Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IV 10



113 IV 10

4. Urteil des Kassationshofes vom 3. Juni 1987 i.S. Generalprokurator
des Kantons Bern gegen B. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB. Bedingter Strafvollzug.

    Eine Freiheitsentziehung von mehr als drei Monaten aufgrund einer
Massnahme nach Art. 43, 44, 91 oder 100bis StGB ist kein objektiver Grund
für die Verweigerung des bedingten Strafvollzuges.

Sachverhalt

    A.- B. wurde am 27. Oktober 1983 durch das Strafamtsgericht Bern
zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt unter Aufschub der Strafe zugunsten
einer stationären Massnahme. Zugleich wurde der vom Gerichtspräsidenten
von Niedersimmental am 13. März 1979 gewährte bedingte Strafvollzug für
eine Strafe von 50 Tagen Gefängnis widerrufen, wiederum unter Aufschub der
Strafe zugunsten einer stationären Massnahme. Am 7. Mai 1984 wurde er auf
unbestimmte Zeit in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, eine Massnahme,
die er bereits am 2. März 1983 vorzeitig angetreten hatte. Am 29. April
1985 wurde er probeweise entlassen und unter Schutzaufsicht gestellt.

    B.- Mit Urteil vom 20. Januar 1987 verurteilte das Obergericht
des Kantons Bern B. im Appellationsverfahren wegen verschiedener
Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie Führens eines PWs
ohne Führerausweis zu 10 Monaten Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug bei
einer Probezeit von 4 Jahren. Es bejahte die formellen Voraussetzungen für
die Gewährung des bedingten Strafvollzuges, da die gut 2 Jahre, die B. im
Massnahmevollzug verbracht hatte, nicht einer Strafverbüssung im Sinne
von Art. 41 StGB gleichzustellen seien. Trotz gewisser Bedenken bejahte
es auch die materiellen Voraussetzungen für die Gewährung des bedingten
Strafvollzuges, insbesondere weil sich ein unbedingter Strafvollzug für
B. in seiner jetzigen Situation verheerend auswirken würde.

    C.- Gegen dieses Urteil führt der Generalprokurator des Kantons
Bern Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid
sei aufzuheben und die Sache sei zur Neuentscheidung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab

Auszug aus den Erwägungen:

                  aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der bedingte Strafvollzug kann gemäss Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2
StGB nebst weiteren Voraussetzungen dann gewährt werden, wenn der
Verurteilte innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Tat nicht wegen
eines vorsätzlich begangenen Verbrechens oder Vergehens eine Zuchthaus-
oder eine Gefängnisstrafe von mehr als 3 Monaten verbüsst hat. Der
Beschwerdeführer ist der Meinung, dass eine Freiheitsentziehung von mehr
als 3 Monaten aufgrund einer Massnahme (Art. 42-44 sowie 100bis StGB)
einer Strafverbüssung im Sinne der zitierten Bestimmung gleichzustellen
sei, weshalb der bedingte Strafvollzug schon aus objektiven Gründen nicht
gewährt werden könne.

    a) Der Wortlaut des Gesetzes schliesst die Gewährung des bedingten
Strafvollzuges nur bei der Verbüssung einer Freiheitsstrafe von mehr als
3 Monaten aus. Dennoch ist in der Doktrin zunächst angenommen worden,
der Vollzug einer freiheitsentziehenden Massnahme sei dem Vollzug einer
Freiheitsstrafe generell (SCHULTZ, ZStrR 1973, S. 57; SCHULTZ, AT II,
3. Aufl., S. 92) oder doch bei bestimmten Massnahmen (LOGOZ/SANDOZ,
2. Aufl., Art. 41 N 6d: bei Massnahmen nach Art. 42 und 100bis; REHBERG,
II, 4. Aufl., S. 39 bei sichernden Massnahmen) gleichzustellen.

    In der Praxis wurden jedoch Bedenken an dieser Auffassung geäussert. So
hat das Militärkassationsgericht angenommen, der Aufenthalt in einer
Arbeitserziehungsanstalt gemäss Art. 100bis StGB könne nicht mit der
Verbüssung einer Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe gleichgesetzt werden (MKGE
9 Nr. 162). Im gleichen Sinne entschied das Kantonsgericht St. Gallen (SJZ
1986 S. 232). Das Obergericht des Kantons Thurgau (Rechenschaftsbericht
1984, S. 90 ff.) hat einerseits angenommen, dass der Aufenthalt in einer
Trinkerheilanstalt gemäss Art. 44 StGB dem Vollzug einer Freiheitsstrafe
gleichzustellen sei, nicht aber die Einweisung in ein Erziehungsheim gemäss
Art. 91 StGB (insoweit ebenso Obergericht Aargau, SJZ 1976, S. 297). Das
Obergericht des Kantons Bern nahm an, dass der Vollzug einer Massnahme
in einer Anstalt für Drogensüchtige dem Vollzug einer Freiheitsstrafe
gleichzustellen sei (Urteil der 2. Strafkammer vom 21. Januar 1986
i.S. B.).

