Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IA 357



113 Ia 357

55. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 3. November 1987 i.S. Stadt Chur gegen X. und Mitbeteiligte und
Y. und Mitbeteiligte sowie Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Wohlerworbene Rechte; Aufhebung von Privatgrabstätten.

    Wohlerworben sind diejenigen Rechte einer Konzession, welche nicht
durch einen Rechtssatz, sondern aufgrund freier Vereinbarung der Parteien
entstanden sind (E. 6a/cc).

    Allgemeine Voraussetzungen für die Beschränkung von wohlerworbenen
Rechten unter dem Titel der Eigentumsgarantie (E. 6b).

Sachverhalt

    A.- Die Stadt Chur erstellte 1862 den neuen Friedhof Daleu mit
einer Fläche von 1600 Klaftern (1 Klafter = 4,41 m2). Sie finanzierte
den Gesamtaufwand von Fr. 25'816.-- in erheblichem Umfang, nämlich
Fr. 9'000.--, durch den "Verkauf" von Familiengräbern, wobei pro Klafter
Fr. 75.-- zu bezahlen waren. Diese Geschäfte wurden in sogenannten
Legitimationsscheinen festgehalten. Diese stammen für das Verfahren X. vom
25. September 1862 und für das Verfahren Y. und Mitbeteiligte aus dem
Zeitraum 1877 bis 1920.

    Mit Brief vom 31. März 1986 erhielten die privaten Beschwerdegegner
vom Bestattungsamt der Stadt Chur die Mitteilung, es sei ihnen bzw. ihrem
Rechtsvorgänger dannzumal eine Konzession verliehen worden. Nach dem
städtischen Gesetz über das Bestattungs- und Friedhofwesen vom 7. Juli
1974 erlösche das Nutzungsrecht an einem Privatgrab nach 40 Jahren. Der
Beliehene habe nach Ablauf der Nutzungszeit gegenüber andern Bewerbern das
Vorrecht, das bisher benützte Privatgrab gegen Entrichtung der geltenden
Taxe erneut für 40 Jahre in Anspruch zu nehmen. Es werde festgestellt,
dass die gesetzliche Konzessionsdauer abgelaufen sei. Die Adressaten
wurden daher aufgefordert, den beigelegten Konzessionsschein innert Frist
unterzeichnet zurückzuschicken und die Gebühr zu entrichten (im Falle von
Y. Fr. 3'400.--). In denjenigen Fällen, in denen noch nicht 20 Jahre seit
der letzten Erdbestattung verflossen waren, war das Bestattungsamt bereit,
die Konzession noch für den Rest dieser Grabesruhe kostenlos weiterlaufen
zu lassen. Der Stadtrat wies die dagegen erhobenen Beschwerden mit
Entscheiden vom 24. September 1986 ab.

    Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden jedoch hiess,
nachdem es einen Augenschein durchgeführt hatte, mit zwei Urteilen vom
4. Februar/4. Mai 1987 die dagegen eingereichten Rekurse im Sinne der
Erwägungen gut.

    Die Stadt Chur erhob am 12. Juni 1987 gegen beide Urteile je eine
staatsrechtliche Beschwerde.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab

Auszug aus den Erwägungen:

                  aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- Zunächst ist zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht ohne Willkür
feststellen durfte, das Gesetz über das Bestattungs- und Friedhofwesen
der Stadt Chur vom 7. Juli 1974 biete keine gesetzliche Grundlage für
eine Einschränkung der als Konzession betrachteten Legitimationsscheine.

    a) Das Verwaltungsgericht führt dazu in den angefochtenen Entscheiden
aus, im Gesetz über das Bestattungs- und Friedhofwesen der Stadt Chur vom
7. Juli 1974 werde mit keiner Silbe erwähnt, altrechtliche Konzessionen
würden durch das neue Gesetz in irgendeiner Weise tangiert. Es würden ganz
offensichtlich nur die Fälle der Verleihung neuer sowie die Erneuerung
bestehender, inzwischen abgelaufener Konzessionen geregelt. Daraus
dürfe aber nicht auch eine stillschweigende Beschränkung noch andauernder
altrechtlicher Konzessionen gefolgert werden. Die Konzessionsdauer sei ein
wesentlicher Bestandteil der Verleihung, denn sie sei mitbestimmend für
das Ausmass der Verpflichtungen, die der Konzessionär übernehme. Eine
einseitige Abänderung der Konzessionsdauer treffe das verliehene
Nutzungsrecht in seiner Substanz, weshalb das Gesetz dies besonders
aussprechen müsse, was vorliegend nicht der Fall sei.

