Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IV 49



113 IV 49

15. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 15. Mai
1987 i.S. M. gegen Direktion der Justiz des Kantons Zürich
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    1. Chronologische Reihenfolge gemeinsam zu verbüssender Strafen.

    Das Bundesrecht enthält keine Vorschriften darüber, in welcher
Reihenfolge gemeinsam zu verbüssende Strafen zu vollziehen sind (E. 2). Es
ist nicht zu beanstanden, wenn die Behörden in einem solchen Fall vorerst
diejenigen Strafen vollziehen lassen, bei denen die Gefahr der Verjährung
besteht (E. 3).

    2. Art. 38 Ziff. 4 Abs. 6 StGB.

    Mit der "Anordnung" des Vollzugs der Reststrafe gemäss Art. 38
Ziff. 4 Abs. 6 StGB ist der Rückversetzungsentscheid der zuständigen
Behörde i.S. von Art. 38 Ziff. 4 Abs. 1 StGB gemeint (E. 5b).

Sachverhalt

    A.- M. wurde zwischen 1973 und 1981 wegen verschiedener Straftaten
mehrmals verurteilt. Am 23. Oktober 1981 erteilte die Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich einen Vollzugsauftrag, welcher ein Urteil des
kantonalen Obergerichts vom 12. Oktober 1981 (4 Jahre Zuchthaus abzüglich
455 Tage Untersuchungshaft) betraf. Am 2. November 1981 folgte ein
weiterer Vollzugsauftrag, der die Umwandlung einer Busse in 13 Tage
Haft zum Gegenstand hatte und auf welchem sich der Vermerk befindet:
"im Anschluss an die anderen Strafen". Zwei weitere Vollzugsaufträge
ergingen am 20. Januar 1982; dabei ging es um Widerrufe früher gewährter
bedingter Entlassungen (Strafreste von 44 und 29 Tagen Gefängnis); erneut
ist angemerkt: "im Anschluss an die andere(n) Strafe(n)".

    Noch 1982 entwich M. aus dem Strafvollzug. Er konnte erst am
4. Juli 1986 wieder festgenommen werden. An diesem Tag ergingen zwei
neue Vollzugsaufträge. Der eine wurde von der Staatsanwaltschaft Zürich
erteilt und betraf das oben bereits erwähnte obergerichtliche Urteil
vom 12. Oktober 1981; unter der Rubrik "Bemerkungen" findet sich nur
ein Hinweis auf die Dauer der Flucht. Der zweite Vollzugsauftrag erging
seitens der Bezirksanwaltschaft Zürich; er bezieht sich auf den weiteren
Widerruf einer früheren bedingten Entlassung, wobei hier der Strafrest
298 Tage Gefängnis beträgt; das Schreiben trägt den Vermerk: "Vollzug im
Anschluss an die Obergerichtsstrafe".

    Mit Brief vom 13. August 1986 bat M. die Strafvollzugsbehörden des
Kantons Zürich, ihn darüber zu orientieren, "welche Strafen von welcher
Seite aufgrund welcher Urteile gegen mich zum Vollzug angeordnet worden
sind". Am 18. August 1986 antwortete ihm die Staatsanwaltschaft des Kantons
Zürich, er möge sich mit seinem Anliegen an die Gefängnisverwaltung wenden,
welche über "sämtliche Vollzugsaufträge" verfüge.

    Verschiedene weitere Eingaben des M. nahm die Justizdirektion des
Kantons Zürich in der Folge als Rekurs entgegen. Am 22. Januar 1987
verfügte sie, der Rekurs "gegen die Mitteilung der Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich vom 18. August 1986 bzw. die dort erwähnten
Vollzugsanordnungen" werde abgewiesen.

    M. erhebt rechtzeitig Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag,
die Verfügung der Justizdirektion vom 22. Januar 1987 sei aufzuheben
und den Strafvollzugsbehörden des Kantons Zürich sei zu untersagen, "am
Beschwerdeführer andere als die vom Obergericht des Kantons Zürich I.
Strafkammer vom 12. Oktober 1981 ausgesprochene Strafe von 4 Jahren
Zuchthaus abzüglich 455 Tage Untersuchungshaft zu vollziehen".

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Unbestritten ist der Vollzug der vom Obergericht des Kantons Zürich
am 12. Oktober 1981 ausgefällten Strafe von vier Jahren Zuchthaus. Was
die übrigen Strafen betrifft, vertritt der Beschwerdeführer die Ansicht,
auf deren Vollzug müsse verzichtet werden, da die Vollstreckungsverjährung
eingetreten sei.

    In grundsätzlicher Hinsicht prüfte die Vorinstanz die Frage, ob
die tatsächlich mittlerweile verjährten Strafen "nicht bereits vor der
Flucht des Rekurrenten im Jahre 1982 erstanden wurden, und er heute im
Vollzug von Strafen steht, die noch keineswegs verjährt sind". Es geht
mit anderen Worten um das Problem, in welcher Reihenfolge gemeinsam zu
verbüssende Strafen zu vollziehen sind.

