Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 V 48



113 V 48

8. Urteil vom 26. März 1987 i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
gegen G. und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft Regeste

    Art. 24 Abs. 2 UVG.

    - Die Regelung von Art. 24 Abs. 2 UVG, wonach die
Integritätsentschädigung gleichzeitig mit einer allfälligen Invalidenrente
festzusetzen ist, setzt voraus, dass auch die Bedingungen für die
Zusprechung beider Leistungen gleichzeitig erfüllt sind.

    - Kann die Integritätsentschädigung ausnahmsweise erst später
zugesprochen werden, weil sich die Anspruchsvoraussetzungen im Zeitpunkt
der Rentenverfügung noch nicht zuverlässig beurteilen lassen, so hat der
Versicherte für die Zeit, während welcher der Entscheid aufgeschoben wird,
Anspruch auf einen Ausgleichszins von 5%.

Sachverhalt

    A.- Der 1951 geborene spanische Staatsangehörige Camilo G.  war als
Schaler in einer Bauunternehmung tätig gewesen. Am 26. Oktober 1983
erlitt er einen Betriebsunfall, bei welchem er sich schwere Verletzungen
zuzog. Er lag rund sechs Monate im Koma; am 27. Juli 1985 konnte er das
Spital verlassen, um nach Spanien zurückzukehren und dort weiterbehandelt
bzw. als Pflegefall betreut zu werden.

    Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) kam für
die Heilbehandlung auf und sprach dem Versicherten mit Verfügung
vom 4. September 1984 eine Invalidenrente von 100% ab 1. August
1984 zu; gleichzeitig stellte sie fest, der Anspruch auf eine
Integritätsentschädigung könne noch nicht abschliessend beurteilt werden,
weshalb der diesbezügliche Entscheid zurückgestellt werden müsse.

    Eine Einsprache des Versicherten, mit welcher dieser das Aufschieben
der Verfügung über den Anspruch auf eine Integritätsentschädigung
beanstandete, wurde von der SUVA mit Entscheid vom 26. November 1984
abgewiesen.

    B.- Camilo G. liess gegen diesen Entscheid Beschwerde
einreichen mit dem Begehren, die SUVA sei zu verpflichten, ihm eine
Integritätsentschädigung von Fr. 69'600.--, nebst Zins von 5% ab 1. August
1984, zu bezahlen.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft hiess die
Beschwerde in dem Sinne teilweise gut, dass es die Sache an die SUVA
zurückwies, damit sie über das Massliche der dem Beschwerdeführer ab
1. Januar 1984 geschuldeten Integritätsentschädigung befinde. In der
Begründung wird ausgeführt, nach dem klaren Wortlaut von Art. 24 Abs. 2 UVG
seien Rente und Integritätsentschädigung gleichzeitig festzusetzen. Dass
es in Einzelfällen wünschbar sein könne, den Entscheid im Interesse
einer genaueren Beurteilung aufzuschieben, vermöge kein Abweichen vom
Gesetzeswortlaut zu rechtfertigen. Weil die SUVA den Entscheid rechtswidrig
aufgeschoben habe, stehe dem Beschwerdeführer ein Anspruch auf Verzugszins
zu (Entscheid vom 26. Juni 1985).

    C.- Mit Verfügung vom 16. August 1985 sprach die SUVA dem Versicherten
eine Integritätsentschädigung im Höchstbetrag von Fr. 69'600.-- sowie
eine Hilflosenentschädigung zu.

    D.- Mit Eingabe vom 12. September 1985 erhebt die SUVA
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Basel-Landschaft sei aufzuheben und
es sei der Einsprache-Entscheid vom 26. November 1984 zu bestätigen;
eventuell sei der vorinstanzliche Entscheid zumindest soweit aufzuheben,
als er die SUVA zur Bezahlung eines Verzugszinses verpflichte.

