Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 V 301



113 V 301

50. Urteil vom 23. Dezember 1987 i.S. Schweizerische Grütli gegen Di
G. und Versicherungsgericht des Kantons Zürich Regeste

    Art. 1 Abs. 2 Satz 2, Art. 12bis Abs. 3 KUVG:
Krankengeldversicherung. Das Recht der Krankenkassen, den Umfang der über
das gesetzliche Minimum hinausgehenden Leistungen durch Statutenrevision
zu ändern, ist nicht unbeschränkt. Eine revisionsweise Kürzung oder
Aufhebung laufender Krankengelder erheblichen Umfangs kann dem betroffenen
Versicherten nur zugemutet werden, wenn besondere Rechtfertigungsgründe
vorliegen.

Sachverhalt

    A.- Antonio Di G. ist seit 1964 Mitglied der Krankenkasse
Schweizerische Grütli und bei dieser unter anderem versichert
für ein Krankengeld von Fr. 100.-- mit Leistungspflicht ab dem 91.
Arbeitsunfähigkeitstag. Er ist seit Dezember 1980 praktisch ununterbrochen
arbeitsunfähig. Am 6. Mai 1985 teilte ihm die Kasse mit, dass die
erste Bezugsberechtigungsperiode von 720 Taggeldern innerhalb von 900
aufeinanderfolgenden Tagen am 4. April 1985 geendet habe; nach Ablauf
einer Einstellungszeit von 180 Tagen - mithin ab 2. Oktober 1985 - werde
noch während 360 Tagen innerhalb von 540 aufeinanderfolgenden Tagen das
halbe Krankengeld ausgerichtet. Danach sei die Bezugsberechtigung in der
Krankengeldversicherung erschöpft (Art. 44 Abs. 1 der Statuten).

    Am 17. Dezember 1985 schrieb die Kasse Antonio Di G., die Statuten
würden auf den 1. Januar 1986 dahin revidiert, dass beim Krankengeld
kein Anspruch auf eine zweite Bezugsberechtigungsperiode mehr bestehe. Er
erhalte somit nur noch bis 31. Dezember 1985 Krankengeld. Da Antonio Di
G. damit nicht einverstanden war, erliess die Kasse am 11. April 1986
eine entsprechende Verfügung.

    B.- Hiegegen erhob Antonio Di G. Beschwerde mit dem Antrag, die Kasse
sei zu verpflichten, ihm ab 1. Januar 1986 für die Dauer der noch nicht
erfüllten zweiten Bezugsberechtigungsperiode das versicherte Krankengeld
auszurichten. Das Versicherungsgericht des Kantons Zürich hiess die
Beschwerde mit Entscheid vom 1. Juli 1986 gut.

    C.- Die Kasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der
kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Kassenverfügung vom 11. April
1986 zu bestätigen. Auf die Begründung wird, soweit erforderlich, in den
Erwägungen einzugehen sein.

    Antonio Di G. schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
beantragt Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach der Rechtsprechung können die Krankenkassen die Beiträge
und die über die gesetzlichen Minima hinausgehenden Leistungen zugunsten
oder zuungunsten der Mitglieder grundsätzlich jederzeit anpassen (BGE
107 V 162 Erw. 2, 100 V 69, 96 V 97; RKUV 1985 Nr. K 627 S. 132; RSKV
1983 Nr. 552 S. 234, 1980 Nr. 428 S. 249, 1971 Nr. 107 S. 193). Der
Anspruch auf die über die gesetzlichen Minima hinausgehenden Leistungen
richtet sich nach dem jeweiligen statutarischen Stand und macht daher die
Entwicklung mit, welche die Statuten im Bereiche der Nichtpflichtleistungen
erfahren. Das schliesst den Weiterbestand altrechtlicher Ansprüche
unter der Herrschaft der neuen statutarischen Ordnung grundsätzlich
aus. Ausnahmen können sich lediglich im Falle wohlerworbener Rechte
ergeben. Solche liegen praxisgemäss nur dann vor, wenn die Statuten eine
entsprechende Garantie vorsehen oder die Ansprüche ihren Grund in Umständen
haben, die nach Treu und Glauben zu respektieren sind, wie das vornehmlich
bei besonders qualifizierten Zusicherungen im Einzelfall zutreffen kann
(RKUV 1985 Nr. K 627 S. 132; RSKV 1983 Nr. 552 S. 234).