    Die Vorinstanz stellte sich auf den Standpunkt, das Bundesrecht
enthalte diesbezüglich keine Vorschriften. Da auch keine einheitliche
Praxis der Vollzugsbehörden ersichtlich sei, müsse berücksichtigt werden,
"dass es weder das Ziel des Gesetzgebers noch der Vollzugspraxis sein
kann, beim Vollzug von Gesamtstrafen eine Reihenfolge der Teilstrafen
festzulegen, die dazu führt, dass beim Strafantritt noch vollziehbare
Teilstrafen vor ihrem Beginn verjähren". Es sei also davon auszugehen, dass
"bei einem gesamthaften Vollzug von mehreren Strafen vorerst die Strafen zu
vollziehen sind, bei denen innerhalb der Dauer der Gesamtstrafe die Gefahr
der Verjährung besteht, und erst anschliessend die Strafen, bei denen die
Vollstreckungsverjährung erst in einem späteren Zeitpunkt eintreten wird".

Erwägung 2

    2.- Zunächst ist zu untersuchen, ob sich dem Bundesrecht für
die Lösung der vorliegenden Frage etwas entnehmen lässt. Wie die
Vorinstanz richtig feststellt, enthalten weder das StGB noch die VStGB
1 einschlägige Vorschriften. Immerhin sagt Art. 2 Abs. 7 VStGB 1, dass
dann, wenn Verwahrungen nach Art. 42 StGB mit Freiheitsstrafen im Vollzug
zusammentreffen, die Strafen in den Verwahrungen untergehen. Daraus kann
aber noch nicht geschlossen werden, der Gesetzgeber habe den gemeinsamen
Vollzug mehrerer Freiheitsstrafen dahingehend regeln wollen, dass die
verschiedenen Strafen in einer Art Gesamtstrafe "untergehen" und sich
folglich das Problem der zeitlichen Reihenfolge gar nicht mehr stellen
würde.

    Etwas anderes ergibt sich nicht aus den vom Beschwerdeführer erwähnten
Bestimmungen. Er verweist zunächst auf Art. 37 Ziff. 1 StGB, wonach der
Vollzug der Zuchthaus- und Gefängnisstrafen erziehend auf den Gefangenen
einwirken soll. Es ist jedoch unerfindlich, wieso es erziehender sein soll,
wenn der Betroffene vorerst "eine langjährige Strafe absitzt, für die er
unmittelbar zuvor verurteilt worden ist, und nicht solche Strafen, die
teilweise viele Jahre zurückliegen". Für den vorliegenden Fall ist dieses
Argument im übrigen unbehelflich, da alle heute zum Vollzug anstehenden
Strafen vor mindestens fünf Jahren ausgesprochen worden sind.

    Zum zweiten verweist der Beschwerdeführer auf Art. 2 Abs. 8 VStGB 1,
der "in Analogie" herangezogen werden sollte. Nach dieser Bestimmung ist
vorerst die am dringlichsten oder zweckmässigsten erscheinende Massnahme
oder Strafe zu vollziehen, wenn Massnahmen mit Strafen im Vollzug
zusammentreffen. Diese Regelung ist für jene Fälle gedacht und sinnvoll,
in welchen Massnahmen mit Strafen im Vollzug zusammentreffen. In casu
geht es jedoch ausschliesslich um die Verbüssung von Freiheitsstrafen;
es ist nicht zu sehen, welche der Strafen zum jetzigen Zeitpunkt am
"zweckmässigsten" oder am "dringlichsten" erscheinen könnte. Abgesehen
davon erscheint die Lösung der Vorinstanz gerade unter dem Aspekt der
Dringlichkeit als vernünftig.

Erwägung 3

    3.- Enthält das Bundesrecht keine Lösung für die Frage, in welcher
Reihenfolge gemeinsam zu vollziehende Strafen zu verbüssen sind, so haben
die Kantone dieses Problem zu regeln. Der Beschwerdeführer behauptet
nicht, dass der Kanton Zürich diesbezüglich ausdrückliche Bestimmungen
erlassen hat. Insbesondere lässt sich den §§ 16 ff. des kantonalen
Straf- und Vollzugsgesetzes dazu nichts entnehmen. Dasselbe gilt für §
4 der Verordnung über die kantonale Strafanstalt Regensdorf, worin der
Vollzugsauftrag als Aufnahmevoraussetzung genannt wird.

    Grundsätzlich ist nicht zu beanstanden, wenn die Behörden von mehreren
gemeinsam zu verbüssenden Strafen vorerst diejenigen vollziehen lassen,
bei denen die Gefahr der Verjährung besteht (ebenso DÜBI, Handbuch über
den Straf- und Massnahmenvollzug, Bern 1971, S. 76 lit. e). Dieser Regelung
ist sogar der Vorzug zu geben, da unbedingt ausgesprochene Freiheitsstrafen
nach Möglichkeit auch vollzogen werden sollten.

