Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IV 118



113 IV 118

32. Urteil des Kassationshofes vom 29. Oktober 1987 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Aargau gegen Z. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 69 und 110 Ziff. 7 StGB.

    Freiheitsentziehende Ersatzmassnahmen sind analog der Untersuchungshaft
auf die zu verbüssende Freiheitsstrafe anzurechnen. Bei der Bestimmung
der anrechenbaren Dauer der Ersatzmassnahme hat der Richter den Grad der
Beschränkung der persönlichen Freiheit im Vergleich zum Freiheitsentzug
bei der Untersuchungshaft zu berücksichtigen.

Sachverhalt

    A.- Z. wurde vom Bezirksgericht Bremgarten mit Urteil vom 25.
September 1986 wegen verschiedener Delikte zu 18 Monaten Zuchthaus,
abzüglich 185 Tage Untersuchungshaft, sowie zu einer Busse von Fr. 500.--
verurteilt, teilweise als Zusatzstrafe zu einem Urteil des Bezirksgerichts
Zürich vom 3. April 1985. Ziff. 2 lit. b des Urteils lautet wie folgt:

    "Die 185 Tage Untersuchungshaft ergeben sich bis und mit dem 25.

    September

    1986. Sollte der Angeklagte auch nach diesem Datum weiterhin im
Männerheim

    Satis in Seon sich aufhalten, so fällt dieser Aufenthalt ebenfalls
unter
   die Untersuchungshaft und ist dem Angeklagten an die Freiheitsstrafe
   anzurechnen."

    B.- Auf Berufung beider Parteien bestätigte das Obergericht des
Kantons Aargau dieses Urteil am 8. Juli 1987 mit folgender Modifikation:
Dem Angeklagten wurden für die Zeit bis zum 25. September 1986 40 Tage
Untersuchungshaft angerechnet, nämlich 51 Tage Untersuchungshaft und
zusätzlich die im Männerheim Satis vom 15. Mai bis 25. September 1986
verbrachten 134 Tage zu zwei Dritteln = 89 Tage. Überdies wurden ihm von
Amtes wegen die vom 25. September 1986 bis zum Urteilstag im Männerheim
Satis verbrachten 286 Tage zu zwei Dritteln mit 191 Tagen an die Strafe
angerechnet, insgesamt somit 331 Tage Untersuchungshaft.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau erhebt eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts
aufzuheben und die Sache zur Ausfällung eines neuen Entscheides, in welchem
dem Angeklagten der Aufenthalt im Männerheim Satis auch nicht teilweise
als Untersuchungshaft angerechnet wird, an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Z. beantragt kostenfällige Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde und
stellt ein Gesuch um amtliche Verteidigung.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist nur die Frage, ob dem Beschwerdegegner, wie das
Obergericht annimmt, zwei Drittel seiner Aufenthaltsdauer im Männerheim
Satis angerechnet werden können.

    a) Das Obergericht bejaht diese Frage im wesentlichen aus folgenden
Erwägungen: Der Beschwerdegegner sei mit Verfügung des Bezirksamtes
Bremgarten vom 13. Mai auf den 15. Mai 1986 mit der Auflage aus der
Untersuchungshaft entlassen worden, dass er nach seiner Entlassung im
Männerheim Satis in Seon Aufenthalt nehme. Die Haftentlassung sei durch das
Bezirksamt zusätzlich mit folgenden, vom Beschwerdegegner unterschriftlich
akzeptierten Bedingungen verknüpft worden:

    "a) Herr Z. hat sich in jeder Beziehung strikte der Anstaltsordnung zu
   unterziehen.

    b) Im Widerhandlungsfall müsste eine Rückversetzung ins Auge gefasst
   werden.

    c) Im Falle der erneuten Delinquenz würde Herr Z. sofort und
   diskussionslos in Untersuchungshaft rückversetzt, dannzumal bis zur

    Anklage beim Gericht."

