Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 V 174



113 V 174

28. Urteil vom 14. Juli 1987 i.S. Ausgleichskasse des Kantons Luzern
gegen B. und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Regeste

    Art. 25 Abs. 1, 4 und 5 AHVV: Festsetzung der Beiträge aus
selbständiger Erwerbstätigkeit.

    - Übergang vom ausserordentlichen zum ordentlichen
Beitragsfestsetzungsverfahren im Falle eines Versicherten, der zu Beginn
einer ordentlichen Beitragsperiode eine selbständige Erwerbstätigkeit
aufgenommen hat.

    - Von einer Beitragsfestsetzung im ordentlichen Verfahren,
die einer Berichtigung gemäss Art. 25 Abs. 5 AHVV unzugänglich ist,
kann erst dann gesprochen werden, wenn die Ausgleichskasse über die
erforderlichen Einkommensangaben verfügt, welche die weitere Anwendung
des ausserordentlichen Beitragsfestsetzungsverfahrens nach Art. 25 Abs. 4
AHVV ausschliessen.

    - Die Berichtigung der Beitragsfestsetzung (Art. 25 Abs. 5 AHVV)
kann auch darin bestehen, dass aufgrund der erst nachträglich erhaltenen
Einkommensangaben das ausserordentliche Beitragsfestsetzungsverfahren
gemäss Art. 25 Abs. 4 AHVV weitergeführt wird.

Sachverhalt

    A.- Jakob B. hatte auf den 1. Januar 1982 von seinen Eltern ein
landwirtschaftliches Anwesen übernommen und ist seither der Ausgleichskasse
des Kantons Luzern als Selbständigerwerbender angeschlossen. Mit
Verfügung vom 31. August 1982 setzte die Ausgleichskasse die persönlichen
AHV/IV/EO-Beiträge für die Jahre 1982/83 aufgrund der Angaben des
Versicherten vom 7. August 1982 über das "mutmassliche jährliche
Reineinkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit" fest. Diese Verfügung
ersetzte die Ausgleichskasse durch eine Beitragsverfügung vom 2. März 1983,
die sich auf eine Steuermeldung stützte; die Kasse merkte an, dass die
"Neufestsetzung der Beiträge aufgrund des steuerrechtlich ermittelten
Einkommens" erfolge. Mit einer weiteren Verfügung vom 19. September
1984 setzte die Ausgleichskasse die Beiträge für die Jahre 1984 und
1985 auf der Grundlage der Taxation für die direkte Bundessteuer 1983/84
(Berechnungsjahre 1981/82) fest. Schliesslich erliess die Ausgleichskasse
am 28. Februar 1986 drei weitere Beitragsverfügungen für die Jahre
1983, 1984/85 und 1986/87, wobei die aufgrund der früheren Verfügungen
fakturierten Beiträge angerechnet wurden; daraus resultierte eine vom
Versicherten nachzuzahlende Differenz von Fr. 3'447.20. Diese neuerlichen
Verfügungen beruhten auf einer Steuermeldung für die 23. Periode der
direkten Bundessteuer (1985/86) mit den Berechnungsjahren 1983 und 1984.

    B.- Jakob B. führte gegen die Verfügungen vom 28. Februar 1986
Beschwerde mit dem Antrag auf deren Aufhebung, soweit damit die Beiträge
für die Jahre 1983 bis 1985 neu festgesetzt worden waren. Er machte
geltend, die Ausgleichskasse habe über seine Beitragspflicht für die
Jahre 1983 bis 1985 bereits früher rechtskräftig verfügt, weshalb sie
nicht habe darauf zurückkommen können.

    Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern gelangte zum Schluss, dass
die Verwaltung mit den Verfügungen vom 2. März 1983 und 19. September
1984 die Beiträge für die Jahre 1983 bis 1985 im ordentlichen Verfahren
festgesetzt habe; die entsprechenden Verfügungen seien daher in
formelle Rechtskraft erwachsen und einer Berichtigung nicht mehr
zugänglich gewesen. Da auch die Voraussetzungen, welche erlaubten, die
Beitragsverfügungen betreffend die Jahre 1983 bis 1985 in Wiedererwägung zu
ziehen, nicht erfüllt seien, bestehe für eine erneute Beitragsfestsetzung
für diese Jahre kein Raum. Dementsprechend hiess das kantonale Gericht
die Beschwerde mit Entscheid vom 12. September 1986 gut und hob die
Kassenverfügungen vom 28. Februar 1986 auf, soweit sie die Beitragspflicht
für die Jahre 1983 bis 1985 betreffen.

    C.- Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Begehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.

    Während Jakob B. die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragt, schliesst das Bundesamt für Sozialversicherung auf deren
Gutheissung.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Im ordentlichen Verfahren wird der Jahresbeitrag vom reinen
Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit durch eine Beitragsverfügung
für eine Beitragsperiode von zwei Jahren festgesetzt. Die Beitragsperiode
beginnt mit dem geraden Kalenderjahr (Art. 22 Abs. 1 AHVV). Der
Jahresbeitrag wird in der Regel aufgrund des durchschnittlichen reinen
Erwerbseinkommens einer zweijährigen Berechnungsperiode bemessen. Diese
umfasst das zweit- und drittletzte Jahr vor der Beitragsperiode und
entspricht jeweils einer Berechnungsperiode der direkten Bundessteuer
(Art. 22 Abs. 2 AHVV).

