Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 II 353



113 II 353

2. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 16. Juni 1987 i.S. H.
gegen Zürich Versicherungs-Gesellschaft (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Motorfahrzeughaftpflicht: Gerichtsstand für Zivilklagen.

    1. Art. 84 SVG. Diese Bestimmung will für alle haftpflichtrechtlichen
Ansprüche aus einem Unfall einen einheitlichen Gerichtsstand schaffen;
ein solcher kann auch durch Vereinbarung aller Geschädigten, die noch
nicht abgefunden sind, begründet werden (E. 2).

    2. Offengelassen insbesondere, ob der ordentliche Gerichtsstand des
Unfallortes einem subsidiären stets vorgeht, wenn ein Geschädigter sich
dafür entscheidet (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 26. November 1983 stiess auf einer Strassenverzweigung in
Wettingen (AG) der Personenwagen des H. mit dem Wagen des A. zusammen,
wobei beide Fahrzeuge beschädigt und einige Insassen leicht verletzt
wurden. A. war bei der Zürich Versicherungs-Gesellschaft, H. bei der
Winterthur-Unfall für die Halterhaftpflicht versichert. Beide Fahrer wurden
von der Kantonspolizei Aargau wegen Verletzung von Verkehrsvorschriften
verzeigt.

    Am 23. Mai 1985 klagte H. beim Bezirksgericht Zürich gegen die Zürich
Versicherungs-Gesellschaft auf Zahlung von Fr. 3'000.-- nebst Zins. Er
verlangte damit Ersatz für den an seinem Wagen entstandenen Schaden. Die
Beklagte bestritt die örtliche Zuständigkeit des Gerichts.

    Mit Entscheid vom 9. Dezember 1986 wies der Einzelrichter in
Zivilsachen des Bezirksgerichts Zürich die Klage von der Hand. Er hielt
dem Kläger entgegen, dass er gemäss Art. 84 SVG nur im Einverständnis
mit dem am Unfall beteiligten A., der vor Bezirksgericht Baden gegen
die Winterthur-Unfall Klage erhoben habe und noch nicht abgefunden sei,
an einem andern als dem Unfallort hätte klagen können.

    B.- H. führt Nichtigkeitsbeschwerde gemäss Art. 68 ff. OG mit den
Anträgen, den Entscheid des Einzelrichters wegen Verletzung von Art. 84 SVG
aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung an den Einzelrichter
zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 84 SVG sind Zivilklagen aus Motorfahrzeug- und
Fahrradunfällen beim Richter des Unfallortes anzubringen (Satz 1). Wenn
alle Geschädigten, die noch nicht abgefunden sind, zustimmen, kann
die Klage am Wohnsitz eines Haftpflichtigen oder, wenn sie gegen den
Versicherer gerichtet ist, an dessen Sitz angebracht werden (Satz 2).

    Vorliegend ist streitig, wer von der gesetzlichen Wendung "alle
Geschädigten, die noch nicht abgefunden sind", erfasst wird. Einzelrichter
und Beschwerdegegnerin sind der Auffassung, Art. 84 SVG wolle für alle
haftpflichtrechtlichen Ansprüche aus einem Unfall einen einheitlichen
Gerichtsstand schaffen. Dieser Grundsatz sei auch bei den subsidiären
Gerichtsständen gemäss Satz 2 der Bestimmung zu beachten, hätte hier
somit erfordert, dass A. mit einem solchen Gerichtsstand einverstanden
sei; dafür liege aber nichts vor. Der Beschwerdeführer ist dagegen der
Meinung, dass es sich bei diesem Erfordernis nur um die Zustimmung von
Geschädigten handle, die gegenüber einem Unfallbeteiligten oder den für ihn
haftenden Dritten (Halter, Versicherer) auch als solche auftreten und vom
Belangten Ersatz verlangen könnten. Wenn bei einem Unfall zwei Fahrer sich
gegenseitig schädigten, gebe es keine Mehrheit von Geschädigten, sondern
je einen Haftpflichtigen und einen Geschädigten; auf die Zustimmung eines
Haftpflichtigen komme aber nichts an.