    SCHULTZ hat seine ursprüngliche Meinung in der 4. Auflage aufgegeben
(S. 103). Er will in Fällen des vorangegangenen Massnahmevollzuges
den bedingten Strafvollzug nicht aus objektiven Gründen ausschliessen,
meint allerdings, in der Regel werde die günstige Prognose fehlen, weil
im Vollzug einer Massnahme eine intensivere Behandlung angeboten werden
sollte als im gewöhnlichen Strafvollzug.

    b) Vorliegendenfalls ist gemäss den unbestrittenen Ausführungen in der
Beschwerdeschrift davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner am 2. März
1983 vorzeitig eine Massnahme im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
in der psychiatrischen Klinik Münsingen angetreten hat. Bis zum 27. Juni
1983 befand er sich vollständig in der Klinik. In der Zeit vom 28. Juni
bis 3. November 1983 konnte er auswärts arbeiten, verbrachte aber die
Nacht und die Freizeit weiterhin in der Klinik. Ab anfangs November
1983 wurde er extern von der Klinik aus ärztlich und fürsorgerisch
betreut. Am 29. April 1985 wurde er probeweise aus dem Massnahmevollzug
entlassen unter Anordnung einer Schutzaufsicht auf unbestimmte Zeit. Die
Einweisung in eine psychiatrische Klinik war offenbar aufgrund einer akuten
psychotischen Krankheitsphase (Schizophrenie) indiziert. Bereits diese
konkreten Umstände des vorliegenden Falles zeigen, wie problematisch es
wäre, bei der Frage, ob die objektiven Voraussetzungen für die Gewährung
des bedingten Strafvollzuges gegeben sind, einen freiheitsentziehenden
Massnahmevollzug von über 3 Monaten in jedem Fall dem Vollzug einer
Freiheitsstrafe gleichzusetzen.
   c) Dagegen sprechen im übrigen auch die folgenden grundsätzlichen
   Erwägungen:

    Massnahmen nach Art. 43, 44, 91 und 100bis StGB haben in erster Linie
eine therapeutische Funktion. Sie unterscheiden sich deshalb im Vollzug
zumeist wesentlich von demjenigen einer Freiheitsstrafe. In der Regel
wird einem derartigen Massnahmevollzug nicht die Schock- und Warnwirkung
zukommen, worauf das Bundesgericht in BGE 110 IV 67 bei der Frage der
Gleichstellung der angerechneten Untersuchungshaft mit der verbüssten
Freiheitsstrafe entscheidendes Gewicht gelegt hat. Der Vollzug einer der
genannten Massnahmen kann somit nicht dem Vollzug einer Freiheitsstrafe
gleichgesetzt werden.

    Anders zu entscheiden wäre bei einer Verwahrung gemäss Art. 42 StGB, da
hier der Sicherungszweck im Vordergrund steht und sich der Vollzug in der
Regel vom Strafvollzug nicht erheblich unterscheiden dürfte (vgl. Art. 42
Ziff. 2 StGB sowie Art. 2 Abs. 7 VStGB 1). Fragen kann man sich einzig,
ob auch der Vollzug einer Verwahrung gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
dem einer Verwahrung gemäss Art. 42 StGB gleichzustellen wäre. Die Frage
ist zu verneinen, da eine Verwahrung nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
wenn möglich nicht in einer Strafanstalt vollzogen werden sollte, und da
überdies im Falle einer Verwahrung nach Art. 43 StGB der Vollzug einer
Freiheitsstrafe aufgeschoben wird (Art. 43 Ziff. 2 Abs. 1 StGB), während
bei der Verwahrung nach Art. 42 StGB der Strafvollzug im Verwahrungsvollzug
aufgeht. Hinzukommt, dass eine Verwahrung nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2
StGB auch dann möglich ist, wenn mangels Schuldfähigkeit keine Strafe
ausgesprochen werden kann. Eine Verwahrung nach Art. 42 StGB setzt
demgegenüber stets Schuldfähigkeit und Verurteilung zu einer Strafe voraus.

    d) Der Beschwerdeführer beruft sich noch darauf, dass für die
Strafschärfung bei Rückfall gemäss Art. 67 Abs. 2 StGB der Vollzug einer
freiheitsentziehenden Massnahme dem Vollzug einer Vorstrafe gleichgestellt
sei. Es wäre systemwidrig, die Gleichstellung nicht auch in Art. 41 Ziff. 1
Abs. 2 StGB vorzunehmen. Es liege ein Versehen des Gesetzgebers vor.

    Wie dargelegt, sprechen sachliche Gründe gegen eine
Gleichstellung. Dies spricht auch gegen ein Versehen des Gesetzgebers. Im
übrigen besteht ein qualitativer Unterschied zwischen der Gewährung oder
Verweigerung des bedingten Strafvollzuges gemäss Art. 41 StGB und der
Rückfallstrafschärfung gemäss Art. 67 StGB.