Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IB 34



113 Ib 34

6. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 22. Januar 1987 i.S. Schweiz. Bundesbahnen, Kreisdirektion III
gegen Siedlungsgenossenschaft "Sunnige Hof" und Präsident der Eidg.
Schätzungskommission, Kreis 10 (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 5 und 41 EntG; nachträgliche Entschädigungsforderung für die
Enteignung von Nachbarrechten.

    Zu den Nachbarrechten, die nach Art. 5 EntG Gegenstand der Enteignung
sein können, gehört auch der Anspruch auf Unterlassung von schädlichen
Grabungen und Bauten im Sinne von Art. 685 ZGB. Die Frage, ob zwischen
dem Schaden und den Grabungen ein Kausalzusammenhang bestehe, ist vom
Enteignungsrichter zu beurteilen (E. 2).

    Wird eine nachträgliche Entschädigungsforderung gemäss Art. 41
Abs. 1 EntG zwar rechtzeitig (Art. 41 Abs. 2), aber irrtümlich nicht
beim Präsidenten der Schätzungskommission, sondern bei den SBB als
Enteignerinnen, d.h. bei einer "unzuständigen Behörde" im Sinne von
Art. 21 Abs. 2 VwVG angemeldet, so gilt die Frist als gewahrt (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Die Schweiz. Bundesbahnen (SBB) bauen auf der Stettbacherwiese
auf dem Gebiet der Gemeinde Zürich das Tieftrasse und den unterirdischen
Bahnhof Stettbach für die neue S-Bahn Zürich - Dübendorf/Dietlikon
(Teilprojekt 7). Angrenzend an das vom Bau betroffene Areal liegt die
Überbauung Mattenhof der Siedlungsgenossenschaft Sunnige Hof.

    Für das Teilprojekt 7 der S-Bahn war in den Gemeinden Zürich und
Dübendorf Mitte des Jahres 1983 eine öffentliche Planauflage im Sinne von
Art. 30 des Bundesgesetzes über die Enteignung vom 20. Juni 1930 (EntG)
durchgeführt worden. Der Beginn der Bauarbeiten fiel ebenfalls auf Sommer
1983. Am 21. November 1983 wandte sich die Siedlungsgenossenschaft
Sunnige Hof an die SBB, weil infolge der Bauarbeiten Schäden an den
Häusern im Mattenhof entstanden seien. Die SBB leiteten die Meldung an
die "Zürich"-Versicherungsgesellschaft weiter, mit der die Bauherrinnen
einen Vertrag zur Deckung der Bauschäden abgeschlossen hatten. Die
Versicherungsgesellschaft liess hierauf ein Gutachten erstellen,
gestützt auf das sie in ihrem Schreiben an die Siedlungsgenossenschaft
vom 29. November 1985 eine Haftung der SBB ablehnte, da kein adäquater
Kausalzusammenhang zwischen den Schäden und den Bauarbeiten für die
S-Bahn bestehe. Die Siedlungsgenossenschaft bestritt die Resultate des
Gutachtens und reichte schliesslich am 28. Mai 1986 unter Hinweis auf
Art. 41 EntG beim Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission,
Kreis 10, ein Begehren um Eröffnung eines Enteignungsverfahrens ein.

    In ihrer Vernehmlassung zum Begehren um Verfahrenseröffnung
stellten die SBB, Kreisdirektion III, Antrag auf Abweisung des Gesuches
und machten hauptsächlich geltend, das Entschädigungsbegehren der
Siedlungsgenossenschaft Sunnige Hof könne nach Art. 5 EntG überhaupt
nicht Gegenstand eines Enteignungsverfahrens sein. Die SBB hätten
für die Risiken, die mit dem Bau der neuen Bahnstrecke verbunden
seien, eine Baustellenversicherung abgeschlossen. Die Schadenmeldung
der Siedlungsgenossenschaft sei von der Versicherungsgesellschaft
entgegengenommen und das Schadenersatzbegehren nach einlässlicher Prüfung
abgewiesen worden. Der Grundeigentümerin stehe es nun frei, ihre rein
zivilrechtlichen Ansprüche beim zuständigen Zivilrichter anzumelden. Wäre
aber dennoch anzunehmen, es liege ein Enteignungsfall vor, so müsste die
Eingabe der Gesuchstellerin vom 28. Mai 1986 in Anwendung von Art. 41
EntG als verspätet gelten.

