Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IB 420



113 Ib 420

64. Auszug aus dem Beschluss der I. Zivilabteilung vom 8. Dezember
1987 i.S. X. gegen Kanton Zürich (Direktprozess) Regeste

    Staatshaftung für spitalärztliche Tätigkeit. Haftungsgesetz des
Kantons Zürich vom 14. September 1969 (HG).

    Schadenersatzpflicht; Kausalhaftung (§ 6 Abs. 1 HG). Abgrenzung zur
Haftung des Arztes aus Vertrag und aus Art. 41 OR (E. 1).

    Widerrechtlichkeit. Bejahung der Widerrechtlichkeit unabhängig von
einem Verstoss gegen die Regeln der ärztlichen Kunst, wenn die körperliche
Integrität verletzt worden ist. Unterschied zu den Fällen, bei denen nur
der Heilerfolg der ärztlichen Behandlung ausgeblieben ist (E. 2).

    Kausalzusammenhang. Anforderungen an den Beweis des natürlichen
Kausalzusammenhangs (E. 3).

    Einwilligung des Patienten als Rechtfertigungsgrund (§ 7
HG). Beweislast. Umschreibung der Risiken, die von der Einwilligung
erfasst werden können (E. 4). Operationsrisiko und ärztliche
Aufklärungspflicht im konkreten Fall (E. 5 und 6). Rechtfertigungsbeweis
(E. 7).

Sachverhalt

    A.- X., geb. 1929, dipl. Ingenieur, wohnhaft in Neapel, kam am
16. November 1982 wie schon in den beiden Vorjahren zu Professor Dr. med.
Y., dem Direktor der Medizinischen Klinik des Universitätsspitals
Zürich, um sich untersuchen zu lassen. Professor Y. empfahl u. a. in der
Sprechstunde eine endoskopische Untersuchung des oberen Verdauungstrakts,
welche am 17. November von Dr. med. Z., dem Leiter der Abteilung Endoskopie
der Klinik, durchgeführt wurde (sog. diagnostische Endoskopie). Auf
Anraten von Dr. Z. und Professor Y. wurde die Entfernung eines kleinen
Polypen im Zwölffingerdarm in Aussicht genommen und am 18. November von
Dr. Z. ambulant vorgenommen (sog. therapeutische Endoskopie). Dabei kam
es zu Komplikationen mit inneren Blutungen; mehrere Operationen wurden
nötig, und der Patient lag 23 Tage, bis 10. Dezember 1982, bewusstlos in
der Intensivstation des Universitätsspitals. Am 7. Januar 1983 konnte
er das Spital verlassen.

    Am 9. Dezember 1983 klagte X. gegen den Kanton Zürich auf Bezahlung
von Fr. 3'075'145.10 zuzüglich 5% Verzugszins ab 18. November 1982 auf
Fr. 2'990'775.-- und ab 1. Mai 1983 auf Fr. 84'370.10. Das Verfahren
wurde zunächst auf die Frage beschränkt, welches Recht anwendbar sei
und inwiefern danach der Beklagte oder nur Professor Y. haftbar gemacht
werden könne. In einem Zwischenentscheid vom 26. März 1985 erkannte das
Bundesgericht, dass der Beklagte für den Vorfall nach dem kantonalen
Haftungsgesetz einzustehen habe (BGE 111 II 149).

    In der Folge wurde Professor Dr. A., Chefarzt der Abteilung für
Gastroenterologie am Inselspital Bern, zum gerichtlichen Sachverständigen
ernannt. Er erstattete am 27. Dezember 1985 sein Gutachten. Der
Beklagte beantragte am 12. März 1986 eine neue Begutachtung, eventuell
eine Ergänzung und Erläuterung des Gutachtens. In der Vorbereitungs-
und Beweisverhandlung vom 29. Mai 1986 wurden drei Ärzte und zwei
Krankenschwestern als Zeugen einvernommen. Am 4. November 1986 ergänzte der
Gerichtsexperte sein Gutachten. Er behielt die Befragung von Professor
B. vor, welcher die Nachoperationen ausgeführt hatte. Professor B. wurde
am 25. März 1987 als sachverständiger Zeuge befragt. Im Anschluss daran
äusserte sich der Experte abschliessend. Der Beklagte teilte am 3. April
1987 mit, er halte am Antrag auf Oberexpertise nicht fest; der Kläger
reichte ein Privatgutachten ein und ersuchte am 9. April 1987 ebenfalls,
von einer Oberexpertise abzusehen, es sei denn, das Bundesgericht betrachte
die Frage, ob die Verletzung des Klägers auf elektrischer oder mechanischer
Ursache beruhe, als ausschlaggebend.

