Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 II 374



113 II 374

65. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 24. September
1987 i.S. X. gegen X. (Berufung) Regeste

    Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber einem mündigen Kind, das noch
in der Ausbildung steht (Art. 276 und 277 ZGB).

    Die Unterhaltspflicht für ein mündiges Kind, das sich noch in
Ausbildung befindet, muss für die Eltern nach den gesamten Umständen und
damit auch in persönlicher Hinsicht zumutbar sein. Dies ist zu verneinen,
wenn zwischen den Eltern und dem Kind keine Beziehungen bestehen, weil
sich dieses schuldhaft der Erfüllung seiner familienrechtlichen Pflichten
entzieht (E. 2).

    Beharrt ein Kind auch nach Eintritt der Mündigkeit auf seiner seit der
Scheidung der Eltern geäusserten Ablehnung des nicht obhutsberechtigten
Elternteils, obwohl sich dieser ihm gegenüber korrekt verhalten hat,
so gereicht dem Kind diese unnachgiebige Haltung zum Verschulden (E. 4).

Sachverhalt

    A.- D. X. wurde im Jahre 1964 als Tochter von T. und F. X.
geboren. Bei der Scheidung der Ehe ihrer Eltern am 30. Oktober 1979
wurde sie ihrer Mutter zugesprochen, bei der sie seither lebt. Der
Vater wurde verpflichtet, an den Unterhalt der Tochter bis zu deren
vollendetem 20. Altersjahr monatliche indexierte Beiträge von Fr. 625.--
zuzüglich Kinderzulage zu bezahlen, wobei Art. 277 Abs. 2 ZGB vorbehalten
wurde. Dieser Verpflichtung kam T. X. bis zur Volljährigkeit seiner
Tochter nach.

    Die im Zeitpunkt der Scheidung ihrer Eltern fast 15jährige
D. X. erklärte ihrem Vater brieflich, dass sie sich voll auf die
Seite ihrer Mutter stelle, und brach in der Folge jeden Kontakt zu ihm
ab. Persönliche Beziehungen zwischen Vater und Tochter bestanden daher
seit der Scheidung keine mehr.

    Nach der obligatorischen Schulzeit besuchte D. X. während dreier
Jahre eine Mittelschule, die sie mit dem Diplom abschloss. Anschliessend
absolvierte sie ein viermonatiges Spitalpraktikum und bestand im Herbst
1983 die Aufnahmeprüfung der Schule für Physiotherapie. Im Frühjahr 1984
trat sie in diese Schule ein.

    B.- Da T. X. Ende 1984 seine Unterhaltsleistungen für seine Tochter
eingestellt hatte, reichte diese am 25. Juli 1985 gegen ihren Vater
Klage mit dem Begehren auf Weiterzahlung von Unterhaltsbeiträgen gemäss
Art. 277 Abs. 2 ZGB ein. Mit Urteil vom 8. Juli 1986 verpflichtete der
Gerichtspräsident den Beklagten, der Klägerin ab Januar 1985 bis und mit
April 1986 monatliche Unterhaltsbeiträge von Fr. 725.-- und von Fr. 100.--
ab Mai 1986 bis zum Ende der Ausbildung als Physiotherapeutin zu bezahlen.

    Der Beklagte focht dieses Urteil mit einer Appellation beim Obergericht
an, die am 29. Januar 1987 abgewiesen wurde.

    C.- Mit Berufung an das Bundesgericht beantragt der Beklagte, das
Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Klage vollumfänglich
abzuweisen, eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht heisst die Berufung gut, hebt das angefochtene
Urteil auf und weist die Klage ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 277 Abs. 2 ZGB haben die Eltern auch für den Unterhalt
eines mündigen Kindes bis zu dem Zeitpunkt, in welchem ordentlicherweise
ein Abschluss seiner Ausbildung zu erwarten ist, aufzukommen, soweit
ihnen dies nach den gesamten Umständen zugemutet werden darf. Mit der
Voraussetzung der Zumutbarkeit wird der Ausnahmecharakter der elterlichen
Unterhaltspflicht über die Volljährigkeit des Kindes hinaus betont. Nach
dem Willen des Gesetzgebers sowie der Rechtsprechung und der Lehre werden
damit nicht nur die wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern, sondern auch
die persönlichen Beziehungen zwischen diesen und ihrem Kind angesprochen
(Amtl.Bull. SR 1975 S. 125; BGE 111 II 416; HEGNAUER, N. 73 zu Art. 272
aZGB; HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts, 2. Aufl., S. 115; GROB, Die
familienrechtlichen Unterhalts- und Unterstützungsansprüche der Studenten,
Diss. Bern 1975, S. 55; REUSSER, Unterhaltspflicht, Unterstützungspflicht,
Kindesvermögen, in: Berner Tage für die juristische Praxis 1977, Das neue
Kindesrecht, S. 65).