    b) Die Beschwerdeführerin macht nicht geltend, entgegen der Auffassung
des Verwaltungsgerichts ergebe sich aus dem Gesetz über das Bestattungs-
und Friedhofwesen der Stadt Chur vom 7. Juli 1974 ausdrücklich, dass
die altrechtlichen, noch nicht abgelaufenen Konzessionen auf eine
bestimmte Zeitdauer befristet seien. Sie beruft sich indessen auf die
Bestattungsordnung für die Stadt Chur vom 16. November 1923. Darin werde
ausdrücklich je nach Vereinbarung eine Begrenzung von 60 oder 80 Jahren
normiert (§ 10) und zudem die Möglichkeit festgehalten, dass die Aufhebung
eines Friedhofes verfügt werden könne (§ 11). Die Beschwerdeführerin
verkennt aber offensichtlich, dass diese Bestattungsordnung bereits mit dem
Gesetz über das Bestattungs- und Friedhofwesen der Stadt Chur vom 23. Juni
1957 aufgehoben wurde (Art. 26 Abs. 2) und somit für die Beantwortung
der Frage, ob eine Beschränkung altrechtlicher, noch nicht abgelaufener
Konzessionen möglich sei, nicht mehr massgebend sein kann. Der Vorwurf
willkürlicher Rechtsanwendung durch das Verwaltungsgericht ist somit
nicht belegt. Im übrigen ist auch sonst nicht ersichtlich, inwiefern die
angefochtenen Entscheide in dieser Hinsicht völlig unhaltbar sein sollten.

    Man kann zusätzlich auf die bereits von der Beschwerdeführerin
angerufene Bestimmung der Bestattungsordnung für die Stadt Chur aus dem
Jahre 1923 hinweisen. Wenn noch damals die Dauer entweder auf 60 oder
auf 80 Jahre vereinbart werden konnte, so dürfen an ein Gesetz, das eine
generelle Verkürzung auf 40 Jahre anordnen will, ohne Willkür besonders
hohe Anforderungen gestellt werden; eine derartige Rückwirkung hätte
deutlich zum Ausdruck gebracht werden müssen. Auch das Gesetz über das
Bestattungs- und Friedhofwesen der Stadt Chur vom 23. Juni 1957 schafft
lediglich die Möglichkeit, für die Zukunft Privatgräber auf 60 Jahre zur
Verfügung zu stellen, von einer Anwendung der Befristung auf bestehende
Rechte ist keine Rede (Art. 14). Auch damit sollte keine Neuerung
eingeführt werden (Botschaft des Stadtrates an die Einwohnergemeinde
der Stadt Chur vom 20. Mai 1957). Um gegen diese Argumente aufzukommen,
reicht es nicht, einfach den Gegenstandpunkt zu vertreten; soweit in den
Beschwerden lediglich die Meinung vertreten wird, eine Rückwirkung sei
zulässig, gehen die Ausführungen am zu entscheidenden Problem vorbei.

Erwägung 6

    6.- Das Verwaltungsgericht hielt das Vorgehen der Stadt Chur überdies
für verfassungsrechtlich verfehlt. Diese Frage überprüft das Bundesgericht
auch im Rahmen einer Autonomiebeschwerde frei (BGE 110 Ia 206 E. 2a;
104 Ia 127 E. 2b).

    a) aa) Das Verwaltungsgericht nimmt an, die Rechte an den
Privatgräbern seien Sondernutzungsrechte an Sachen im öffentlichen
Gebrauch im Sinne des alten (§ 225 des Bündnerischen Civilgesetzbuches
von 1862, CGB; Art. 130 Abs. 2 aEGZGB) und des geltenden (§ 150 Abs. 2
EGZGB) Sachenrechts. Soweit ihr Inhalt gestützt auf die im Zeitpunkt
der Ausstellung der Legitimationsscheine jeweils geltende Gesetzgebung
durch Vereinbarung bestimmt worden sei, liege ein wohlerworbenes Recht
vor. Zwar enthielten die Legitimationsscheine keine Bestimmung über
eine zeitliche Begrenzung; vielmehr lasse die in allen Konzessionen
festgeschriebene Zulässigkeit der Vererbung theoretisch eine ewige
Dauer der verliehenen Rechte zu. Ein Vertragsverhältnis mit zeitlich
unbeschränkter Verbindlichkeit könne es aber nicht geben. Die ewige Dauer,
welche faktisch der Veräusserung der im Gemeingebrauch stehenden Sache
gleichkäme, sei auch aufgrund von § 225 CGB und Art. 130 aEGZGB untersagt,
welche den Erwerb durch Zueignung ausdrücklich verbieten würden.

