Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IA 72



113 Ia 72

13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 4.
Februar 1987 i.S. N. gegen Staatsanwaltschaft und Strafkassationsgericht
des Kantons Freiburg (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 58 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK.

    1. Bestätigung der Rechtsprechung, wonach die Personalunion von
Untersuchungsrichter und Gerichtspräsident vor Art. 58 Abs. 1 BV und
Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht standhält (E. 2).

    2. Zulässigkeit der Personalunion von Überweisungsrichter und
erkennendem Richter? Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung. Frage
im vorliegenden Fall offengelassen (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Der Untersuchungsrichter des Saanebezirkes im Kanton Freiburg
führte gegen N. die Strafuntersuchung. Nach deren Abschluss entschied
die Anklagekammer des Kantonsgerichts des Kantons Freiburg, dass
N. in den Anklagezustand versetzt werde und dass die Strafsache dem
Kriminalgericht des Saanebezirkes zur gerichtlichen Beurteilung überwiesen
werde. In der Folge befand das Kriminalgericht unter dem Präsidium
des Untersuchungsrichters N. verschiedener Tatbestände schuldig und
verurteilte N. zu einer Freiheitsstrafe.

    Gegen dieses Strafurteil erhob N. Beschwerde beim Strafkassationshof
des Kantonsgerichts des Kantons Freiburg. Der Strafkassationshof hiess
die Beschwerde am 14. April 1986 teilweise gut, bestätigte im übrigen
den Schuldspruch und reduzierte die Strafe.

    Gegen diesen Entscheid des Strafkassationshofes reichte N. beim
Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 58
Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK ein. Er rügt zum einen, dass der
Untersuchungsrichter, der bereits die Untersuchung geführt hatte, dem
erstinstanzlichen Gericht als Präsident angehörte, und macht zum andern
geltend, einzelne Mitglieder der Anklagekammer, welche die Strafsache an
das zuständige Gericht überwiesen hatte, dürften dem Strafkassationshof
als Rechtsmittelinstanz nicht angehören. Das Bundesgericht heisst die
Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                  Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- ... Das Bundesgericht hat in seinen Grundsatzentscheiden
vom 4. Juni 1986 zur Frage der verfassungsmässigen Zulässigkeit
der Personalunion von Untersuchungsrichter und erkennendem Richter
nach der Walliser Strafprozessordnung ausführlich Stellung genommen
und entschieden, dass derjenige Richter, der vorgängig bereits die
Strafuntersuchung geführt hat, den Garantien von Art. 58 Abs. 1 BV und
von Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht genüge (BGE 112 Ia 290; Urteil i.S. A. vom
4. Juni 1986, publiziert in: EuGRZ 1986 S. 670 ff.). Gestützt auf
diese Rechtsprechung ist das Bundesgericht in einer andern den Kanton
Freiburg betreffenden Beschwerdesache mit ausführlicher Begründung zum
Schluss gelangt, dass die Personalunion von Untersuchungsrichter und
erkennendem Richter auch nach der freiburgischen Verfahrensordnung vor
Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht standhalte; es hat daher
eine staatsrechtliche Beschwerde gutgeheissen, mit der die Mitwirkung
des Untersuchungsrichters des Saanebezirkes als Gerichtspräsident des
Kriminalgerichts des Saanebezirkes gerügt worden war (unveröffentlichtes
Urteil i.S. F. vom 22. Dezember 1986). Die vorliegende Angelegenheit
betrifft den gleichen Sachverhalt; der Beschwerdeführer beanstandet, dass
der Untersuchungsrichter später als Gerichtspräsident amtete. Bei dieser
Sachlage erweist sich die Rüge der Verletzung von Art. 58 Abs. 1 BV und
von Art. 6 Ziff. 1 EMRK als begründet, und die Beschwerde ist in diesem
Punkte gutzuheissen. Für die Begründung im einzelnen kann auf die zitierten
Urteile vom 4. Juni 1986 und vom 22. Dezember 1986 verwiesen werden.

Erwägung 3

    3.- a) Der Beschwerdeführer erblickt ferner einen Verstoss gegen die
Garantien von Art. 58 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK im Umstand, dass zwei
Richter des Strafkassationshofes bereits am Beschluss der Anklagekammer des
Kantonsgerichts vom 31. Juli 1985 mitgewirkt haben, durch den er in den
Anklagezustand versetzt worden und die Strafsache an das Kriminalgericht
des Saanebezirkes zur gerichtlichen Beurteilung überwiesen worden war.