    Indem die Unterhaltspflicht für die Eltern auch in persönlicher
Hinsicht zumutbar sein muss, wird vermieden, dass sich diese einer blossen
Zahlelternschaft ausgesetzt sehen. Fehlen die persönlichen Beziehungen
zwischen den um Unterhalt angegangenen Eltern und dem unterhaltsbedürftigen
Kind, können sich jene ihrer gesetzlichen Unterhaltspflicht allerdings
nur entziehen, wenn das erwachsene Kind schuldhaft seinen Pflichten der
Familie gegenüber nicht nachkommt (GROB, aaO, S. 39 und 55), so wenn es
ohne Grund aus eigenem Willen die persönlichen Beziehungen zu den Eltern
abbricht bzw. sich grundlos dem persönlichen Verkehr mit ihnen entzieht,
sie in schwerwiegender Weise beschimpft oder ihnen in anderer gravierender
Weise zuwiderlebt. Immer aber muss das Kind die Verantwortung dafür tragen,
dass das Eltern-Kind-Verhältnis erheblich gestört oder gar zerstört ist,
und diese Verantwortung muss ihm subjektiv zum Vorwurf gereichen. Es
ist zu beachten, dass im familiären Zusammenleben eine Vielzahl von -
gerade auch emotionalen - Beweggründen und Umständen zusammenwirken und
für die gegenseitigen Beziehungen der Familienmitglieder ausschlaggebend
sind. An die freie Entscheidung eines Kindes über sein persönliches
Verhalten dem einen oder andern Elternteil gegenüber kann daher kein
allgemeiner Massstab angelegt werden. Ob sich ein Kind schuldhaft und
in schwerwiegender Weise seinen familienrechtlichen Pflichten entzieht,
kann nicht abstrakt, sondern muss im Blick auf die konkrete Situation
und in Beachtung sämtlicher Umstände beurteilt werden.

Erwägung 3

    3.- a) Soweit in der Berufungsschrift - wie übrigens auch in der
Berufungsantwort - neue tatsächliche Behauptungen aufgestellt werden,
d.h. solche, die im angefochtenen Urteil nicht enthalten sind, kann
auf diese Vorbringen nicht eingetreten werden. Der Beklagte macht weder
ein offensichtliches Versehen noch die Verletzung bundesrechtlicher
Beweisvorschriften geltend, was im Berufungsverfahren gerügt werden
könnte. Auch hat er die vorinstanzliche Beweiswürdigung nicht mit einer
Willkürbeschwerde angefochten.

    b) Der Beklagte bestreitet mit Recht nicht mehr, dass sich seine
Tochter in einer Ausbildung befindet, die als Erstausbildung im Sinne
der Rechtsprechung zu Art. 277 Abs. 2 ZGB betrachtet werden muss und die
noch nicht abgeschlossen ist. Er kritisiert das angefochtene Urteil auch
nicht unter dem Gesichtspunkt der finanziellen Zumutbarkeit. Hingegen
vertritt er die Auffassung, es bestehe zwischen ihm und seiner Tochter
ein schwer gestörtes Verhältnis, das der Klägerin zum Verschulden
angelastet werden müsse. Die Vorinstanz nehme in unzulässiger Weise
an, dass die Klägerin nach wie vor unter einem Scheidungsschock leide,
der ihr ganzes verpöntes Verhalten gegenüber dem Beklagten rechtfertige
und sie von jeder Schuld befreie. Wenn seine Tochter ihm seine Rechte
als Vater vorenthalte und ihn lediglich noch als "Zahlvater" ausnütze,
dann habe sie schuldhafterweise die ihr obliegenden familienrechtlichen
Pflichten verletzt. Die Vorinstanz mache es sich deshalb zu einfach,
wenn sie das Verhalten der Klägerin, das jeglichen Beistand, Rücksicht
und Anstand dem Beklagten gegenüber vermissen lasse, kurzum mit einem
Scheidungsschock rechtfertige. So habe die Tochter dem Vater seit der
Scheidung die Ausübung des Besuchs- und Ferienrechts verunmöglicht und
seine sämtlichen Briefe und Pakete ungeöffnet refüsiert. Das Erlebnis der
Scheidung der Eltern könne nicht von vornherein für einen verwerflichen,
freien Willensentschluss verantwortlich gemacht werden. Es sei unzulässig,
wenn die Vorinstanz den Grund für das Zerwürfnis allein im Verhalten
der Eltern und vorweg in der Ehescheidung suche, der Tochter jedoch jede
Verantwortung für ihr eigenes Verhalten absprechen wolle. Auf diese Weise
könnte jedes Kind in einer Scheidungssituation von der Verantwortung für
den eigenen Willen befreit werden.