    Mit Verfügung vom 24. Juli 1986 erklärte der stellvertretende Präsident
der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 10, das nachträglich
angemeldete Entschädigungsbegehren der Siedlungsgenossenschaft als zulässig
und das Enteignungsverfahren für eröffnet. Gegen diese Verfügung haben
die SBB Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht, die vom Bundesgericht
abgewiesen wird aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                         Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Siedlungsgenossenschaft Sunnige Hof hat in ihren Eingaben stets
geltend gemacht, infolge der für den Bau der S-Bahn-Linie unternommenen
Abgrabungen und Aufschüttungen auf den Nachbarparzellen habe sich ihr
Grundstück gesenkt und seien an einigen Häusern Schäden entstanden,
welche von den SBB zu vergüten seien. Entgegen der Meinung der SBB hat
sich die Genossenschaft mit ihrer Entschädigungsforderung zu Recht an
den Präsidenten der Schätzungskommission gewandt.

    Die sachliche Zuständigkeit der Eidgenössischen Schätzungskommission
ist dann gegeben, wenn durch ein mit dem Enteignungsrecht ausgestattetes
oder noch auszustattendes Unternehmen Rechte entzogen oder beschränkt
werden, die nach Bundesrecht Enteignungsobjekte bilden (BGE 106 Ib
235 E. 3). Gemäss Art. 5 EntG können neben anderen dinglichen Rechten
auch die aus dem Grundeigentum hervorgehenden Nachbarrechte Gegenstand
der Enteignung sein. Darunter sind insbesondere die Ansprüche des
Grundeigentümers auf Unterlassung übermässiger Einwirkungen zu verstehen,
und zwar nicht nur der Anspruch auf Unterlassung von schädlichen
Immissionen im Sinne von Art. 684 Abs. 2 ZGB, sondern auch jener auf
Unterlassung von Grabungen und Bauten, die das nachbarliche Grundstück
dadurch schädigen, dass Erdreich in Bewegung gebracht oder gefährdet oder
vorhandene Vorrichtungen beeinträchtigt werden (Art. 685 ZGB). Werden
demnach solche Abgrabungen oder Bauten für ein Werk unternommen,
für das dem Werkeigentümer das Enteignungsrecht zusteht, so kann der
Geschädigte nicht zivilrechtlich auf Beseitigung der Schädigung oder
Schutz gegen drohenden Schaden sowie auf Schadenersatz klagen (Art. 679
ZGB), sondern nur gestützt auf Art. 5 EntG auf dem Enteignungsweg eine
Entschädigung verlangen (vgl. etwa BGE 107 Ib 388 E. 2a, 106 Ib 244
E. 3 mit zahlreichen Verweisungen). Über den Entschädigungsanspruch
entscheidet ausschliesslich der Enteignungsrichter, und zwar nicht nur
über die Höhe der Entschädigung, sondern auch darüber, ob überhaupt ein
Nachbarrecht verletzt worden sei (BGE 112 Ib 178 E. 3a, 106 Ib 236 E. 3a,
je mit weiteren Hinweisen). Der Grundeigentümer kann den Zivilrichter
nur dann anrufen, wenn er geltend macht, die Einwirkungen seien nicht
notwendige oder doch leicht vermeidbare Folge des Baues oder Betriebs
des Werkes und insbesondere auf unsachgemässe Erstellung zurückzuführen
(BGE 112 Ib 177, 107 Ib 389 E. 2a, 93 I 301/2). Dementsprechend ist bei
der Revision des Eisenbahngesetzes im Jahre 1957 in Art. 20 ausdrücklich
festgehalten worden, dass Bahnunternehmungen für schädigende Eingriffe in
fremde Rechte nach Massgabe der Bundesgesetzgebung über die Enteignung
Ersatz zu leisten haben, sofern der Eingriff nicht gemäss Nachbarrecht
oder anderen gesetzlichen Vorschriften geduldet werden muss und es sich
nicht um eine unvermeidliche oder nicht leicht abzuwendende Folge des
Baues oder Betriebes der Bahn handelt. Es ist daher unverständlich, dass
im vorliegenden Fall die - von Gesetzes wegen mit dem Enteignungsrecht
ausgestatteten (Art. 3 EBG) - SBB die enteignungsrechtliche Natur der
eingereichten Entschädigungsforderung bestreiten, obschon von niemandem
behauptet wird, die umstrittenen Schäden seien durch unsachgemässe
Bauausführung entstanden und vermeidbar gewesen. Die von den Enteignerinnen
aufgeworfene Frage des Kausalzusammenhangs zwischen Schaden und Bauarbeiten
fällt mit der Frage zusammen, ob überhaupt Nachbarrechte verletzt worden
seien - eine Frage, über die, wie dargelegt, der Enteignungsrichter zu
entscheiden hat.