    Das weitere Verfahren wurde im Einvernehmen mit den Parteien auf die
Frage beschränkt, ob dem Kläger beim streitigen Eingriff widerrechtlich
Schaden zugefügt worden sei und der Beklagte demzufolge grundsätzlich für
den geltend gemachten Schaden hafte sowie ob die Voraussetzungen für die
Zusprechung einer Genugtuung gegeben seien.

    An der heutigen Hauptverhandlung hält der Kläger an den am 9. Dezember
1983 gestellten Rechtsbegehren fest. Für den Fall, dass das Bundesgericht
den Nachweis der mechanischen Verletzung nicht als erbracht erachte und
annehme, es sei auch eine elektrische Verletzung möglich, und es die
Haftung des Beklagten deshalb verneine, beantragt er, über diese These
noch Beweis abzunehmen. Der Beklagte bestätigt den Antrag auf Abweisung
der Klage.

    Das Bundesgericht bejaht grundsätzlich die Schadenersatzpflicht des
Beklagten und verneint einen Anspruch auf Genugtuung.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach § 6 Abs. 1 HG haftet der Beklagte für den Schaden, den ein
Beamter in Ausübung hoheitlicher Verrichtungen einem Dritten widerrechtlich
zufügt. Ausserdem kann der Richter bei Tötung oder Körperverletzung
eine angemessene Geldsumme als Genugtuung zusprechen, sofern den Beamten
ein Verschulden trifft (§ 10 HG). Hingegen steht dem Geschädigten kein
Anspruch gegen den Beamten zu (§ 6 Abs. 4 HG), und der Beklagte kann nur
bei vorsätzlichem oder grobfahrlässigem Verhalten des Beamten auf diesen
Rückgriff nehmen (§ 15 HG).

    Die Schadenersatzpflicht setzt demnach im Unterschied zum Anspruch
auf Genugtuung kein Verschulden des Beamten voraus. Sie beruht auf einer
Kausalhaftung und unterscheidet sich dadurch auch von der Haftung des
Arztes aus Vertrag oder aus unerlaubter Handlung im Sinn von Art. 41
OR. Bei diesen beiden, auf Verschulden beruhenden Haftungsgrundlagen steht
die Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht im Vordergrund. Dabei
ist nicht restlos geklärt, wieweit diese zum Verschulden oder zur
Vertragswidrigkeit bzw. zur Widerrechtlichkeit zu rechnen ist (BGE 113
II 432 f. mit Hinweisen auf die Kritik im Anschluss an BGE 105 II 284
ff.). Die Abgrenzung spielt im Ergebnis für die Haftung aus Art. 41 OR
keine Rolle. Bei der Haftung aus Vertrag wirkt sie sich hingegen auf die
Beweislast aus, da der Patient nur die Vertragsverletzung, nicht auch das
Verschulden des Arztes beweisen muss, vielmehr dieser sich zu exkulpieren
hat (Art. 97 Abs. 1 OR).

Erwägung 2

    2.- Nach der Rechtsprechung ist ein Verhalten widerrechtlich,
wenn es gegen geschriebene oder ungeschriebene Gebote oder Verbote der
Rechtsordnung verstösst, die dem Schutz des verletzten Rechtsguts dienen
(BGE 109 II 124 E. 2). Die Verordnung über die kantonalen Krankenhäuser
vom 28. Januar 1981 (KHV) hält ausdrücklich fest, dass sich die
Behandlung des Patienten nach den anerkannten Grundsätzen der ärztlichen
Wissenschaft und Humanität zu richten hat (§ 38 KHV). Ein Verstoss
gegen die Regeln der ärztlichen Kunst ist demnach widerrechtlich. Die
Widerrechtlichkeit hängt aber nicht von einem solchen Normverstoss ab,
wenn ein absolut geschütztes Rechtsgut wie die körperliche Integrität des
Menschen verletzt wird (BGE 112 II 128). Für die Haftung des Beklagten
kann in diesem Zusammenhang nichts anderes gelten, unbekümmert um die
Streitfrage, ob für die Staatshaftung eine rechtswidrige Schädigung oder
eine rechtswidrige Amtshandlung massgebend sei (dazu GRISEL, Traité
de droit administratif, Bd. II, S. 797 f.; KÄMPFER, Schwerpunkte des
solothurnischen Staatshaftungsrechts, in: Festschrift 500 Jahre Solothurn
im Bund, S. 297 ff.; GYGI, Die Widerrechtlichkeit in der Staatshaftung,
Mélanges Grisel, S. 417 ff.; GYGI, Verwaltungsrecht, Eine Einführung,
S. 256 f.; SCHWARZENBACH-HANHART, Die Staats- und Beamtenhaftung in der
Schweiz/Das Haftungsgesetz des Kantons Zürich, 2. Aufl., S. 49 f.).