    bb) Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass vertragliche
Vereinbarungen in einer Konzession und damit auch eine vereinbarte Dauer,
wohlerworbene Rechte begründen; sie macht aber geltend, das Gericht habe
übersehen, dass die Konzessionsdauer in den Legitimationsscheinen eben
gerade nicht festgelegt sei. Dies trifft offensichtlich nicht zu. Wie die
in E. 6a/aa zitierten Ausführungen zeigen, erkannte das Verwaltungsgericht
sehr wohl, dass die durch die Legitimationsscheine verliehenen Konzessionen
nicht beschränkt sind. Gestützt auf die von ihm als massgebend betrachteten
Normen kam es indessen zum Schluss, unbeschränkte, ewige Verleihungen seien
rechtlich nicht zulässig. Die tatsächliche Geltungsdauer der im Streite
liegenden Legitimationsscheine sei deshalb gestützt auf dasjenige Recht,
das im Zeitpunkt der Ausstellung der einzelnen Legitimationsscheine
jeweils galt, durch richterliche Auslegung zu ermitteln. Demgegenüber
ist die Beschwerdeführerin der Meinung, die Rechtsstellung der Beliehenen
in bezug auf die Dauer der Konzession beruhe unmittelbar auf zwingendem
Recht, nämlich auf § 225 CGB sowie auf den Begräbnisordnungen von 1862,
1876 und 1896. Demzufolge könne das Verwaltungsgericht hinsichtlich
dieser Frage nicht eine richterliche Lückenfüllung vornehmen und damit
die Nichtregelung der Konzessionsdauer der vertraglichen Seite zuweisen
und als wohlerworbenes Recht qualifizieren.

    cc) Es entspricht bundesgerichtlicher Praxis, diejenigen Rechte
innerhalb einer Konzession als wohlerworben einzustufen, welche nicht
durch einen Rechtssatz, sondern aufgrund freier Vereinbarung der Parteien
entstanden sind (Urteil vom 10. April 1985, E. 2b, im ZBl 86/1985, S. 498
ff., S. 500 mit weiteren Hinweisen). Ob dies vorliegend für die Dauer
der Privatgrabstätten der Fall ist, prüft das Bundesgericht, da es sich
um eine Frage des kantonalen und gemeindeeigenen Gesetzesrechts handelt,
nur auf Willkür hin.

    Wie bereits in E. 5b ausgeführt, bestätigte die Bestattungsordnung
für die Stadt Chur von 1923 ausdrücklich, dass die Benützungsdauer für
die Privatgrabstätten je nach Vereinbarung 60 oder 80 Jahre sein könne.
Demgegenüber enthalten die Begräbnisordnungen von 1862, 1876 und 1893
keine derartigen Regelungen; sie legen aber die Dauer der Konzession
auch nicht selber fest und entziehen damit diese Kompetenz auch nicht
ausdrücklich der freien Vereinbarung durch die Parteien. Sie bestimmen
einzig, die Privatgrabstätten dürften nicht veräussert werden und
könnten nur durch Vererbung auf andere Personen übergehen. Im gleichen
Sinn normiert auch § 225 CGB, die "Privat-Berechtigungen" an Sachen, die
zum öffentlichen Gebrauch bestimmt seien, könnten weder durch Zueignung
noch durch Ersitzung erworben werden. Es lässt sich somit nicht sagen,
das Verwaltungsgericht habe klares Recht verletzt, wenn es davon ausging,
die Dauer der aus den Legitimationsscheinen fliessenden Benützungsrechte
sei nicht generell-abstrakt festgelegt, sondern im Rahmen der gesetzlichen
Schranken frei vereinbar gewesen und stelle damit ein wohlerworbenes
Recht dar. Daran ändert nichts, dass die einzelnen Legitimationsscheine
keine zeitliche Beschränkung enthalten und dieser an sich notwendige
Punkt nun durch richterliche Lückenfüllung zu entscheiden ist, denn auch
verwaltungsrechtliche Verträge können durch solche Interpretation ergänzt
werden (vgl. dazu BGE 96 I 288 E. 4).

    b) Auch wenn ein wohlerworbenes Recht auf die Konzessionsdauer
anerkannt wird, kann eine Beschränkung Platz greifen, denn auch
solche Rechte bewirken keine Bindung, die in ihrer Tragweite über die
Eigentumsgarantie hinausgeht. Eingriffe in wohlerworbene Rechte sind
somit zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im
überwiegendem öffentlichen Interesse liegen, verhältnismässig sind sowie
voll entschädigt werden, sofern sie einer Enteignung gleichkommen (BGE
112 Ia 278 E. 5a; Urteil des Bundesgerichts vom 10. April 1985, E. 3c,
im ZBl 86/1985, S. 501 f.). Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheide
gestützt auf diese Grundsätze gefällt. Es ist dabei zum - bereits als
nicht willkürlich beurteilten (E. 5) - Schluss gekommen, dass das geltende
Recht keine gesetzliche Grundlage für die einseitig, von der Stadt Chur
mit Verfügungen vom 31. März 1986 für die altrechtlichen, noch nicht
abgelaufenen Privatgrabstätten festgelegte Dauer bietet. Folglich braucht
auf die weiteren Erwägungen nicht mehr eingegangen zu werden. Es ist nicht
Sache des Bundesgerichts, heute Richtlinien für künftige Entscheidungen
zu geben.