    An der Zuständigkeit der Schätzungskommission vermag, wie in der
angefochtenen Verfügung mit Recht ausgeführt wird, auch der von den
Enteignerinnen abgeschlossene Versicherungsvertrag nichts zu ändern. Weder
berührt dieser Vertrag das öffentlichrechtliche Verhältnis zwischen
Enteigner und (möglichen) Enteigneten, noch könnte durch die aufgrund
des Vertrages gegebene Zustimmung der Enteigneten zur zivilrechtlichen
Behandlung der Entschädigungsansprüche die Kompetenz der ratione materiae
unzuständigen Zivilgerichte begründet werden (BGE 99 Ib 485 E. 2, 40
II 291).

Erwägung 3

    3.- Es bleibt zu prüfen, ob das von der Siedlungsgenossenschaft
nachträglich eingereichte Entschädigungsbegehren als zulässig betrachtet
werden durfte oder ob es, wie die Beschwerdeführerinnen geltend machen,
verspätet und damit verwirkt war. Die Siedlungsgenossenschaft stellt
heute nicht mehr in Abrede, dass auf dem Gebiet der Gemeinde Zürich,
auf dem das umstrittene Grundstück liegt, eine öffentliche Planauflage
im Sinne von Art. 30 EntG stattgefunden hat; ihr Entschädigungsanspruch
untersteht daher nach Art. 41 Abs. 2 EntG der Verwirkung. Indessen wird
nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung der Beginn der Verwirkungsfrist
aufgeschoben, wenn der Enteignete durch das Verhalten des Enteigners
von einer rechtzeitigen Anmeldung seiner Begehren abgehalten wird,
so etwa, wenn der Enteignete aufgrund von Verhandlungen mit dem
Enteigner zur Annahme berechtigt ist, dieser trete auf seine Ansprüche
ein (BGE 111 Ib 284, 106 Ib 335 E. 2b, 88 I 199, 83 II 98). Der
Schätzungskommissions-Präsident hat daher im vorliegenden Fall wohl mit
Recht angenommen, die sechsmonatige Verwirkungsfrist gemäss Art. 41 Abs. 1
lit. b EntG habe erst in dem Zeitpunkt zu laufen begonnen, in dem die
Versicherungsgesellschaft im Namen der SBB eine Entschädigungsleistung
abgelehnt hat, weil die SBB durch die Entgegennahme der Schadensmeldung
die Gesuchstellerin von weiteren Schritten, insbesondere von der Anrufung
des Schätzungskommissions-Präsidenten abgehalten hätten. Selbst wenn
aber hier nicht von einem Aufschub des Fristbeginns ausgegangen werden
könnte, wäre dennoch festzustellen, dass die Siedlungsgenossenschaft ihren
Entschädigungsanspruch rechtzeitig erhoben hat. Wie die Enteignerinnen
selbst erwähnen, hat die Genossenschaft erstmals mit Schreiben
vom 21. November 1983, also innerhalb von sechs Monaten sogar seit
Baubeginn, Schäden gemeldet und um Entschädigung ersucht. Das Gesuch
ist allerdings nicht an den Präsidenten der Schätzungskommission,
sondern an die SBB selbst gerichtet worden. Gelangt aber eine Partei
rechtzeitig an eine unzuständige Behörde, so gilt die Frist nach
der Bestimmung von Art. 21 Abs. 2 VwVG, die gemäss Art. 2 Abs. 3
VwVG auch für das Verfahren der Schätzungskommissionen gilt, als
gewahrt. Nun sind die SBB, wie das Bundesgericht in BGE 101 Ib 104
E. 2b dargelegt hat, nach Art. 1 des Bundesgesetzes vom 23. Juni 1944
über die Schweizerischen Bundesbahnen eine innerhalb der Schranken der
Bundesgesetzgebung selbständige eidgenössische Verwaltung, das heisst
ein autonomer eidgenössischer Betrieb im Sinne von Art. 1 Abs. 2 lit. c
VwVG und gelten nach dieser Bestimmung als Behörde; sie können damit
gegebenenfalls "unzuständige Behörde" im Sinne von Art. 21 Abs. 2 VwVG
sein. Die sechsmonatige Frist ist daher schon durch das direkt an die SBB
gerichtete Entschädigungsbegehren der Siedlungsgenossenschaft eingehalten
worden. Diese hätten das Gesuch, zu deren Behandlung sie unzuständig waren,
statt der Versicherungsgesellschaft dem Schätzungskommissions-Präsidenten
übermitteln und ihn um einstweilige Sistierung des Verfahrens ersuchen
müssen, wenn sie den Entschädigungsstreit auf gütlichem Wege erledigen
wollten.

    Die Beschwerde der Enteignerinnen erweist sich somit als vollständig
unbegründet und ist im Verfahren nach Art. 109 Abs. 1 OG abzuweisen.