    Wird ein Patient bei einem Eingriff über diesen hinaus in der
körperlichen Integrität verletzt, so ist demnach die Widerrechtlichkeit
von vornherein gegeben. Das unterscheidet solche Fälle namentlich
von jenen, bei denen bloss der Heilerfolg der ärztlichen Behandlung
ausbleibt. Gemäss dem Operationsbefund vom 18. November 1982 wies die
Bauchspeicheldrüse des Klägers nach der endoskopischen Abtragung des
Polypen einen tiefen Längsriss auf, der Pankreaskopf war fast vollständig
vom Duodenum abgerissen, und die dahinter liegende Arteria gastroduodenalis
war aufgerissen. Bei den Nachoperationen mussten ein grosser Teil der
Bauchspeicheldrüse sowie Teile des Magens entfernt werden. Anlässlich des
streitigen Eingriffs ist es somit zu einer Verletzung der körperlichen
Integrität gekommen. Die Widerrechtlichkeit ist somit grundsätzlich
zu bejahen.

Erwägung 3

    3.- Ein widerrechtliches Verhalten führt nur dann zur Ersatzpflicht,
wenn dadurch ein Schaden verursacht worden ist und diese Verursachung
ausserdem rechtserheblich, das heisst in einem adäquaten Zusammenhang,
erscheint. Die Beweislast dafür trifft den Kläger. Hinsichtlich des
natürlichen Kausalzusammenhangs wird sie insofern gemildert, als der
Richter sich mit der überwiegenden Wahrscheinlichkeit, nicht hingegen mit
der blossen Möglichkeit einer Verursachung begnügen kann (BGE 107 II 273
E. 1b und 430 Nr. 68).

    Es ist nicht bestritten, dass der Kläger als Folge des Eingriffs
vom 18. November 1982 und der anschliessend notwendigen Nachoperationen
heute noch gesundheitlich erheblich geschädigt ist. Der Gerichtsexperte
bestätigt, dass namentlich die Entfernung eines grossen Teils der
Bauchspeicheldrüse, zudem von Teilen des Magens, Durchfall, Diabetes,
Magenbluten und Hepatitis verursachen können, und hält fest, die
Lebensqualität des Klägers sei erheblich beeinträchtigt sowie das Geschehen
habe zu einer weitgehenden Invalidität des Klägers geführt. Sodann hat der
Kläger dargetan, dass bei der Endoskopie das Pankreas beschädigt worden
ist und der Eingriff keinen normalen Verlauf genommen hat. Das genügt für
die Annahme eines natürlichen wie auch adäquaten Kausalzusammenhangs. Dem
Beklagten steht der Nachweis offen, dass dieser Zusammenhang allenfalls
unterbrochen worden ist.

Erwägung 4

    4.- Die Verletzung eines Menschen in seiner körperlichen Integrität
ist nur dann widerrechtlich, wenn kein Rechtfertigungsgrund vorliegt (BGE
101 II 197). Bei ärztlicher Behandlung steht die Rechtfertigung durch
die Einwilligung des Patienten oder durch einen Notstand bzw. durch die
mutmassliche Einwilligung des Patienten im Vordergrund. Das Haftungsgesetz
schliesst diesen Rechtfertigungsgrund nicht aus. Es sieht vielmehr
ausdrücklich vor, dass der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder ganz
von ihr entbinden kann, wenn der Geschädigte in die schädigende Handlung
eingewilligt hat (§ 7 HG).