    a) Das Gesetz ist in erster Linie aus sich selbst, d.h. nach
seinem Wortlaut, Sinn und Zweck sowie nach den ihm zugrunde liegenden
Wertungen auszulegen. Bei unklaren oder unvollständigen Bestimmungen, die
verschiedene, sich widersprechende Auslegungen zulassen, liegt es nahe,
die Gesetzesmaterialien beizuziehen, um den Sinn einer Norm zu erkennen
und damit falsche Auslegungen zu vermeiden. Dies gilt insbesondere,
wenn der Entstehungsgeschichte eines neuen Gesetzes zu entnehmen ist,
warum eine Bestimmung bisher in der Rechtsanwendung nicht zu befriedigen
vermochte und der Gesetzgeber sie geändert wissen wollte (BGE 105 Ib 53
E. 3 und 100 II 57 E. 2 mit Hinweisen).

    Nach Art. 45 MFG (BS 7 S. 595 ff.) konnte die Klage aus einem
Verkehrsunfall gegen den Haftpflichtigen beim Gericht seines Wohnsitzes
oder des Orts, wo sich der Unfall ereignet hatte, angebracht werden. Die
Möglichkeit, zwischen zwei Gerichtsständen nach Belieben zu wählen,
wurde als nachteilig empfunden, da sie mehrere Prozesse vor verschiedenen
Gerichten über den gleichen Unfall zuliess und damit die Gefahr sich
widersprechender Urteile in sich barg. Deswegen wurde in der Lehre denn
auch für alle haftpflichtbezogenen Klagen aus einem Unfall ein einziger
Gerichtsstand oder eine Vereinbarung aller potentieller Kläger befürwortet
(STREBEL, N 1 und 27 ff. zu Art. 45 MFG; STREBEL in Schweiz. Zeitschrift
für Sozialversicherungsrecht 5/1959 S. 110; OFTINGER, Schweizerisches
Haftpflichtrecht, 1. Aufl. Bd. II S. 967/68).

    Bereits aus der Botschaft des Bundesrates vom 24. Juni 1955 zum
Gesetzesentwurf (BBl 1955 II S. 1 ff.) erhellt, dass mit der Beschränkung
auf den Unfallort nach der neuen Bestimmung die Nachteile beseitigt
werden sollten, die sich aus der bisherigen Möglichkeit ergaben, über den
gleichen Unfall an verschiedenen Orten Prozesse zu führen (S. 59). Die
Bestimmung des Entwurfes (Art. 78) wurde von den eidgenössischen Räten
wörtlich übernommen. Im Nationalrat wurde sie nur beiläufig erwähnt
(Sten.Bull. NR 1957 S. 259/60), im Ständerat dagegen als "starke Abweichung
vom bisherigen Recht" hervorgehoben und mit der Notwendigkeit einer
zweckmässigen Vereinfachung begründet (Sten.Bull. StR 1958 S. 129). Mit dem
einheitlichen Gerichtsstand des Unfallortes soll demnach erreicht werden,
möglichst alle zivilrechtlichen Streitigkeiten, die ihren direkten Grund
im Unfallgeschehen haben und nach haftpflichtrechtlichen Bestimmungen
zu beurteilen sind, in einem Verfahren zu erfassen (BGE 109 II 75 mit
Zitaten). Der Halter des Fahrzeuges und sein Versicherer sind deshalb
in der Regel an diesem Gerichtsstand zu belangen; das gilt auch für den
Lenker, wenn er nicht mit dem Halter identisch ist (BGE 94 II 135/36).