    Demgegenüber findet das ausserordentliche Verfahren u.a. Anwendung,
wenn der Beitragspflichtige eine selbständige Erwerbstätigkeit
aufnimmt; in einem solchen Fall ermittelt die Ausgleichskasse das
massgebende reine Erwerbseinkommen für die Zeit von der Aufnahme der
selbständigen Erwerbstätigkeit bis zum Beginn der nächsten ordentlichen
Beitragsperiode und setzt die entsprechenden Beiträge fest (Art. 25 Abs. 1
AHVV). Die Beiträge sind für jedes Kalenderjahr aufgrund des jeweiligen
Jahreseinkommens festzusetzen. Für das Vorjahr der nächsten ordentlichen
Beitragsperiode sind die Beiträge aufgrund des reinen Erwerbseinkommens
festzusetzen, das der Beitragsbemessung für diese Periode zugrunde zu legen
ist (Art. 25 Abs. 3 AHVV). Als nächste ordentliche Beitragsperiode gilt
jene, für welche das Jahr der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit Teil
der nach Art. 22 Abs. 2 AHVV massgebenden Berechnungsperiode bildet,
wobei mindestens zwölf Monate der selbständigen Tätigkeit in diese
Berechnungsperiode fallen müssen (BGE 108 V 179 Erw. 4a, 107 V 65 Erw. 2b;
ZAK 1985 S. 574 Erw. 3). Wird indessen die selbständige Erwerbstätigkeit
zu Beginn einer ordentlichen Beitragsperiode aufgenommen und weicht
das reine Erwerbseinkommen des ersten Beitragsjahres unverhältnismässig
stark von dem der folgenden Jahre ab, so sind erst für das Vorjahr der
übernächsten ordentlichen Beitragsperiode die Beiträge aufgrund des reinen
Erwerbseinkommens festzusetzen, das der Beitragsbemessung für diese Periode
zugrunde zu legen ist (Art. 25 Abs. 4 AHVV). Ergibt sich später aus der
Meldung der kantonalen Steuerbehörde ein höheres oder niedrigeres reines
Erwerbseinkommen, so hat die Ausgleichskasse die Beiträge nachzufordern
oder zurückzuerstatten (Art. 25 Abs. 5 AHVV).

    Nach der Rechtsprechung hat die Beitragsfestsetzung im
ausserordentlichen Verfahren - abgesehen von den besonderen
Verfahrensregeln - zwar nach den gleichen allgemeinen Grundsätzen zu
erfolgen wie die Festsetzung im ordentlichen Verfahren; insbesondere
sind die Rechtswirkungen hinsichtlich Rechtskraft und Vollstreckbarkeit
im Prinzip die gleichen. Das Eidg. Versicherungsgericht hat jedoch
seit je die Ausnahme festgehalten, dass die Verwaltung unter den
Voraussetzungen von Art. 25 Abs. 5 AHVV trotz eingetretener Rechtskraft
auf die Beitragsfestsetzung im ausserordentlichen Verfahren zurückkommen
und je nachdem zu wenig bezahlte Beiträge nachfordern oder zuviel bezahlte
Beiträge zurückerstatten muss (ZAK 1982 S. 187 Erw. 2 in fine, bestätigt
in BGE 110 V 261).

Erwägung 2

    2.- a) Die Ausgleichskasse berechnete die Beiträge für das Jahr 1983
vorerst auf der Grundlage des 1982 aus selbständiger Erwerbstätigkeit
erzielten Einkommens (Verfügung vom 2. März 1983) und die Beiträge
für die Jahre 1984 und 1985 aufgrund der Taxation für die direkte
Bundessteuer 1983/84 (Verfügung vom 19. September 1984). An die Stelle
dieser Verfügungen traten die Verfügungen vom 28. Februar 1986, welche auf
der Steuermeldung für die 23. Periode der direkten Bundessteuer (1985/86)
mit den Berechnungsjahren 1983 und 1984 beruhen und deren Rechtmässigkeit
im vorliegenden Verfahren streitig ist.

    Die Vorinstanz stellt sich auf den Standpunkt, dass Art. 25 Abs. 5
AHVV, der die nachträgliche Berichtigung von Beitragsverfügungen
zulässt, im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, wobei sie vorab
auf den Ausnahmecharakter der Bestimmungen über das ausserordentliche
Bemessungsverfahren hinweist. Es trifft zu, dass die Rechtsprechung
im Zusammenhang mit Art. 25 AHVV verschiedentlich den Begriff
Ausnahmebestimmungen verwendet hat (vgl. BGE 98 V 247, 96 V 64; ZAK 1982
S. 368 oben, je mit Hinweisen). Dies bedeutet indessen nicht, dass Art. 25
AHVV die Anwendung zu versagen ist, wenn seine Voraussetzungen erfüllt sind
(vgl. ZAK 1986 S. 285 f.).