    Die Beweislast für den Rechtfertigungsgrund trifft den
Beklagten. Dieser hat somit die Einwilligung des Patienten zu beweisen
sowie nachzuweisen, dass die Schädigung auf berufsinhärente Risiken
zurückzuführen und auch bei sorgfältigem Vorgehen nicht zu vermeiden
war. Dabei kann sich die Einwilligung nur auf Risiken beziehen, die bei
ordnungsgemässer Durchführung des Eingriffs bestehen, nicht auf solche, die
auf einen Behandlungsfehler zurück zuführen sind. Ausserdem kann sich der
Arzt auf die Einwilligung nur berufen, wenn er seiner Aufklärungspflicht
gegenüber dem Patienten nachgekommen ist, insbesondere über die Risiken
einer Operation aufgeklärt hat (BGE 108 II 62 E. 3; vgl. auch BGE 113
II 434 Nr. 76). Diesfalls schliesst die Einwilligung die Risiken ein,
die selbst bei sorgfältigem Vorgehen bestehen. Wieweit im übrigen die
konkrete Behandlungssituation, namentlich die konkreten Schwierigkeiten
einer Operation, welche überwiegend zu den subjektiven Elementen ärztlicher
Sorgfalt gerechnet werden (GROSS, Haftung für medizinische Behandlung,
S. 161 f.; WIEGAND, Der Arztvertrag, insbesondere die Haftung des Arztes,
in: Arzt und Recht, Berner Tage für die juristische Praxis 1984, S. 105
f. u. S. 112; KUHN, Ärztliche Kunstfehler, SJZ 83/1987, S. 358; KUHN, Die
Entwicklung in der Haftpflicht des Arztes, ZSR 105/1986 II, S. 484 ff.),
von der Einwilligung erfasst werden kann, braucht für die zu beurteilende
Streitsache nicht untersucht zu werden.

Erwägung 5

    5.- Ein Rechtfertigungsgrund wäre von vornherein auszuschliessen,
wenn der Eingriff überhaupt hätte unterbleiben sollen, wie der Kläger
meint. Er beruft sich darauf, es habe eine Komplikationsrate von 14%
und damit ein beträchtliches Risiko bestanden; überdies sei der Polyp
ungefährlich gewesen.

    Der Gerichtsexperte erklärt die therapeutische Endoskopie zur
Entfernung des Polypen eindeutig für gerechtfertigt, weil dadurch eine
histologische Untersuchung ermöglicht worden sei. Aufgrund des erheblich
grösseren statistischen Materials bei Polypen in anderen Darmbereichen und
im Magen nennt er ein Blutungsrisiko von 2,7% und ein Perforationsrisiko
von 0,3%, eventuell etwas höher. Statistiken mit einer Komplikationsrate
von 15% für Duodenalpolypen seien erst nach 1982 bekanntgeworden. Der
Experte kommt zum Schluss, der Eingriff sei aus damaliger Sicht mit einem
tragbaren Risiko verbunden, aber nicht ohne Risiko gewesen und habe daher
mit äusserster Sorgfalt durchgeführt werden müssen.

    Das Gutachten überzeugt. Der Vorwurf einer ungenügenden Indikation
erweist sich deshalb als unbegründet.

Erwägung 6

    6.- Mit Bezug auf die Aufklärungspflicht macht der Beklagte geltend,
der Kläger sei ausführlich und sachgerecht informiert worden; ausserdem
hätte er aus Angst vor einem bösartigen Tumor dem Eingriff auf jeden
Fall zugestimmt. Der Kläger meint hingegen, es sei gegen die ärztliche
Aufklärungspflicht verstossen worden, weil der Eingriff verharmlost
worden sei.

    Die Aufklärungspflicht umfasst die Risiken eines Eingriffs, damit der
Patient seine Zustimmung in Kenntnis der Sachlage geben kann (BGE 108 II
61 E. 2). Es ist nicht abschliessend abgeklärt worden, was dem Kläger
hinsichtlich der Komplikationsrisiken mitgeteilt wurde. Offenbar sind
ihm eher beruhigende Erklärungen abgegeben worden, wie den Aussagen des
Zeugen Z. und den Darlegungen des Klägers zu entnehmen ist. Angesichts des
damals gering eingeschätzten Risikos durfte auf einen besonderen Hinweis
verzichtet werden. Gerade bei einem ängstlichen Patienten wie dem Kläger
war Zurückhaltung am Platz. Es erübrigt sich deshalb zu prüfen, ob der
Kläger auch bei entsprechender Aufklärung den Eingriff erlaubt hätte
(BGE 108 II 63 f.).

Erwägung 7

    7.- Der Beklagte stellt sich auf den Standpunkt, der Eingriff sei
ohne Verletzung der Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt. Er bestreitet
insbesondere, dass der Kläger ungenügend sediert und der Abriss des
Pankreas infolge der Unruhe des Patienten durch eine mechanische Einwirkung
auf das Organ erfolgt sei. ...

    (Dem Beklagten gelingt der Rechtfertigungsbeweis nicht, weshalb die
Schadenersatzpflicht bejaht wird.)

Erwägung 8

    8.- (Anspruch auf Genugtuung [§ 10 HG] mangels Verschuldens verneint.)