    Das Obergericht stellt fest, dass damit dem Beschwerdegegner
zur Vermeidung eines weiteren Abgleitens und nochmaliger Delinquenz
ausserordentlich einschneidende Auflagen gemacht wurden, welche
seine persönliche Freiheit stark beschnitten hätten. Es sei ihm
insbesondere verwehrt worden, sich frei zu bewegen, sich aufzuhalten
und zu wohnen, wo er wolle. Soweit derartige behördliche Verpflichtungen
freiheitsentziehenden Charakter hätten und sich für den Angeklagten in der
erzwungenen persönlichen Beschränkung wie Untersuchungshaft auswirkten,
seien sie auf die Strafe anzurechnen und zwar auch dann, wenn sie,
wie die Staatsanwaltschaft zu recht ausführe, im Grunde Ersatzmassnahmen
darstellen. Der Beschwerdegegner sei den ihm gemachten Auflagen anstandslos
nachgekommen. Zudem gehe er seit einiger Zeit einer geregelten Arbeit
nach und fahre dazu jeden Tag nach Zürich.

    Im konkreten Fall des Beschwerdegegners lasse es sich aufgrund der
starken Einschränkung seiner persönlichen Freiheit, seiner tadellosen
Haltung und des in keiner Weise missbrauchten Vertrauens rechtfertigen,
ihm zwei Drittel seines Aufenthaltes im Männerheim Satis an die Strafe
anzurechnen. Diese Lösung sei stark auf die konkreten Umstände des
vorliegenden Falles bezogen und könne nicht unbesehen verallgemeinert
werden.

    b) Die Beschwerdeführerin macht geltend, der Aufenthalt
des Beschwerdegegners im Männerheim Satis könne nicht einer
Untersuchungshaft im Sinne von Art. 110 Ziff. 7 StGB gleichgesetzt
werden. Jede Ersatzmassnahme, welche eine mildere Massnahme anstelle
der Untersuchungshaft darstelle, habe eine mehr oder weniger
intensive Einschränkung in der persönlichen Freiheit zur Folge,
jedoch nicht im gleichen Ausmass wie der Freiheitsentzug aufgrund
von Untersuchungshaft. Art. 69 StGB sehe einzig die Anrechnung von
Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe vor. Für die Anrechnung von
Ersatzmassnahmen bestehe demgegenüber keine gesetzliche Grundlage.

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 69 StGB rechnet der Richter dem Verurteilten
die Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe an, soweit der Täter die
Untersuchungshaft nicht durch sein Verhalten nach der Tat herbeigeführt
oder verlängert hat. Lautet das Urteil nur auf Busse, so kann er die Dauer
der Untersuchungshaft in angemessener Weise berücksichtigen. Gemäss
Art. 110 Ziff. 7 StGB gilt als Untersuchungshaft jede in einem
Strafverfahren verhängte Haft, Untersuchungs- und Sicherheitshaft. In der
Praxis wurde angenommen, dass nicht nur die eigentliche Untersuchungshaft
anzurechnen sei, sondern auch die Internierung in einer Heil- und
Pflegeanstalt, wenn der Freiheitsentzug in der Anstalt demjenigen im
Untersuchungsgefängnis im wesentlichen gleichkommt (BGE 85 IV 122), und die
Auslieferungshaft (BGE 97 IV 160, 102 Ib 252, 105 IV 85). Art. 14 IRSG (SR
351.1) erklärt neuerdings Art. 69 StGB anwendbar auf die Anrechnung von im
Ausland erstandener Untersuchungshaft oder von im Ausland erlittener Haft,
die durch ein Verfahren nach dem Rechtshilfegesetz veranlasst worden ist.

