Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 II 429



113 II 429

76. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 3. November 1987
i.S. A. gegen B. (Berufung) Regeste

    Art. 394 ff. OR. Haftung des Chirurgen.

    1. Verschlimmerung einer unfallbedingten Gesichtsentstellung durch
eine Operation der plastischen Chirurgie: Ursachen und Folgen, Tat-
und Rechtsfragen (E. 2).

    2. Die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht des Arztes richten sich
nach den Umständen des Einzelfalles. Bedeutung von Erfahrungssätzen,
Berufsregeln und Gutachten (E. 3a).

    3. Umstände, unter denen eine Verletzung dieser Pflicht sowie die
Haftung des Arztes für die Folgen davon zu bejahen sind (E. 3b).

Sachverhalt

    A.- X. stürzte im September 1974, als er 28 Jahre alt war, in eine
Baugrube, wobei er sich u.a. Gesichtsverletzungen zuzog, durch die seine
Nase bleibend verunstaltet wurde. Am 6. Dezember 1974 liess er sich in
einer Zürcher Klinik von Dr. B., einem Chirurgen mit langjähriger Praxis,
in der Annahme operieren, dass dieser die Verunstaltung beseitigen
könne. Er war mit dem Ergebnis der Operation jedoch nicht zufrieden und
weigerte sich, dem Arzt das Honorar zu bezahlen. Im Mai 1980 trat er alle
Rechte gegen den Arzt an seinen Bruder A. ab.

    Am 4. Februar 1981 klagte A. gegen Dr. B. auf Zahlung von Fr. 20'000.--
Schadenersatz nebst Zins. Er verlangte ferner Fr. 5'000.-- Genugtuung.

    Gestützt auf je ein Gutachten von Dr. C. und Dr. D. wies das
Bezirksgericht Zürich die Klage am 22. April 1986 ab. Der Kläger
appellierte an das Obergericht des Kantons Zürich, das am 5. Dezember
1986 im gleichen Sinn entschied.

    B.- Der Kläger hat Berufung eingereicht mit den Anträgen, das
Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Festsetzung des
Schadens und zum Entscheid über den Genugtuungsanspruch an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht heisst die Berufung im Sinne dieser Anträge gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Das Obergericht geht davon aus, dass der Arzt eine
Krankengeschichte zu führen hat, die sein Vorgehen und den
Krankheitsverlauf wiedergibt. Es findet aber, die vom Beklagten vorgelegte
Krankengeschichte genüge diesen Mindestanforderungen nicht; daran vermöge
auch der sieben Jahre später verfasste Operationsbericht, der als blosse
Parteibehauptung zu betrachten sei, nichts zu ändern. Das Obergericht
legt sodann dar, weshalb neben dem Gutachten D. auch das Gutachten C. zu
berücksichtigen ist und welche Fotos die Nase des Patienten vor dem
Unfall sowie vor und nach der Operation wiedergeben. Diese Erwägungen
beruhen teils auf kantonalem Recht, teils auf Beweiswürdigung, können
folglich, wie der Beklagte einräumt, mit der Berufung nicht angefochten
werden. Auf die Behauptungen, dass das Obergericht offensichtlich nicht
auf die vom Kläger beigebrachten Fotos, sondern auf Expertenaussagen
abgestellt habe und dass der Operationsbericht entgegen seiner Annahme
nicht später verfasst worden sei, kommt daher nichts an.

    Um verbindliche Annahmen geht es auch bei den Feststellungen
über den Zustand der Nase vor und nach der Operation. Danach wurde
die unfallbedingte Entstellung der Nase durch den Eingriff nicht
beseitigt, sondern sogar verschlimmert. Das Bezirksgericht glaubte, eine
Verschlimmerung zwar verneinen zu können; dem angefochtenen Urteil und den
beiden Gutachten liegt aber der gegenteilige Eindruck zugrunde, der durch
die Fotos bestätigt und durch eine auffallende Asymmetrie im Bereiche der
Nasenspitze und des Naseneinganges bestimmt wird. Die Ungleichmässigkeit
ist nach den Gutachtern und dem Obergericht darauf zurückzuführen, dass
ein Flügelknorpel unzweckmässig bearbeitet und der Dreieckknorpel beim
Abraspeln des Nasenrückens einseitig abgetragen wurde. Daraus erhellt,
dass nicht nur der natürliche Kausalzusammenhang zwischen dem Eingriff
und der Verschlimmerung gegeben, sondern auch die Rechtserheblichkeit
des Zusammenhangs zu bejahen ist.

