Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IA 69



113 Ia 69

12. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 5. Januar 1987 i.S. Z. gegen Regierungsrat des Kantons St. Gallen
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Bestellung eines amtlichen Verteidigers; Art. 6 EMRK und Art.  4 BV;
Art. 34 Abs. 1 StPO/SG; Art. 31 BV.

    1. Die Auslegung von Art. 34 Abs. 1 StPO/SG, wonach eine amtliche
Verteidigung auf Ersuchen hin (nur) dann einem ausserkantonal tätigen
Rechtsanwalt übertragen wird, wenn ein besonderes Vertrauensverhältnis
zum Angeschuldigten besteht oder der Vertreter bereits anderweitig für
den Angeschuldigten tätig geworden ist, verstösst weder gegen Art. 4 BV
noch gegen Art. 6 EMRK (E. 5).

    2. Der amtliche Verteidiger steht zum Staat in einem Verhältnis, das
vom kantonalen öffentlichen Recht bestimmt wird und deshalb nicht der
Handels- und Gewerbefreiheit untersteht. Zur Erlangung eines amtlichen
Mandates kann sich daher auch die Partei selber nicht auf die Handels-
und Gewerbefreiheit berufen (E. 6).

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- a) Der Beschwerdeführer rügt, Art. 34 Abs. 1 des sanktgallischen
Gesetzes über die Strafrechtspflege vom 9. August 1954 (StPO/SG)
verstosse gegen Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK und Art. 4 BV. Der Verstoss
einer kantonalen Vorschrift gegen eine Bestimmung der Bundesverfassung
bzw. der EMRK kann auch noch bei der Anfechtung eines gestützt darauf
ergangenen Anwendungsaktes geltend gemacht werden. Erweist sich der Vorwurf
als begründet, so führt dies freilich nicht zur formellen Aufhebung
der Vorschrift; die vorfrageweise Feststellung ihrer Verfassungs-
bzw. Konventionswidrigkeit hat nur zur Folge, dass die Vorschrift
auf den Beschwerdeführer nicht angewendet und der gestützt auf sie
ergangene Entscheid aufgehoben wird (BGE 107 Ia 54 E. 2a, 128 f. E. 1a,
mit Hinweisen).

    b) Gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK hat jeder Angeklagte das Recht,
sich selbst zu verteidigen oder den Beistand seiner Wahl zu erhalten und,
falls er nicht über die Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers verfügt,
unentgeltlich den Beistand eines Pflichtverteidigers zu erhalten, wenn
dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Aus diesem Wortlaut
folgt entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers eindeutig, dass sich das
freie Wahlrecht nicht auch auf einen amtlichen Verteidiger bezieht, kommt
doch dem zweiten Satzteil von Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK selbständige
Bedeutung zu. Dies entspricht der bisherigen Auffassung von Lehre und
Praxis. Nach der Praxis der Strassburger Organe hat der Angeklagte nicht
einmal Anspruch darauf, vor Ernennung eines amtlichen Verteidigers
einen Wunsch äussern zu können (FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar,
Kehl/Strassburg/Arlington 1985, N. 135 zu Art. 6, S. 177 mit Hinweisen;
STEFAN TRECHSEL, Die Verteidigungsrechte in der Praxis zur EMRK, in:
ZStR 96/1979, S. 361). Demnach vermag dem Beschwerdeführer ebenfalls
die Anrufung von Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK nicht zu helfen.

    c) Die Bestimmung von Art. 34 Abs. 1 StPO/SG verstösst auch nicht
gegen Art. 4 BV. Wie das Bundesgericht wiederholt entschieden hat, lässt
sich die in verschiedenen Kantonen geltende Ordnung, dass zu amtlichen
Verteidigern nur Anwälte bestimmt werden können, die im Prozesskanton ein
Anwaltsbüro führen oder in einem solchen tätig sind, mit sachlichen Gründen
vertreten (BGE 95 I 411 E. 5; 67 I 4; 60 I 17). Sie stützt sich auf die
Eigenschaft der Kantone, selbständige Gliedstaaten der Eidgenossenschaft
zu sein. Zudem beruht sie auf praktischen Gründen. Vor allem die
Führung eines - wie im vorliegenden Fall - schwierigen Strafprozesses
setzt die Kenntnis des kantonalen Prozessrechtes voraus, in welchem
sich ein im Kanton tätiger Anwalt regelmässig besser auskennt als sein
ausserkantonaler Kollege. Ausserdem kommt die Führung eines Prozesses
durch einen ausserkantonalen Anwalt in der Regel teurer zu stehen
(längere Einarbeitungszeit angesichts des fremden Prozessrechtes, höhere
Reisekosten usw.; ARTHUR HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze
gleich, Bern 1985, S. 162). Art. 34 Abs. 1 StPO/SG verstösst insbesondere
dann nicht gegen Art. 4 BV, wenn diese Vorschrift so ausgelegt wird,
wie dies in der Praxis durch den Regierungsrat erfolgt, d.h. dass eine
amtliche Verteidigung auf Ersuchen dann einem ausserkantonal tätigen
Rechtsanwalt übertragen wird, wenn ein besonderes Vertrauensverhältnis
zum Angeschuldigten besteht oder der Vertreter bereits anderweitig
für den Angeschuldigten tätig geworden ist, ihn insbesondere in einem
vorausgegangenen Strafverfahren verteidigt hat.

Erwägung 6

    6.- Der Beschwerdeführer rügt schliesslich, er sei in seiner Handels-
und Gewerbefreiheit im Sinne von Art. 31 BV verletzt, weil er den vorgängig
beauftragten Verteidiger seiner Wahl wegen einer Kantonsgrenze nicht zum
Pflichtverteidiger habe bestellen lassen können. Mit dem Mandat, für eine
unbemittelte Partei als amtlicher Verteidiger tätig zu werden, übernimmt
der Anwalt keinen privaten Auftrag. Es kann verbindlich nur durch den
Kanton selbst erteilt werden und stellt die Übernahme einer staatlichen
Aufgabe dar. Der Anwalt tritt damit zum Staat in ein Verhältnis, das vom
kantonalen öffentlichen Recht bestimmt wird und deshalb nicht der Handels-
und Gewerbefreiheit untersteht (BGE 109 Ia 109 E. 2b; 105 Ia 71 E. 4a; 95
I 410 f.; 60 I 13). Kann sich aber der Anwalt selbst zur Erlangung eines
solchen Auftrages nicht auf die Handels- und Gewerbefreiheit berufen,
so kann dies auch die Partei nicht (BGE 95 I 411 E. 4).