    b) Das kantonale Gericht hält das Vorgehen nach Art. 25 Abs. 5
AHVV vorliegend deshalb für unzulässig, weil die Ausgleichskasse die
früheren Verfügungen vom 2. März 1983 und 19. September 1984 nicht
im ausserordentlichen Verfahren (Gegenwartsbemessung nach Art. 25
Abs. 1 und Abs. 3 AHVV) festgesetzt, sondern vielmehr das ordentliche
Beitragsfestsetzungsverfahren angewendet habe. Diese Interpretation
des Vorgehens der Verwaltung erweist sich bei näherer Prüfung als
offensichtlich unrichtig. Wohl wurden die Verfügungen vom 2. März 1983
und 19. September 1984 nach Eingang von Steuermeldungen erlassen. Aus
diesem Umstand allein kann jedoch nicht geschlossen werden, dass die
Ausgleichskasse nach dem ordentlichen Beitragsfestsetzungsverfahren
vorgegangen ist; denn in der Meldung vom 15. Februar 1983, von der die
Verfügung vom 2. März 1983 ausging, teilte die Steuerbehörde nicht das vom
Beschwerdegegner in den Berechnungsjahren 1979/80 erzielte Erwerbseinkommen
mit, sondern das im Jahre 1982 erreichte Gegenwartseinkommen. Dies
erklärt sich damit, dass die Aufnahme der selbständigen Erwerbstätigkeit
des Beschwerdegegners auf den 1. Januar 1982 auch steuerrechtlich einen
Grund für die Gegenwartsbemessung darstellt. Gleich verhalten hat es
sich offenbar auch hinsichtlich der nicht in den Akten befindlichen
Steuermeldung, welche zum Erlass der Verfügung vom 19. September 1984
geführt hat, indem die Ausgleichskasse wiederum nahezu auf das im
Jahre 1982 aus selbständigem Erwerb erzielte Einkommen (Fr. 13'648.--
statt Fr. 13'880.--) abstellte. Darin kann kein Übergang zum ordentlichen
Bemessungsverfahren erblickt werden; denn die Ausgleichskasse war aufgrund
der damals verfügbaren Einkommensangaben noch gar nicht in der Lage zu
entscheiden, ob nunmehr das ordentliche Beitragsfestsetzungsverfahren im
Sinne von Art. 25 Abs. 1 in fine AHVV zu wählen oder aber dieses infolge
unverhältnismässig starker Einkommensabweichung im Sinne von Art. 25
Abs. 4 AHVV noch bis nach dem Vorjahr der übernächsten ordentlichen
Beitragsperiode hinauszuschieben war. Erst als sie die Steuermeldung
vom 13. Januar 1986 über das in den Berechnungsjahren 1983/84 tatsächlich
erzielte Einkommen erhalten hatte, war für die Ausgleichskasse ersichtlich,
nach welchem Modus die Beiträge ab 1983 festzusetzen waren.

    c) Zusammenfassend ergibt sich, dass von einer Beitragsfestsetzung im
ordentlichen Verfahren, die einer Berichtigung gemäss Art. 25 Abs. 5
AHVV unzugänglich ist, erst dann gesprochen werden kann, wenn die
Ausgleichskasse über die erforderlichen Einkommensangaben verfügt, welche
die weitere Anwendung des ausserordentlichen Beitragsfestsetzungsverfahrens
nach Art. 25 Abs. 4 AHVV ausschliessen. Dies war vorliegend beim Erlass der
Verfügungen vom 2. März 1983 und 19. September 1984 nicht der Fall. Es
steht fest, dass das vom Beschwerdegegner im ersten Beitragsjahr
1982 erzielte Erwerbseinkommen im Sinne von Art. 25 Abs. 4 AHVV und
der dazu ergangenen Rechtsprechung (BGE 107 V 65) unverhältnismässig
stark von dem in den folgenden Jahren erzielten Einkommen abweicht. Die
Ausgleichskasse war deshalb befugt, mit den angefochtenen Verfügungen
vom 28. Februar 1986 die Beiträge für die Jahre bis und mit 1985 - dem
Vorjahr der übernächsten Beitragsperiode - im ausserordentlichen Verfahren
festzusetzen. Der Hinweis der Vorinstanz auf ZAK 1981 S. 385 geht fehl,
weil vorliegend - anders als im dort beurteilten Fall - keineswegs von
"stabilen Einkommensverhältnissen" die Rede sein kann. Die Berichtigung
der Beitragsfestsetzung gemäss Art. 25 Abs. 5 AHVV kann somit auch darin
bestehen, dass aufgrund der erst nachträglich erhaltenen Einkommensangaben
das ausserordentliche Beitragsfestsetzungsverfahren im Sinne von Art. 25
Abs. 4 AHVV weitergeführt wird. Dazu bedarf es der Voraussetzungen für
ein wiedererwägungsweises Zurückkommen auf eine in formelle Rechtskraft
erwachsene Verfügung (vgl. BGE 112 V 373 Erw. 2c mit Hinweisen) nicht.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 12. September 1986 aufgehoben.