    b) Eine andere Frage ist, wie es sich mit dem Sinn und Zweck der
subsidiären Gerichtsstände gemäss Art. 84 Satz 2 SVG verhält. Dazu
ist vorweg festzuhalten, dass es sich um Ausnahmen von der in Satz
1 enthaltenen Regel handelt. Dies ergibt sich schon daraus, dass vom
ordentlichen Gerichtsstand des Unfallortes nur abgewichen werden darf,
wenn alle Geschädigten, die noch nicht abgefunden sind, sich auf einen
subsidiären Gerichtsstand einigen können. Hieraus erhellt weiter,
dass die Einheit des Gerichtsstandes, dem Grundgedanken der Neuerung
entsprechend, auch diesfalls gewährleistet ist. Das leuchtet ein, da
es nicht der Sinn der Gesetzesänderung sein kann, für alle mit einem
Unfall zusammenhängenden Klagen einen einzigen Gerichtsstand zu schaffen,
diesen Zweck aber wieder selber zu vereiteln (BUSSY/RUSCONI, N 2.6 zu
Art. 84 SVG). Die Einheit soll nach der Botschaft vielmehr auch dann
gelten, wenn mehrere Schädiger an einem Unfall beteiligt sind (BBl 1955
II 59). Dafür spricht ferner das im Ständerat erwähnte Beispiel zweier
Zürcher Automobilisten, die bei der "Zürich" oder bei der "Winterthur"
versichert sind, über einen Zusammenstoss im Tessin aber lieber im
Kanton Zürich prozessieren möchten (Sten.Bull. StR 1958 S. 129). Von
diesem Beispiel zu einem subsidiären Gerichtsstand ist auch bei OFTINGER
(3. Aufl. Bd. II/2 S. 692) die Rede. Entgegen BUSSY (SJK 921 Rz. 21 und
30) lässt sich deshalb nicht sagen, dass ein Geschädigter gemäss Art. 84
Satz 2 SVG selbst dann nicht gehalten sei, sich der Wahl eines subsidiären
Gerichtsstandes anzuschliessen, wenn er ihr ausdrücklich zugestimmt hat.

    Der Grundsatz der Einheit kann bei der Wahl eines subsidiären
Gerichtsstandes freilich dazu führen, dass ein Haftpflichtiger sich
auch am Wohnsitz eines andern belangen lassen muss. Das versteht sich
namentlich dann nicht von selbst, wenn ein Geschädigter, dessen Zustimmung
erforderlich ist, gleichzeitig Haftpflichtiger ist (BUSSY/RUSCONI, N 2.2 zu
Art. 84; BUSSY, SJK 921 Rz. 16 und 22). Ein zufälliger Gerichtsstand kann
sich diesfalls auch für Versicherer ergeben, die nicht als Geschädigte
im Sinne von Art. 84 Satz 2 SVG anzusehen sind. Diese Folgen sind dem
Gesetzgeber indes nicht entgangen, da gegen die Neuerung unter Hinweis auf
Art. 59 BV schon bei der Vorbereitung des Gesetzes verfassungsrechtliche
Bedenken erhoben worden sind. Der Bundesrat hielt die Bedenken für
unbegründet, weil diese Bestimmung, wie seit jeher anerkannt werde,
ausschliesslich den Zweck verfolge, Konflikte auszuschliessen, die aus dem
Nebeneinanderbestehen verschiedener kantonaler Gerichtsstandsordnungen
entstehen könnten; wenn der Bundesgesetzgeber auf einem von ihm zu
ordnenden Gebiet die Zuständigkeit der Gerichte einheitlich regle, so
dass kein interkantonaler Konflikt über den Gerichtsstand aufkommen könne,
verstosse er nicht gegen Art. 59 BV, selbst wenn dabei die Zuständigkeit
des Wohnsitzrichters zugunsten eines anderen Gerichtsstandes aufgehoben
werde (BBl 1955 II 59). Durch die wörtliche Übernahme der Bestimmung
haben die Räte sich dieser Auffassung angeschlossen.