    Das Bundesgericht hat - soweit ersichtlich - zur Frage allein, ob die
Personalunion von überweisendem Richter und erkennendem Richter (evtl. in
einer Rechtsmittelinstanz) vor Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1
EMRK standhalte, noch nie Stellung genommen und sich dazu nur in anderem
Zusammenhang geäussert. Im Jahre 1965 entschied es ausschliesslich unter
dem Gesichtswinkel von Art. 4 BV, dass Mitglieder der Justizkommission
des Kantons Zug, welche in einem Beschwerdeverfahren die Überweisung
an das zuständige Gericht bestätigt und über die Rechtmässigkeit der
Untersuchungsführung befunden hatte, nach der anwendbaren Verfahrensordnung
als Appellationsrichter über die Strafsache urteilen dürften; es hat
indessen in allgemeiner Weise angefügt, aus Art. 4 BV könne keine Forderung
nach Ausstand der Mitglieder der Überweisungsbehörde bei der Beurteilung
der Strafsache abgeleitet werden (BGE 91 I 5 E. 2, mit Hinweisen auf die
Regelung in andern Kantonen). In seinem Entscheid BGE 104 Ia 271 kam
das Bundesgericht zum Schluss, es verstosse nicht gegen den Anspruch
auf den verfassungsmässigen Richter nach Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6
Ziff. 1 EMRK, dass ein und dieselbe Person die Strafuntersuchung führe,
an der Überweisung an das zuständige Gericht mitwirke und schliesslich
als urteilender Richter amte. Gestützt auf diese Rechtsprechung entschied
es im Jahre 1979, dass Mitglieder der genferischen Anklagekammer, die
eine Strafsache an das zuständige Gericht überwiesen hatte, im Hinblick
auf weitere Entscheidungen der Anklagekammer von Verfassungs wegen nicht
in den Ausstand zu treten hätten (Urteil i.S. D. vom 10. Oktober 1979,
teilweise veröffentlicht in: Semaine Judiciaire 1980 S. 273 ff.). Ohne
Erfolg wurden ferner im Jahre 1980 vor Bundesgericht Walliser Richter
der Appellationsinstanz abgelehnt, welche vorgängig als Mitglieder
der Strafkammer auf entsprechende Rechtsmittel hin die Führung der
Strafuntersuchung durch den Untersuchungsrichter und insbesondere die
Anordnung bzw. die Verlängerung der Untersuchungshaft überprüft hatten
(Urteil i.S. F. vom 4. Dezember 1980, publiziert in: Zeitschrift für
Walliser Rechtsprechung 1981 S. 405 ff.). Auf der andern Seite hat
der Strafkassationshof des Kantons Freiburg in einem Entscheid aus dem
Jahre 1980 ausdrücklich festgehalten, dass der Umstand allein, dass ein
Richter an der Überweisung mitgewirkt hat, keine Befangenheit begründe;
ein solcher Richter könne daher nur aufgrund besonderer Vorkommnisse,
die seine Befangenheit belegen, im Einzelfall abgelehnt werden (Extraits
des principaux arrêts du Tribunal cantonal en 1980, S. 73 f.).

    Alle diese Entscheide sind entweder unter dem Gesichtswinkel von
Art. 4 BV getroffen worden oder gründen auf den Überlegungen von BGE 104
Ia 271 zum verfassungsmässigen Richter. Es stellt sich daher die Frage,
inwiefern die mit den Urteilen vom 4. Juni 1986 vorgenommene Änderung
der Rechtsprechung auch für die vorliegende Frage der Personalunion von
Überweisungsrichter und Richter in der Sache selbst massgebend ist. In
dieser Hinsicht ist vorerst darauf hinzuweisen, dass in den erwähnten
Entscheiden vom 4. Juni 1986 dem Umstand, dass der erkennende Richter
vorher nicht nur die Strafuntersuchung führte, sondern darüber hinaus
auch an der Überweisung der Strafsache mitwirkte, eine gewisse Bedeutung
beigemessen worden ist. Ferner ist der zur Zeit noch vor dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte hängige Fall Ben Yaacoub zu erwähnen:
Die Kommission erachtete einen Richter nicht als unbefangen, welcher im
konkreten Fall an der mehrmaligen Verlängerung der Untersuchungshaft, zum
Teil entgegen dem Antrag des Untersuchungsrichters, und an der Überweisung
der Strafsache an das zuständige Gericht mitgewirkt hatte; bei dieser
Sachlage bejahte die Mehrheit der Kommission unter dem Gesichtswinkel von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK die Befürchtung, dass sich der Richter bereits vor
dem Gerichtsverfahren eine Meinung über die Schuld des Angeschuldigten
gebildet habe (Bericht der Kommission vom 7. Mai 1985, Ziff. 92 ff.;
vgl. aber die Auffassung der Minderheit zum Bericht; vgl. ferner JOCHEN
ABR. FROWEIN/WOLFGANG PEUKERT, EMRK-Kommentar, Kehl/Strassburg/Arlington
1985, N. 96 zu Art. 6; MIEHSLER/VOGLER, Internationaler Kommentar zur
Europäischen Menschenrechtskonvention, N. 302 zu Art. 6). Schliesslich
müssten im Hinblick auf die Frage der Befangenheit der Richter des
Strafkassationshofes - ähnlich wie in den Urteilen vom 4. Juni 1986 -
nicht nur die konkret getroffenen Massnahmen der Anklagekammer, sondern
darüber hinaus auch deren Befugnisse nach der anwendbaren Verfahrensordnung
im einzelnen geprüft werden.

    Wie es sich unter dem Gesichtswinkel von Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6
Ziff. 1 EMRK mit der Personalunion von überweisendem und urteilendem
Richter verhält, kann indessen offenbleiben, da der angefochtene Entscheid
bereits aus den in Erwägung 2 dargelegten Gründen aufzuheben ist. Daran
ändert auch der Umstand nichts, dass der Strafkassationshof in der
Sache selbst entschieden und ein neues Urteil gefällt hat; denn die
Verfassungs- und Konventionswidrigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens
wird mit der Überprüfung durch eine Rechtsmittelinstanz in der Sache
selbst nicht beseitigt und geheilt (erwähnte Urteile vom 4. Juni 1986
und vom 22. Dezember 1986).