Erwägung 4

    4.- Nach den verbindlichen Feststellungen des Obergerichts ist davon
auszugehen, dass das Verhältnis zwischen der Klägerin und dem Beklagten
tatsächlich in schwerer Weise gestört ist. Die äussere Ursache dieses
tiefen Zerwürfnisses zwischen Vater und Tochter erblickt die Vorinstanz in
der im Jahre 1977 erfolgten Trennung und der im Jahre 1979 eingetretenen
Scheidung der Eltern der Klägerin. Aus Gründen des Selbstschutzes
habe die Klägerin in der Folge jeden Kontakt zum Vater abgebrochen, um
das Verhältnis zur Mutter, bei der sie sich aufhielt, nicht zerstören
zu müssen, und um nicht vollends aus dem seelischen Gleichgewicht zu
fallen. Dieses Verhalten ist der Klägerin nach Auffassung des Obergerichts
nicht als Verschulden anzulasten. Dasselbe gelte für die Tatsache, dass
sie bis heute an ihrem damals gefassten Entschluss festgehalten habe. In
Anlehnung an die Scheidung müsse davon gesprochen werden, dass die Ursache
des Zerwürfnisses in "objektiven Zerrüttungsfaktoren", nämlich in der
ungünstig verlaufenen Ehegeschichte der Eltern, zu suchen sei.

    Dem Beklagten ist beizupflichten, dass es die Vorinstanz nicht hätte
dabei bewenden lassen dürfen, das ihm gegenüber unveränderte heutige
Verhalten der Klägerin mit dem vor Jahren erlittenen Scheidungsschock zu
erklären und nach wie vor zu rechtfertigen. Zwar kann es als einfühlbar
erscheinen, dass die Klägerin im Zeitpunkt der Scheidung und den Jahren
unmittelbar danach den Kontakt zum Vater abgebrochen hat. Mit dieser
starren, aber konsequenten Haltung ist sie der für viele Scheidungskinder
bestehenden Gefahr entgangen, zwischen den Erwartungen ihrer geschiedenen
Eltern aufgerieben und in Loyalitätskonflikte gestürzt zu werden. Der
Widerstand des in der Pubertät stehenden Mädchens gegen den persönlichen
Verkehr mit dem nicht obhutsberechtigten Elternteil mag daher im damaligen
Zeitpunkt allenfalls einem Schuldvorwurf entgehen. Aber auch im Falle
eines Verschuldens wäre ihr Anspruch auf Unterhaltsleistungen aufgrund
von Art. 277 Abs. 1 ZGB ungefährdet geblieben.

    Anders liegen die Dinge indessen beim Eintritt der Mündigkeit der
Klägerin. Auf diesen Zeitpunkt hin hat sich die Rechtslage insofern
verändert, als der Gesetzgeber dem mündigen Kind, das sich noch in
Ausbildung befindet, nicht mehr einen unbedingten Anspruch auf Unterhalt
durch die Eltern gewährt, sondern diese nach Art. 277 Abs. 2 ZGB hiezu
nur noch verpflichtet, wenn ihnen Unterhaltszahlungen eben nach den
gesamten Umständen zugemutet werden dürfen. Wie in Erwägung 2 bereits
dargelegt wurde, fällt unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit nicht nur
das Verhalten der Eltern, sondern auch dasjenige des mündigen Kindes in
Betracht. Es stellt sich somit die Frage, ob der Klägerin das Beharren
auf ihrer ablehnenden Haltung dem Beklagten gegenüber nach Erreichen der
Volljährigkeit zum Vorwurf zu machen ist.