    Worin die Bedenken genau bestanden, ist den Gesetzesmaterialien nicht
zu entnehmen, kann vorliegend jedoch dahingestellt bleiben. Zu bemerken
ist immerhin, dass der Versicherer aus dem Wahlrecht der Geschädigten so
oder anders nichts zu seinen Gunsten ableiten kann; da er den Schaden
eines Haftpflichtigen zu decken hat, muss er sich auch dessen Wohnsitz
als Gerichtsstand gefallen lassen (GIGER, N 2 zu Art. 84 SVG). Zu
beachten ist ferner, dass Art. 84 SVG keinen Geschädigten verpflichtet,
einem subsidiären Gerichtsstand zuzustimmen. Er kann sich mit den
anderen Geschädigten, die noch nicht abgefunden sind, auf einen solchen
Gerichtsstand einigen; kommt eine Vereinbarung zustande, muss er sich nach
Treu und Glauben aber bei seiner Zustimmung behaften lassen, sich folglich
an den gleichen Gerichtsstand halten, gleichviel ob er nur Geschädigter
oder auch Haftpflichtiger ist. OFTINGER (3. Aufl. Bd. II/2 S. 692) spricht
bei den subsidiären Gerichtsständen denn auch von solchen, "die kraft
Vereinbarung vorgesehen werden können (Satz 2)". Andernfalls ergäbe sich
gerade im wohl häufigsten Fall, wo bei einem Zusammenstoss beide Fahrzeuge
beschädigt werden und jeder Fahrer den andern dafür verantwortlich machen
will, stets die Möglichkeit von zwei verschiedenen Gerichtsständen, was
dem Grundgedanken der Neuerung aber zuwiderliefe. Wer als tatsächlich
oder vermeintlich Geschädigter unbekümmert um die Zustimmung anderer
Geschädigter an einem subsidiären Gerichtsstand klagt, tut dies daher
auf eigenes Risiko.

    c) Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass A. gegen die
Haftpflichtversicherung des Beschwerdeführers in Baden und damit am
ordentlichen Gerichtsstand des Unfallortes auf Schadenersatz geklagt, der
Beschwerdeführer sich dagegen ohne Rücksicht darauf für den subsidiären
Gerichtsstand am Sitz der Versicherung entschieden hat, die für seinen
Schaden aufzukommen hätte. Was der Beschwerdeführer mit dem Einwand, dass
es keine Mehrheit von Geschädigten gebe, wenn wie hier zwei Fahrer einander
gegenseitig schädigten, zur Verteidigung seiner Rechtsauffassung vorbringt,
ist daher gegenstandslos. Sein Vorbehalt für Geschädigte, die zugleich als
Haftpflichtige anzusehen seien, könnte höchstens dann von Bedeutung sein,
wenn der Gerichtsstand am Wohnsitz eines Haftpflichtigen streitig wäre,
ein Geschädigter dem andern also diesen Gerichtsstand aufzuzwingen suchte.

    Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Streitig ist bloss, ob
der Beschwerdeführer unbekümmert um den am ordentlichen Gerichtsstand
hängigen Prozess am Sitz der Versicherung klagen durfte. Diese Frage
durfte der Einzelrichter nach dem Gesagten verneinen, ohne Bundesrecht
zu verletzen. Dass die Beschwerdegegnerin die örtliche Zuständigkeit
nicht sogleich bestritten hat, hilft dem Beschwerdeführer nicht;
ob dies noch in der Hauptverhandlung zulässig war, ist eine Frage
des kantonalen Prozessrechts, dessen Anwendung das Bundesgericht auf
Nichtigkeitsbeschwerde hin nicht zu überprüfen hat.

Erwägung 3

    3.- Bei diesem Ergebnis braucht nicht entschieden zu werden, ob der
ordentliche Gerichtsstand (Art. 84 Satz 1 SVG) die Wahl eines subsidiären
nach Satz 2 überhaupt ausschliesst oder jedenfalls einem davon stets
vorgeht, wenn aus dem Unfall bereits Klage am Unfallort erhoben worden
ist. Offenbleiben kann ferner, ob ein subsidiärer Gerichtsstand auch durch
Einlassung eines Haftpflichtigen begründet werden kann und wie es sich
damit insbesondere verhält, wenn mehrere Haftpflichtige mit verschiedenen
Wohn- oder Geschäftssitzen in Frage kommen.