollen.) Die Eingabe der Beschwerdeführerin kann daher nur als
staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte
im Sinne von Art. 84 Abs. 1 lit. a OG entgegengenommen werden, als welche
sie auch erhoben worden ist. Solche Beschwerden setzen aber, wie bereits
gesagt, die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs voraus, woran es
hier fehlt. Auf die Beschwerde kann daher nicht eingetreten werden.