    Diese Frage ist zu bejahen. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin
seit dem Jahre 1979 dem Beklagten den Kontakt verweigert, obwohl
diese Ablehnung des Vaters jedenfalls mit dem Zeitablauf immer weniger
gerechtfertigt ist. Selbst wenn der Vater die Zerrüttung der Ehe und die
Auflösung der Familie verschuldet haben sollte, was die Vorinstanz nicht
eigens festgestellt hat, so könnte mit dem Zeitablauf erwartet werden,
dass die bisherige Ablehnung wenigstens mildere Formen annimmt. Auch
kann die Tochter heute nach Erreichen der Volljährigkeit nicht mehr
geltend machen, die Kontaktaufnahme mit dem Vater würde für sie zu einem
Loyalitätskonflikt ihrer Mutter gegenüber führen. Ohne auch nur einen
Versuch zu unternehmen, mit dem Beklagten wieder in eine einigermassen
erträgliche Beziehung zu treten, hat sich die Klägerin nach Eintritt der
Mündigkeit darauf beschränkt, einen Anwalt damit zu beauftragen, bei ihrem
Vater die verlangten Unterhaltszahlungen einzufordern. Diese Haltung muss
ihr im heutigen Zeitpunkt als starrsinnig angelastet werden. Auf diese
Weise soll der Beklagte tatsächlich zum reinen "Zahlvater" herabgewürdigt
werden, was dem Willen des Gesetzgebers widerspricht. Soweit die Klägerin
für ihre auf einem freien Willensentschluss beruhende ablehnende Haltung
Respekt verlangt, verhält sie sich auf jeden Fall widersprüchlich, wenn
sie dann von dem von ihr vollständig abgelehnten Vater erwartet, dass er
über ihr Mündigkeitsalter hinaus noch ihre Ausbildung mitfinanziere. Dies
muss für den Beklagten unter den gegebenen Umständen als unzumutbar im
Sinne von Art. 277 Abs. 2 ZGB bezeichnet werden.

    Das Obergericht beruft sich auch auf BGE 111 II 413 ff., um den
Standpunkt der Klägerin zu schützen. Es weist darauf hin, dass die der
Klägerin gemachten Vorwürfe erheblich geringer seien als diejenigen,
welche in jenem Fall an die Adresse der Tochter erhoben wurden. Während die
Klägerin lediglich und ausschliesslich ein passives Verhalten gegenüber
ihrem Vater an den Tag gelegt habe, lasse sich dem bundesgerichtlichen
Urteil ein aktives Tätigwerden der Tochter, die sich gar zu Tätlichkeiten,
Beleidigungen und Provokationen ihren Eltern gegenüber habe hinreissen
lassen, entnehmen. Damit hat aber die Vorinstanz den Sachverhalt, welcher
BGE 111 II 413 ff. zugrunde liegt, einseitig wiedergegeben. Sie hat
ausser acht gelassen, dass in jenem Fall auch den Eltern Vorhaltungen zu
machen waren, weil sie den von der Tochter zu Recht beanspruchten Freiraum
missachteten und deren Entwicklung zur Eigenverantwortung behinderten. Im
vorliegenden Fall stellt sich die Ausgangslage hingegen anders dar. Dem
Beklagten können in diesem Zusammenhang keine andern Vorwürfe gemacht
werden als der unglückliche Verlauf der Ehe und dass er die Familie
verlassen hat. Seiner Tochter gegenüber hat er sich seit der Scheidung
korrekt verhalten. Insbesondere hat er die Klägerin durch seine Drohung,
keine weiteren Unterhaltsleistungen mehr zu erbringen, im Unterschied zu
dem in BGE 111 II 413 beurteilten Fall nicht zu einem Verhalten zwingen
wollen, das ihr nicht zuzumuten ist. Die Klägerin kann daher entgegen
der Meinung des Obergerichts aus BGE 111 II 413 nichts zu ihren Gunsten
ableiten. Es hat somit dabei zu bleiben, dass die Ursache für das schwere
Zerwürfnis zwischen Vater und Tochter im heutigen Zeitpunkt allein im
schuldhaft unnachgiebigen Verhalten der Klägerin zu erblicken ist. Das
Obergericht hat demnach Bundesrecht verletzt, wenn es den Beklagten
zur Leistung von Unterhaltsbeiträgen an die Klägerin, auch nachdem sie
die Mündigkeit erreicht hat, verurteilt hat. Die Berufung ist folglich
gutzuheissen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.