    Das Obergericht prüft sodann, ob das fehlerhafte Vorgehen des
Beklagten mangelnder Erfahrung auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie
zuzuschreiben sei. Es hält die Auffassung des Experten D., der aus einem
einzigen misslungenen Eingriff auf ungenügende Erfahrung schliessen wolle,
nicht für überzeugend; es sei vielmehr unbestritten, dass der Beklagte ein
erfahrener Chirurg mit langjähriger Praxis sei und schon viele Operationen
der plastischen Chirurgie ausgeführt habe. Es lasse sich daher nicht sagen,
der Beklagte hätte den Patienten nicht selber operieren dürfen, sondern
an einen Spezialarzt weisen müssen. Nach diesen Feststellungen scheiden
mangelnde Fachkunde oder Übung als Schadensursachen aus. Der Kläger
widerspricht dem nicht. Er schliesst daraus aber auf entsprechend höhere
Anforderungen an die Sorgfaltspflicht; wer sich an einen Spezialisten
wende, dürfe einen hohen Standard der Behandlung erwarten.

Erwägung 3

    3.- Das Obergericht verneint eine Haftung des Beklagten, weil dessen
Vorgehen, das objektiv zwar fehlerhaft gewesen sei, sich nicht als
widerrechtlich ausgeben lasse. Es stützt sich dabei vor allem auf BGE 105
II 284 E. 1, wonach der Arzt für einfache Fehlgriffe, die bis zu einem
gewissen Grad in der Natur des Berufes lägen, nicht einzustehen habe;
er hafte dagegen, wenn er sich offenkundig irre oder einen Patienten
falsch behandle, einen klaren Kunstfehler begehe oder allgemein bekannte
Grundlagen der ärztlichen Wissenschaft verkenne. Gerade auf dem Gebiet
der Chirurgie sei besondere Zurückhaltung geboten und müsse dem Arzt viel
Ermessensfreiheit eingeräumt werden. Im Schrifttum werde ebenfalls die
Auffassung vertreten, dass die Haftung des Arztes einen qualifizierten
Behandlungsfehler voraussetze, wobei nicht vom Ergebnis, sondern vom
Operationsvorgang auszugehen sei.

    a) Welche Anforderungen an die Sorgfaltspflicht des Arztes zu
stellen sind, wann dieser insbesondere als Beauftragter den Vertrag
verletzt, sind Rechtsfragen. Um solche geht es auch bei der Anwendung
von Erfahrungssätzen, die den Massstab der gehörigen Sorgfalt abgeben;
sie haben die Funktion von Normen und werden daher den Rechtssätzen
gleichgestellt (BGE 111 II 74 E. a mit Hinweisen). Das gilt selbst dann,
wenn bei ihrer Prüfung, wie hier, die Regeln eines bestimmten Berufes
mitzuberücksichtigen sind und der Richter eines Sachverständigen bedarf,
um sich über die Voraussetzungen der Haftung die notwendigen Aufschlüsse zu
verschaffen (BGE 108 II 425 E. 2b, 61 II 111). Rechtsfragen abschliessend
zu beurteilen, ist aber nicht Sache der Experten (BGE 113 II 201 E. 1a
und 111 II 75 unten); wie die Vorinstanz mit Recht annimmt, ist schon der
kantonale Richter nicht an deren Auffassung gebunden, und auf Berufung
hin prüft auch das Bundesgericht frei, ob die festgestellten Tatsachen
rechtlich zutreffend beurteilt worden sind (Art. 43 Abs. 4 und 63
Abs. 3 OG).

    Die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht, die einem Arzt zuzumuten
ist, lassen sich nicht ein für allemal festlegen; sie richten sich vielmehr
nach den Umständen des Einzelfalles, namentlich nach der Art des Eingriffs
oder der Behandlung, den damit verbundenen Risiken, dem Ermessensspielraum,
den Mitteln und der Zeit, die dem Arzt im einzelnen Fall zur Verfügung
stehen, sowie nach dessen Ausbildung und Leistungsfähigkeit. Je schwieriger
der Eingriff, je weniger der Arzt spezialisiert ist und je weniger Mittel
und Zeit ihm zur Verfügung stehen, desto näher liegt es im Fall einer
Schädigung, die Ersatzpflicht zu ermässigen oder überhaupt zu verneinen
und umgekehrt. In Notfällen und bei heiklen Diagnosen ergibt sich schon aus
der Natur des Auftrages, dass der Haftung eher enge Grenzen gesetzt sind,
es folglich nicht angeht, aus einer Behandlung oder Operation, die sich
nachträglich als unangemessen oder sogar als verfehlt erweist, leichthin
auf eine haftungsbegründende Vertragsverletzung zu schliessen. Anders
verhält es sich dagegen, wenn ein Arzt z.B. eine schwere Krankheit trotz
typischer Symptome nicht erkennt (BGE 57 II 202 E. 3), eine nicht unbedingt
notwendige Operation ungenügend vorbereitet und trotz schwerwiegender
Komplikationen während des Eingriffes keinen Spezialisten beizieht (BGE 67
II 23), oder aus Versehen ein anderes als das vorgesehene Organ entfernt
(BGE 70 II 210 E. 2c).