    b) Nach Art. 48 Abs. 8 in Verbindung mit Art. 44 Abs. 1 des
Leistungsreglements der Schweizerischen Grütli in der bis 31. Dezember 1985
geltenden Fassung wurden die Leistungen aus der Krankengeldversicherung
720 Tage im Laufe von 900 aufeinanderfolgenden Tagen erbracht (erste
Bezugsberechtigungsperiode). Im Anschluss an diese Leistungen wurde
nach einer Einstellungszeit von 180 Tagen während weiteren 360 Tagen
innerhalb von 540 aufeinanderfolgenden Tagen noch das halbe versicherte
Krankengeld ausgerichtet (zweite Bezugsberechtigungsperiode). Danach war
die Krankengeldversicherung erschöpft. Am 16. November 1985 beschloss die
Zentraldelegiertenversammlung, die zweite Bezugsberechtigungsperiode auf
den 1. Januar 1986 aufzuheben.

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdegegner hat eingewendet, der Entzug des
Krankengeldes in der zweiten Bezugsberechtigungsperiode stelle in seinem
Fall einen mit dem Vertrauensprinzip unvereinbaren Eingriff in ein
bestehendes Versicherungsverhältnis dar. Dem kann nach der dargelegten
Rechtsprechung nicht beigepflichtet werden, soweit der Einwand dahin
zu verstehen ist, dass eine einmal abgeschlossene Versicherung in ihrem
Bestand gegenüber späteren Verminderungen des Leistungskatalogs generell
geschützt sei. Die anerkannten Krankenkassen decken ihre Ausgaben durch
die laufenden Einnahmen (Umlage- oder Ausgabendeckungsverfahren);
sie haben von Gesetzes wegen für einen gesunden Finanzhaushalt zu
sorgen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, sind sie darauf angewiesen,
dass sie Beiträge oder Nichtpflichtleistungen grundsätzlich jederzeit
auch zuungunsten der Versicherten anpassen können. Dieses Ziel könnte
praktisch nicht erreicht werden, wenn von einer Herabsetzung der
versicherten Nichtpflichtleistungen generell nur Neumitglieder oder neue
Versicherungsabschlüsse betroffen würden. Ein Schutz vor revisionsweisen
Herabsetzungen der Versicherungsdeckung besteht daher praxisgemäss nur,
wenn die Kasse in den Statuten oder Reglementen eine entsprechende Garantie
abgegeben hat oder wenn wohlerworbene Rechte in Frage stehen.

    b) Die Satzungen der Grütli enthielten keine Zusage, dass
die Leistungsdauer in der aufgeschobenen Krankengeldversicherung
künftig nicht herabgesetzt würde. In ihrem Schreiben vom 6. Mai 1985
hatte die Kasse sodann nicht die Ausrichtung bestimmter Leistungen
konkret und definitiv zugesichert, sondern lediglich festgestellt,
dass die zweite Bezugsberechtigungsperiode am 2. Oktober 1985 zu
laufen beginne. Diese Zusage stand unter dem zwar nicht ausdrücklich
erwähnten, aber sinngemässen und selbstverständlichen Vorbehalt, dass
dannzumal alle materiellen Leistungsvoraussetzungen - einschliesslich
der erforderlichen statutarischen oder reglementarischen Grundlagen
- erfüllt sein würden. Dass beim Abschluss der Versicherung die
reglementarische Leistungsdauer zwei Bezugsberechtigungsperioden umfasste,
begründet sodann für sich allein keine Zusicherung eines unabänderlichen
Versicherungsschutzes und ebensowenig ein wohlerworbenes Recht des Inhalts,
dass das Mitglied nach einer revisionsweisen Herabsetzung der Deckung
in künftigen Schadenfällen Leistungen weiterhin nach den altrechtlichen
Leistungsnormen beanspruchen könne (BGE 113 V 212).

