Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IV 32



113 IV 32

10. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. Januar 1987
i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt gegen X. und Kons.
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG. Schwerer Fall.

    1. Bei Betäubungsmitteln, die auf unterschiedliche Art konsumiert
werden können und bei denen entsprechend der Applikationsart verschieden
grosse Mengen nötig sind, um die Gesundheit vieler Menschen zu gefährden,
ist von der geringsten Stoffmenge auszugehen, die jene Gefahr bewirken kann
(Präzisierung der Rechtsprechung).

    2. Die Menge von 36 g Amphetamin kann die Gesundheit vieler Menschen
in Gefahr bringen.

Auszug aus den Erwägungen:

                  Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Dem Beschwerdegegner H. wurde zur Last gelegt, er habe rund 300
g Amphetamin zwecks Weitergabe an Drittpersonen produziert. Die erste
Instanz sah darin einen schweren Fall im Sinne von Art. 19 Ziff. 2 lit. a
BetmG. Das Appellationsgericht verneinte dagegen das Vorliegen eines
schweren Falles im Sinne dieser Bestimmung, nahm aber Gewerbsmässigkeit
nach Art. 19 Ziff. 2 lit. c BetmG an.

    Gestützt auf ein Gutachten, wonach Amphetamin bei oraler Einnahme und
einer Tagesdosis von 40-80 mg nach rund 180 Tagen bzw. bei intravenöser
Applikation und einer Tagesdosis von 500 mg nach rund 42 Tagen eine
psychische Abhängigkeit bewirke, nahm das Appellationsgericht an, die
"qualifizierende Menge" liege bei der ersten Anwendungsart bei ca. 144-288
g und bei der zweiten bei rund 420 g; da die Gefährlichkeit einer Droge
aber nicht ausschliesslich von der Menge, sondern von weiteren Umständen,
wie etwa der Anwendungsart, der zur Abhängigkeit führenden Zeitspanne usw.,
abhänge und nach ständiger und allgemein verbreiteter Erfahrung das Fixen
die wirkungsvollere und deshalb weitaus gefährlichere Applikationsart
als das Rauchen, das Schnupfen oder die orale Einnahme sei, sei für die
Annahme eines qualifizierten Falles im Sinne des Art. 19 Ziff. 2 lit. a
BetmG die für die intravenöse Applikation massgebende Menge von 420 g
zugrunde zu legen. Das Appellationsgericht verwarf damit die von der
ersten Instanz unter Hinweis auf BGE 106 IV 232 vertretene Auffassung,
wonach von der Applikationsart auszugehen sei, bei der die kleinere Menge
zu Abhängigkeit führe und die aus diesem Grunde die gefährlichere sei.

Erwägung 3

    3.- Nach Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG liegt ein schwerer Fall vor, wenn
der Täter "weiss oder annehmen muss, dass sich die Widerhandlung auf eine
Menge von Betäubungsmitteln bezieht, welche die Gesundheit vieler Menschen
in Gefahr bringen kann". Mit dieser Umschreibung des die Qualifikation
begründenden Gefährdungspotentials wird nicht die konkrete Verteilung
und Verwendung des Stoffes erfasst, sondern das aus der Stoffmenge sich
ergebende abstrakte Risiko (BGE 111 IV 102 E. 2b). Von der Applikationsart,
der betroffenen Personengruppe und dergleichen abhängige Risikofaktoren
fallen daher ausser Betracht, zumal sich der Händler in aller Regel nicht
darum kümmert noch wissen kann, von wem, wie und in welcher Dosis die Droge
schliesslich konsumiert werden wird (s. BGE 107 IV 151, 106 IV 232). Bei
abhängigkeitserzeugenden Betäubungsmitteln, die auf unterschiedliche Art
konsumiert werden können und bei denen entsprechend der Applikationsart
verschieden grosse Mengen nötig sind, um die Gesundheit vieler Menschen
zu gefährden, ist daher - soll der vom Gesetz bezweckte Schutz erreicht
werden - von der geringsten Stoffmenge auszugehen, die jene Gefahr
bewirken kann. Etwas anderes wollte auch in BGE 107 IV 152 mit dem Hinweis
auf die intravenöse Applikation als die gefährlichere Konsumart nicht
gesagt werden, zumal bei Kokain, das in diesem Entscheid zur Diskussion
stand, bei jener Anwendungsart tatsächlich geringere Stoffmengen die vom
Gesetz verpönte Wirkung entfalten können als bei nasalem Genuss. Soweit
deshalb unter Zitierung dieses Entscheides in BGE 108 IV 66 E. 3 für die
Bemessung der nach Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG erheblichen Menge von
der gefährlicheren Konsumart und der bei dieser üblichen Rauschgiftdosis
ausgegangen wurde, geschah dies weiterhin für Kokain, und es kann daraus
nicht der Schluss gezogen werden, es sei auch dann auf die intravenöse
Applikation als die "gefährlichere Konsumart" abzustellen, wenn dabei -
wie dies gemäss dem vorliegenden Gutachten bei Amphetamin der Fall zu sein
scheint - für die Gefährdung der Gesundheit vieler Menschen eine grössere
Stoffmenge nötig ist als bei einer "weniger gefährlichen" Applikationsart,
wie etwa bei der oralen Einnahme. Die Art der Applikation ist entgegen
den insoweit missverständlichen Andeutungen in BGE 109 IV 144, 108 IV
66 und 107 IV 152 kein selbständiges Kriterium neben der Stoffmenge,
sondern sie ist lediglich für die Bemessung der kleinsten Menge, welche
die Gesundheit vieler Menschen gefährden kann, von Bedeutung. Bei Kokain
ist dies die intravenöse Applikation (BGE 108 IV 67 oben), bei einem
andern Betäubungsmittel kann es eine andere Anwendungsart sein.