    Solche Kriterien liegen auch der in BGE 105 II 284 E. 1 zitierten
Rechtsprechung zugrunde, die vom Kläger nicht in Frage gestellt wird;
seine Vorbehalte beschränken sich auf Kritik der Lehre an zusätzlichen
Erwägungen dieses Entscheides. BGE 105 II 284 ff. ist in der Tat wegen
ungenügender Unterscheidung von Vertragsverletzung und Verschulden und
wegen der Folgen, die sich daraus für die Beweislastverteilung ergeben,
kritisiert oder angezweifelt worden, zumal der Entscheid darüber hinaus
den Eindruck erwecke, die Arzthaftung sei auf grobe Verstösse gegen die
Sorgfaltspflicht zu beschränken (HAUSHEER, Schweizer Beitrag in Medical
Responsibility in Western Europe, S. 750; WIEGAND, Der Arztvertrag,
insbesondere die Haftung des Arztes, in Arzt und Recht 1985, S. 96 ff.;
R. STÜRNER, Die schweizerische Arzthaftung im internationalen Vergleich,
in SJZ 80/1984 S. 121 ff.; M. KUHN, Die Entwicklung in der Haftpflicht
des Arztes, in ZSR 105/1986 II S. 483 ff.; R. RASCHEIN, Die rechtliche
Stellung des Arztes in der Schweiz, in Schweiz. Ärztezeitung 66/1985
S. 1651). Eine solche Beschränkung findet im Gesetz keine Stütze und wäre
auch mit dessen Sinn und Zweck nicht zu vereinbaren. Die Kontroverse über
die erwähnte Unterscheidung samt der Frage der Beweislast sodann ist hier,
wie der Kläger mit Recht beifügt, angesichts des klaren Beweisergebnisses
nicht von Bedeutung. Zu bemerken ist immerhin, dass eine Verletzung der
Sorgfaltspflicht durch den Beauftragten jedenfalls dann gemäss Art. 97
Abs. 1 OR zu vermuten ist, der Chirurg sich folglich zu entlasten hat,
wenn eine plastische Operation mit der Gefahr einer Verschlimmerung des
vorbestehenden Zustandes verbunden ist und der Arzt dieses Risiko in Kauf
nimmt, ohne den Patienten darauf aufmerksam zu machen.

    b) Nach dem, was in tatsächlicher Hinsicht feststeht, kann vorliegend
im Ernst nicht zweifelhaft sein, dass der Beklagte den misslungenen
Eingriff zu verantworten und für die Folgen davon aufzukommen hat. Seine
Haftung setzt keinen schweren Operationsfehler voraus, wie die Vorinstanz
anzunehmen scheint; sein Misserfolg lässt sich aber auch nicht damit
verharmlosen, dass Nasenoperationen zu den schwierigsten der plastischen
Chirurgie gehörten und die vom Experten D. festgestellten Fehler nicht
qualitativer, sondern bloss quantitativer Art seien und sich noch im Rahmen
des Vertretbaren hielten. Davon kann um so weniger die Rede sein, als nach
diesem Experten schon Abweichungen von 1 bis 2 mm deutlich sichtbar sind
und stören können und falsche Behandlungen sich erfahrungsgemäss häufig
in quantitativen oder graduellen Fehlern (z.B. in einer falschen Dosis
oder in einer übermässigen Bestrahlung) erschöpfen.

    Dass sich vorliegend nur eine Abweichung von 1 bis 2 mm ergeben habe,
wie die Vorinstanz feststellt, ist übrigens dem Gutachten D. nicht zu
entnehmen. Es handelt sich vielmehr um ein offensichtliches Versehen,
weil die Feststellung sich weder auf die Gutachten stützen noch mit den
Fotos vereinbaren lässt. Das ist auch dem Hinweis auf das Gutachten
D. entgegenzuhalten, wonach die Komplikationsrate zwischen 5 und 15%
liegen soll und das Ergebnis der Operation angeblich noch in diese Rate
fällt. Die Quote notwendiger Nachoperationen sagt nichts über die Gründe
einer Komplikation, geschweige denn darüber, ob der Beklagte durch ein
anderes Vorgehen die Verschlimmerung nicht nur hätte vermeiden können,
sondern auch hätte vermeiden sollen. Eine einseitige Würdigung des
ärztlichen Befundes ist schliesslich auch darin zu erblicken, dass das
Obergericht sich der Erklärung des Experten D. über die behauptete
Sorgfalt des Beklagten anschliesst, obschon es dessen Annahme, der
Misserfolg sei auf ungenügende Erfahrung zurückzuführen, ausdrücklich
widerspricht. Sein Vorhalt kann nur dahin verstanden werden, dass einem
erfahrenen Chirurgen eine Verschlimmerung der unfallbedingten Entstellung
nicht hätte passieren dürfen. Der Misserfolg ist folglich auch nicht mit
Operationsrisiken zu erklären, ganz abgesehen davon, dass dem angefochtenen
Urteil nichts dafür zu entnehmen ist, der Kläger sei darauf aufmerksam
gemacht worden und habe sich unbekümmert darum operieren lassen.