    Camilo G. lässt sich mit dem Antrag auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen. Das Bundesamt für
Sozialversicherung vertritt die Auffassung, die Integritätsentschädigung
sei stets zusammen mit der Invalidenrente festzusetzen, enthält sich
jedoch eines Antrags hinsichtlich der Verzugszinspflicht.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Im vorinstanzlichen Verfahren liess der heutige Beschwerdegegner
beantragen, es sei ihm eine Integritätsentschädigung von Fr. 69'600.--
zuzusprechen und es sei die SUVA zur Bezahlung eines Verzugszinses von 5%
ab 1. August 1984 zu verpflichten. In teilweiser Gutheissung der Beschwerde
bejahte die Vorinstanz den Anspruch auf die Integritätsentschädigung
einschliesslich Verzugszins, wies die Sache jedoch an die SUVA zurück,
damit sie über die Höhe der Integritätsentschädigung befinde. Nachdem
die SUVA dem Beschwerdegegner mit Verfügung vom 16. August 1985
eine Integritätsentschädigung im gesetzlichen Höchstbetrag von
Fr. 69'600.-- zugesprochen hat, ist der vorinstanzliche Entscheid,
soweit er diesbezüglich die Rückweisung verfügte, gegenstandslos
geworden. Soweit die SUVA mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde die
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides auch in diesem Punkt beantragt,
kann darauf nicht eingetreten werden, weil mit der Verfügung vom 16. August
1985 hierüber rechtskräftig entschieden worden ist. Streitig und im
folgenden zu prüfen ist lediglich noch, ob die SUVA dem Beschwerdegegner
Verzugszins schuldet, weil sie über die Integritätsentschädigung nicht
bereits im Zeitpunkt der Rentenverfügung (4. September 1984), sondern
erst am 16. August 1985 verfügt hat.

Erwägung 2

    2.- a) Nach ständiger Rechtsprechung werden im Bereich der
Sozialversicherung grundsätzlich keine Verzugszinsen geschuldet, sofern
sie nicht gesetzlich vorgesehen sind (BGE 108 V 15 Erw. 2a, 101 V 117
Erw. 3). Dieser Grundsatz gilt indessen nicht ausnahmslos. So hat das
Eidg. Versicherungsgericht wiederholt Verzugszinsen zugesprochen, wenn
"besondere Umstände" vorlagen. Solche Umstände erachtete das Gericht
als gegeben bei widerrechtlichen oder trölerischen Machenschaften der
Verwaltungsorgane (BGE 101 V 118). In BGE 108 V 19 Erw. 4b hat es diese
Praxis bestätigt und ergänzend festgestellt, für die ausnahmsweise
Verzugszinspflicht bedürfe es neben der Rechtswidrigkeit auch eines
schuldhaften Verhaltens der Verwaltung (oder der Rekursbehörde). Dabei hat
das Gericht es abgelehnt, die Verzugszinspflicht generell für bestimmte
Gruppen von Fällen (etwa gerichtlich festgestellte Rechtsverzögerungen)
zu bejahen. Wegleitend dafür war die Überlegung, dass die Auferlegung
von Verzugszinsen im Sozialversicherungsrecht nur ausnahmsweise und
in Einzelfällen gerechtfertigt ist, bei denen das Rechtsempfinden in
besonderer Weise tangiert ist.

    b) Der SUVA ist darin beizupflichten, dass die nach der Rechtsprechung
für die ausnahmsweise Zusprechung eines Verzugszinses geltenden
Voraussetzungen im vorliegenden Fall nicht gegeben sind. Selbst
wenn sich die Auslegung und Anwendung von Art. 24 Abs. 2 UVG durch
die SUVA als unrichtig herausstellen sollte, was noch zu prüfen ist,
kann von "widerrechtlichen oder trölerischen Machenschaften" bzw. von
einem schuldhaften Verhalten nicht die Rede sein. Die Vorinstanz
räumt denn auch ein, der SUVA könne kaum ein Schuldvorwurf gemacht
werden; sie vertritt indessen die Auffassung, die Weigerung der SUVA,
die Integritätsentschädigung gleichzeitig mit der Rente festzusetzen,
stehe in klarem Widerspruch zum Gesetzeswortlaut, so dass jedenfalls die
Rechtswidrigkeit gegeben sei. Wo aber eine objektive Rechtsverzögerung
vorliege, könne selbst dann, wenn es an einem subjektiven Schuldvorwurf
fehle, nicht von einer sorgfältigen Aufgabenerfüllung gesprochen werden,
weshalb die Verzugszinspflicht zu bejahen sei.