Erwägung 4

    4.- a) Das Bundesgericht hat sich bis anhin noch nicht mit der
Frage befassen müssen, welche Menge Amphetamin im Sinne von Art. 19
Ziff. 2 lit. a BetmG die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen
kann. Anlässlich eines vom Kassationshof im Jahre 1983 mit einem
Expertenkollegium durchgeführten Kolloquiums (s. BGE 109 IV 144)
äusserten die Fachleute die Meinung, dass die Angabe von vertretbaren
Grenzwerten für Amphetamin und ähnliche Substanzen nicht möglich sei; es
wurde indessen angedeutet, dass die Daten für Stimulantien vom Wirkungstyp
des Amphetamins ungefähr jenen für Kokain entsprechen könnten. Für Kokain
aber wurden 18 g als für die Gesundheit vieler Menschen gefährliche Menge
angesehen. Zwischen diesem Wert und den im angefochtenen Urteil gestützt
auf ein Gutachten angegebenen Amphetaminmengen von 144-288 g bzw. 420
g besteht eine so erhebliche Diskrepanz, dass sich der Kassationshof
veranlasst sah, verschiedene Experten, die am Kolloquium vom Mai 1983 in
Basel teilgenommen hatten, zur Frage der Gefährlichkeit des Amphetamins
zu konsultieren. Dazu bestand unter den gegebenen Umständen auch deswegen
Grund, weil nach der deutschen Rechtsprechung, auf die der Kassationshof
in seinem Rundschreiben die angefragten Experten aufmerksam machte, 1,5
g Heroinhydrochlorid, 5 g Kokainhydrochlorid und 10 g Amphetaminbase
eine "nicht geringe Menge" im Sinne von § 29 Abs. 3 Ziff. 4 und § 30
Abs. 1 Ziff. 4 dt.BtMG darstellen (s. NStZ 1986 S. 33 mit Hinweis auf
die Ergebnisse des 6. Symposiums der toxikologischen Sachverständigen
der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamtes vom 21./22. Mai 1986
in Berlin, s. dazu NStZ 1985 S. 163 f.), und demnach zwischen Kokain und
Amphetamin ein Verhältnis von 1:2 angenommen wird.

    Die Meinungen der Fachleute, welche auf das Rundschreiben des
Kassationshofes antworteten, gehen auseinander. Mehrere Experten
betonen, dass Angaben über die im Sinne von Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG
gefährlichen Mengen bei Drogen allgemein und beim Amphetamin im besonderen
schwierig sind. Ein Fachmann hält die relevante Menge für prinzipiell
nicht bestimmbar. Nach der Auffassung einiger Experten ist aufgrund der
heutigen Kenntnisse die Annahme eines Verhältnisses von 1:2 zwischen Kokain
und Amphetamin vertretbar und kann somit die Menge von 36 g Amphetamin im
Sinne von Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG die Gesundheit vieler Menschen in
Gefahr bringen. Andere Fachleute nehmen eine kleinere oder eine grössere
(1:5) Verhältniszahl an.

    b) Unter Berücksichtigung dieser Stellungnahmen sowie der Tatsache,
dass Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG einzig die Betäubungsmittelmenge,
durch welche die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr gebracht werden
kann, zum qualifizierenden Moment erhebt, hält der Kassationshof in
Übereinstimmung mit der zitierten bundesdeutschen Rechtsprechung die
Annahme eines Verhältnisses von 1:2 zwischen Kokain und Amphetamin für
begründet. Das bedeutet, dass die Menge von 36 g Amphetamin im Sinne von
Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr
bringen kann. Die Sache ist daher in Gutheissung der eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen an
die Vorinstanz zurückzuweisen.