Erwägung 3

    3.- a) Dagegen wirft der Beschwerdegegner zu Recht die Frage auf, ob
die Krankenkassen ohne Verletzung des Vertrauensprinzips durch Revision der
Kassenbestimmungen auch laufende Versicherungsansprüche von Mitgliedern
herabsetzen oder aufheben können. Im Urteil St. vom 30. Oktober 1984
(RKUV 1985 Nr. K 627 S. 131 Erw. 2a und S. 133 Erw. 3a; bestätigt im
bereits zitierten BGE 113 V 212) hat das Eidg. Versicherungsgericht die
Zulässigkeit einer solchen Massnahme bejaht, indem es erkannte, dass der
Weiterbestand altrechtlicher Ansprüche unter der Herrschaft einer neuen
statutarischen Ordnung grundsätzlich ausgeschlossen sei, wobei es keinen
Unterschied mache, ob es um (im Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen
Rechts) aktuelle Leistungen gehe, die zufolge Statutenrevision vermindert
oder aufgehoben würden, oder um potentielle künftige Ansprüche.

    b) Daran ist im Grundsatz festzuhalten. Zur Erhaltung einer gesunden
Finanzlage der Kasse kann unter Umständen auch eine Schmälerung laufender
Ansprüche geboten sein und muss daher zugelassen werden. Indes ist zu
beachten, dass die Kassen bei einer Anpassung von Beiträgen oder Leistungen
praxisgemäss verpflichtet sind, zwischen den Anforderungen einer gesunden
Kassenführung einerseits und der Sorge um die Respektierung der Rechte
eines jeden Versicherten einen billigen Ausgleich zu suchen und zu wahren
(BGE 100 V 69, 96 V 98; RSKV 1980 Nr. 428 S. 249). Eine Kürzung oder
Aufhebung laufender Ansprüche bedeutenden Umfangs ist den Betroffenen
nach diesen Grundsätzen nur mit grosser Zurückhaltung zuzumuten. Eine
Aufhebung oder Herabsetzung laufender Versicherungsansprüche bedeutenden
Umfangs durch Statutenrevision stellt eine schwere Beeinträchtigung
des von der Kasse begründeten Vertrauens auf Versicherungsschutz
und unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit einen ebenso
einschneidenden Eingriff in die Rechte der betroffenen Mitglieder dar.
Eine revisionsweise Schmälerung laufender Ansprüche bedarf deshalb
besonderer Rechtfertigungsgründe.

    c) Solche Rechtfertigungsgründe fehlen im vorliegenden
Fall. Insbesondere deutet nichts darauf hin, dass das finanzielle
Gleichgewicht im Bereiche der Krankengeldversicherung gefährdet
wäre oder das mit der beschlossenen Reglementsänderung angestrebte
Ziel sonstwie vereitelt würde, wenn die laufenden Ansprüche nach der
Revision noch gemäss altem Leistungsrecht erfüllt würden. Wohl mag
die Kostenbremse dadurch etwas langsamer zum Greifen kommen, was aber
einen so einschneidenden Eingriff in die Rechte der Versicherten wie
hier nicht zu rechtfertigen vermag. Ebensowenig kann der Tatsache
entscheidendes Gewicht zukommen, dass der Beschwerdegegner für die
Zeit ab 1. Januar 1986 bis zur Erschöpfung des Anspruchs Beiträge
entrichtet, die für eine einmalige Bezugsberechtigungsperiode berechnet
sind. Die Einhaltung des Gegenseitigkeitsprinzips hat hier gegenüber dem
Verhältnismässigkeitsprinzip und dem Vertrauensgrundsatz zurückzutreten,
dessen Rechtsfolge gerade darin besteht, dass dem Rechtsuchenden eine vom
an sich massgebenden Recht abweichende Behandlung zukommen soll (BGE 112
V 119 Erw. 3a).

    d) Die Kasse beruft sich für ihren Standpunkt auf das in RKUV
1985 Nr. K 627 S. 129 publizierte und bereits oben zitierte Urteil des
Eidg. Versicherungsgerichts vom 30. Oktober 1984. Darin ging es indes nicht
um die Schmälerung laufender Ansprüche durch Statutenrevision, sondern um
die statutarische Aufhebung einer zweiten Bezugsberechtigungsperiode beim
Krankengeld mit Wirkung kurz nach Erschöpfen der ersten Bezugsperiode
bzw. kurz nach Beginn einer 360tägigen Wartezeit, die der zweiten
Bezugsperiode vorauszugehen hatte. Die Frage der Verhältnismässigkeit
und des Vertrauensschutzes hatte das Eidg. Versicherungsgericht mithin
auf der Grundlage anderer tatsächlicher Gegebenheiten zu prüfen als im
vorliegenden Fall.

    e) Aus dem Gesagten folgt, dass der Beschwerdegegner ab 1. Januar
1986 die versicherungsmässigen Voraussetzungen für eine zweite
Bezugsberechtigungsperiode gemäss dem bis 31. Dezember 1985 gültig
gewesenen reglementarischen Recht erfüllt.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.