    Dieser Auffassung kann im Lichte der bisherigen Praxis, an welcher
festzuhalten ist, nicht zugestimmt werden. Danach vermag eine objektive
Rechtsverzögerung für sich allein noch keine Verzugszinspflicht
zu begründen; der Anspruch auf Verzugszins setzt vielmehr auch ein
schuldhaftes Verhalten der Behörde voraus. Mangels eines solchen Verhaltens
ist im vorliegenden Fall kein Verzugszins geschuldet, und es kann sich
lediglich die Frage stellen, ob die SUVA den streitigen Zins unter einem
andern Rechtstitel zu bezahlen hat.

Erwägung 3

    3.- a) Nach Art. 24 Abs. 1 UVG hat der Versicherte Anspruch auf eine
angemessene Integritätsentschädigung, wenn er durch einen versicherten
Unfall eine dauernde erhebliche Schädigung der körperlichen oder geistigen
Integrität erleidet. Gemäss Abs. 2 der Bestimmung wird die Entschädigung
mit der Invalidenrente festgesetzt ("fixée en même temps que la rente
d'invalidité", "determinata simultaneamente alla rendita d'invalidità")
oder, falls kein Rentenanspruch besteht, bei der Beendigung der ärztlichen
Behandlung gewährt.

    Ein Integritätsschaden gilt als dauernd, wenn er voraussichtlich
während des ganzen Lebens mindestens in gleichem Umfang besteht. Er ist
erheblich, wenn die körperliche oder geistige Integrität, unabhängig
von der Erwerbsfähigkeit, augenfällig oder stark beeinträchtigt wird
(Art. 36 Abs. 1 UVV).

    b) Aus dem Wortlaut von Art. 24 Abs. 2 UVG ergibt sich klar,
dass die Integritätsentschädigung gleichzeitig mit der Invalidenrente
festzusetzen ist, falls ein Rentenanspruch besteht. Ausnahmen von dieser
Regel sieht das Gesetz nicht vor. Es liegt entgegen der von der SUVA im
erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren vertretenen Auffassung auch keine
blosse Ordnungsvorschrift vor.

    Bei der Anwendung von Art. 24 Abs. 2 UVG kann indessen nicht unbeachtet
bleiben, dass die Voraussetzungen für die Zusprechung der Invalidenrente
(Art. 19 Abs. 1 UVG) anders geregelt sind als diejenigen für die
Integritätsentschädigung (Art. 36 UVV). Beim Rentenanspruch besteht
die Möglichkeit nachträglicher Änderungen, indem die Rente revidiert
werden kann, wenn sich der Invaliditätsgrad erheblich geändert hat
(Art. 22 UVG). Demgegenüber muss bei der Integritätsentschädigung
ein für allemal feststehen, dass die Beeinträchtigung erheblich und
dauernd ist und in welchem Umfang sie besteht (Art. 24 Abs. 1 UVG,
Art. 36 Abs. 1 UVV). Dabei sind voraussehbare Verschlimmerungen des
Integritätsschadens angemessen zu berücksichtigen; revisionsweise
Neubeurteilungen sind dagegen ausgeschlossen (UVV Anhang 3 Ziff.
3). Diese Unterschiede können dazu führen, dass der Anspruch auf die
Integritätsentschädigung nicht zur gleichen Zeit beurteilt werden kann
wie derjenige auf die Invalidenrente. Die Regel von Art. 24 Abs. 2 UVG,
wonach die Integritätsentschädigung gleichzeitig mit der Invalidenrente
festzusetzen ist, darf aber weder dazu führen, dass der Entscheid über
die Invalidenrente aufgeschoben wird, noch darf sie zur Folge haben,
dass der Versicherte vom Anspruch auf die Integritätsentschädigung
ausgeschlossen wird, weil in einem Zeitpunkt darüber zu entscheiden ist,
in dem die Dauerhaftigkeit und das Ausmass der Beeinträchtigung noch
nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit beurteilt werden können. Der
Grundsatz der Gleichzeitigkeit gemäss Art. 24 Abs. 2 UVG kann mithin
nur Anwendung finden, soweit auch die Bedingungen für die Zusprechung
der Invalidenrente und der Integritätsentschädigung gleichzeitig erfüllt
sind. Dies dürfte in der Regel der Fall sein; besondere Umstände können
indessen zu Ausnahmen führen, so wenn der Arzt erst in einem späteren
Zeitpunkt eine zuverlässige Prognose hinsichtlich der Dauerhaftigkeit
und Erheblichkeit der Beeinträchtigung sowie allfälliger späterer
Verschlimmerungen im Sinne von Anhang 3 Ziff. 3 zur UVV stellen kann.