    b) Die prinzipielle Anrechnung von Untersuchungshaft ist nach BGE 85
IV 124 auf Gründe der Billigkeit zurückzuführen. Nach heutiger Auffassung
steht allerdings die massive Beeinträchtigung des Grundrechts der
persönlichen Freiheit, die mit dem Vollzug von Untersuchungshaft verbunden
ist, im Vordergrund. Diese Beeinträchtigung lässt sich nur rechtfertigen
im Hinblick auf die spätere Anrechnung der in der Untersuchungshaft
verbrachten Zeit auf die Strafdauer oder - im Falle eines Freispruchs -
auf Zusprechung einer Entschädigung. Entsprechend wird die in BGE 85
IV 123 vorgenommene Beschränkung der Anrechnung auf den Aufenthalt in
geschlossenen Anstalten als fragwürdig angesehen (SCHULTZ, Einführung in
den allgemeinen Teil des Strafrechts II, S. 92; REHBERG, Strafrecht II,
S. 36; PHILIPPE RUEDIN, Die Anrechnung der Untersuchungshaft nach dem
Schweizerischen Strafgesetzbuch, Diss. Zürich 1979, S. 40) und jeder aus
strafprozessualen Gründen angeordnete Freiheitsentzug als Haft im Sinne
von Art. 69 StGB betrachtet (DUBS, ZStR 76/1960, S. 185). Teilweise
wird auch die Anrechnung eines administrativen oder vormundschaftlichen
Freiheitsentzuges, wenn er aus Anlass einer Straftat während der Dauer des
Strafverfahrens verfügt wurde, befürwortet (RUEDIN, aaO, S. 44). RUEDIN
hält dafür, dass jede aus Anlass eines Strafverfahrens verfügte Entziehung
der räumlichen Bewegungsfreiheit durch Festhalten an einem Ort, sofern
dieser Entzug die Dauer von drei Stunden übersteigt, angerechnet werden
soll (aaO, S. 49). Im deutschen Recht, wo das Prinzip der Anrechnung auf
den Grundgedanken der Aufopferung, also auf die Entschädigungspflicht
des Staates für rechtmässige Eingriffe in Rechtsgüter des Einzelnen
zurückgeführt wird (HORN, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch,
Frankfurt a.M., 4. Aufl., § 51 N. 3), stellt man der Untersuchungshaft
jede andere Freiheitsentziehung gleich, die aus Anlass einer Tat, die
Gegenstand des Verfahrens bildet, erlitten wurde (§ 51 Abs. 1 dt. StGB). In
der Praxis werden deshalb die einstweilige Unterbringung, Haftmassnahmen
der Polizei, die zwangsweise Vorführung zur Untersuchung sowie die
Unterbringung in einem Internierungslager auf die Strafe angerechnet
(SCHÖNKE/SCHRÖDER/STREE, § 51 N. 5; HORN, aaO, § 51 N. 4; LACKNER, StGB,
Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, München, 22. Aufl., § 51 N. 5).

    c) Erhebliche Unterschiede im Ausmass der effektiven Beschränkung der
persönlichen Freiheit im Falle einer konkreten Ersatzmassnahme einerseits
und im Falle der Untersuchungshaft andererseits könnten bei alleinigem
Abstellen auf die Zeitdauer zu einer ungerechtfertigten Privilegierung des
von der Ersatzmassnahme Betroffenen führen. Der Richter hat deshalb bei
der Bestimmung der anrechenbaren Dauer dieser Ersatzmassnahme den Grad der
Beschränkung der persönlichen Freiheit im Vergleich zum Freiheitsentzug
bei der Untersuchungshaft mitzuberücksichtigen. Ist in dieser Hinsicht
der Vollzug der Ersatzmassnahme in der konkreten Institution dem Vollzug
normaler Untersuchungshaft ungefähr gleichzusetzen, so ist grundsätzlich
die ganze Dauer anrechenbar; wird die Ersatzmassnahme hingegen in einer
Institution vollzogen, welche die persönliche Freiheit wesentlich weniger
beschränkt, kann nur eine entsprechend gekürzte Dauer in Rechnung gestellt
werden (analog: BGE 109 IV 82 f.).

    d) Die Vorinstanz stellte für den Kassationshof verbindlich fest,
dem Beschwerdegegner seien "ausserordentlich einschneidende Auflagen
gemacht (worden), welche die persönliche Freiheit stark beschnitten",
und es sei ihm insbesondere "verwehrt (gewesen), sich frei zu bewegen,
sich aufzuhalten und zu wohnen, wo er wollte". Bei dieser Sachlage hat sie
kein Bundesrecht verletzt, wenn sie ihm zwei Drittel des Aufenthaltes im
"Satis" anrechnete; jedenfalls legt die Beschwerdeführerin nicht dar,
wieso die konkrete Dauer der Anrechnung verfehlt sein soll.

    Dem Urteil der Vorinstanz kann im übrigen auch vom Ergebnis her
zugestimmt werden. Andernfalls wäre der Erfolg einer kriminalpolitisch
sinnvollen Massnahme, wie sie vorliegend angeordnet wurde, in der Regel
in Frage gestellt, da es für den Betroffenen wohl kaum als verständlich
erscheint, wenn die Massnahme nicht mindestens teilweise auf die
ausgesprochene Freiheitsstrafe angerechnet wird.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.