Erwägung 4

    4.- Im vorliegenden Fall ist jedoch in den Vollzugsaufträgen von
Staats- und Bezirksanwaltschaft eine von der Ansicht der Vorinstanz
abweichende Ordnung getroffen worden, da sich verschiedentlich der Vermerk
findet: "im Anschluss an die anderen Strafen" bzw. "Vollzug im Anschluss
an die Obergerichtsstrafe". Der Beschwerdeführer wirft der Justizdirektion
deshalb eine aktenwidrige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes
vor.

    Das im Kanton Zürich verwendete Formular "Vollzugsauftrag" wird
verschiedenen Polizeistellen und der Vollzugsanstalt, nicht aber dem
Verurteilten zugestellt. Es enthält alle Angaben, die die Vollzugsanstalt
kennen muss, um den Vollzug der konkreten Freiheitsstrafe durchführen zu
können. Nebst verschiedenen Hinweisen zur Person und zum vollziehbaren
Urteil enthält es zwei Rubriken über den "Vollzugsbeginn" und das
"Vollzugsende". Im ersten Vollzugsauftrag vom 23. Oktober 1981 sowie im
ersten nach der Flucht des Beschwerdeführers ergangenen Vollzugsauftrag,
die beide das obergerichtliche Urteil vom 12. Oktober 1981 betreffen,
wurden die entsprechenden Daten berechnet und notiert. In den weiteren
Vollzugsaufträgen wurden diese Rubriken demgegenüber freigelassen, dagegen
wurde unter "Bemerkungen" festgestellt, die Strafen seien im Anschluss
an jene Strafe(n) zu vollziehen, in deren Vollzug der Verurteilte sich
zur Zeit befinde. Diese Bemerkungen legten aber nicht die chronologische
Reihenfolge der Strafen innerhalb des Vollzugs fest, sondern bildeten
nur einen Hinweis zuhanden der Vollzugsanstalt, dass der Betroffene sich
bereits im Vollzug einer anderen Freiheitsstrafe befindet. Diese Annahme
rechtfertigt sich umso eher, als - wie gesagt - der Vollzugsauftrag dem
Verurteilten gewöhnlich nicht zu Gesicht kommt. Aus diesem nur für den
internen Gebrauch gedachten Auftragsformular kann der Beschwerdeführer
deshalb nichts zu seinen Gunsten ableiten. Gesamthaft gesehen, ist die
in E. 1 dargestellte Auffassung der Vorinstanz nicht zu beanstanden.

Erwägung 5

    5.- In zwei weiteren Punkten ist die Beschwerde ebenfalls abzuweisen.
   a) ...

    b) Weiter bemängelt der Beschwerdeführer den angeordneten Vollzug
eines Strafrestes von 298 Tagen Gefängnis gemäss Widerrufsverfügung der
Justizdirektion vom 14. Januar 1982. Die bei der seinerzeitigen bedingten
Entlassung am 15. April 1976 angesetzte Probezeit betrug drei Jahre und
lief folglich im April 1979 ab. Der entsprechende Vollzugsauftrag der
Bezirksanwaltschaft Zürich datiert vom 4. Juli 1986. Der Beschwerdeführer
beruft sich auf letzteres Datum und auf Art. 38 Ziff. 4 Abs. 6 StGB; nach
dieser Bestimmung könne der Vollzug der Reststrafe nicht mehr angeordnet
werden, wenn seit dem Ablauf der Probezeit fünf Jahre verstrichen seien,
weshalb ein Vollzug der Reststrafe nach dem 15. April 1984 nicht mehr
möglich sei.

    Damit ist er nicht zu hören. Mit der "Anordnung" des
Vollzugs der Reststrafe gemäss Art. 38 Ziff. 4 Abs. 6 StGB ist der
Rückversetzungsentscheid der zuständigen Behörde i.S. von Art. 38 Ziff. 4
Abs. 1 StGB gemeint. Dieser datiert vom 14. Januar 1982 und erging mithin
vor dem vom Beschwerdeführer als massgebend erachteten 15. April 1984. Der
interne Vollzugsauftrag der Bezirksanwaltschaft an die Vollzugsanstalt
ist demgegenüber für die vorliegend zu prüfende Frage ohne Belang. Der
Beschwerdeführer verkennt, dass der Gesetzgeber in Abs. 6 nicht nur vom
"Vollzug der Reststrafe" spricht, sondern den besonderen Fall regelt,
in welchem der Vollzug der Reststrafe wegen des Zeitlaufs "nicht mehr
angeordnet werden" kann. Denselben Ausdruck verwendet das Gesetz auch in
Art. 74 StGB, wonach die Verjährung beim bedingten Strafvollzug mit dem
Tag beginnt, an dem "der Vollzug der Strafe angeordnet" wird. Auch hier
ist naturgemäss nicht der Tag gemeint, an welchem der Vollzug tatsächlich
beginnt. Dies zeigt, dass der vom Beschwerdeführer behauptete Unterschied
zwischen den Begriffen "Rückversetzung" und "Anordnung des Vollzugs"
nicht besteht.