    Der SUVA ist grundsätzlich somit darin beizupflichten, dass
die Integritätsentschädigung zwar im Regelfall gleichzeitig mit
der Invalidenrente festzusetzen ist, dass der Entscheid über die
Integritätsentschädigung ausnahmsweise jedoch in einem späteren Zeitpunkt
erfolgen kann, wenn sich die materiellen Anspruchsvoraussetzungen
im Zeitpunkt der Rentenverfügung noch nicht zuverlässig beurteilen
lassen (vgl. auch GILG/ZOLLINGER, Die Integritätsentschädigung nach
dem Bundesgesetz über die Unfallversicherung, S. 71 ff., und MAURER,
Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 415 f.).

Erwägung 4

    4.- Werden im genannten Sinn Ausnahmen vom Grundsatz der
Gleichzeitigkeit gemäss Art. 24 Abs. 2 UVG zugelassen, so wird dem Willen
des Gesetzgebers nicht Rechnung getragen, demgemäss der Versicherte
im Zeitpunkt, in dem die Invalidenrente zugesprochen wird, über die
Entschädigung für die Beeinträchtigung der Integrität soll verfügen
können. Es rechtfertigt sich daher, den Versicherten in solchen Fällen
leistungsmässig in den Stand zu setzen, in dem er sich befände, wenn über
die Integritätsentschädigung zusammen mit der Invalidenrente entschieden
worden wäre. Dies kann nur in der Weise geschehen, dass ihm für die
Zeit, während welcher der Entscheid über die Integritätsentschädigung
aufgeschoben werden muss, ein Zinsanspruch eingeräumt wird. Dabei handelt
es sich nicht um einen Verzugszins aufgrund eines schuldhaften Verhaltens
der Verwaltung (BGE 108 V 13 ff.), sondern um einen unmittelbar aus dem
Gesetz abgeleiteten Ausgleichszins ähnlich dem Schadenszins bei der
zivilrechtlichen Genugtuung gemäss Art. 47/49 OR (vgl. BGE 81 II 519
Erw. 6; OFTINGER, Schweiz. Haftpflichtrecht, Bd. I, 4. Aufl., S. 174/75).

    Dem Einwand der SUVA, wonach bei Bejahung des Zinsanspruchs im
vorliegenden Fall eine Zinspflicht praktisch immer gegeben sei, wenn
die Sozialversicherung zu geringe oder verspätete Versicherungsleistungen
erbringe, ist entgegenzuhalten, dass der Versicherte eine Verspätung in der
Auszahlung (z.B. infolge langwieriger Abklärungen) in der Regel in Kauf zu
nehmen hat. Art. 24 Abs. 2 UVG stellt demgegenüber insofern eine besondere
Regelung dar, als damit nicht nur der materielle Anspruchsbeginn, sondern
auch der Zeitpunkt, in dem verfügt werden muss, bestimmt wird, wobei die
Verfügung auch die Auszahlung der Integritätsentschädigung umfasst. Das
Gesetz bestimmt mithin den Zeitpunkt, in welchem der Versicherte die
Leistung erhalten soll; erhält er sie ausnahmsweise erst in einem späteren
Zeitpunkt, ist ihm ein Ausgleich in Form eines Zinses zu gewähren.

Erwägung 5

    5.- Nach dem Gesagten steht dem Beschwerdegegner für die Zeit vom
4. September 1984 bis 16. August 1985 ein Zinsanspruch auf der ihm mit
Verfügung vom 16. August 1985 gewährten Integritätsentschädigung zu. Es
wird Sache der SUVA sein, den Anspruch betraglich festzulegen, wobei
von einem Zinssatz von 5% auszugehen ist (vgl. BGE 101 V 120 oben sowie
Art. 73 Abs. 1 OR).

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf
einzutreten ist. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt wird
im Sinne der Erwägungen verpflichtet, dem Beschwerdegegner auf der
Integritätsentschädigung von Fr. 69'600.-- einen Zins von 5% zu bezahlen.