Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IA 26



113 Ia 26

5. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 7. April 1987 i.S. S.
gegen X. AG und Mitbeteiligte, Handelsgericht und Kassationsgericht des
Kantons St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Zuständigkeit des Kassationsgerichts, Zulässigkeit der
staatsrechtlichen Beschwerde bei Verzicht auf die eidgenössische Berufung
(Art. 4 BV, Art. 426 Abs. 2 ZP/SG).

    1. Ist die kantonale Nichtigkeitsbeschwerde nur zulässig, soweit keine
eidgenössische Berufung möglich ist, so kann ihre Zulässigkeit willkürfrei
auch bei vertraglichem Verzicht auf die Berufung verneint werden (E. 1).

    2. Bei gültigem Verzicht auf das ordentliche Rechtsmittel der
eidgenössischen Berufung kann nicht ersatzweise staatsrechtliche Beschwerde
wegen verfassungswidriger Anwendung von Bundeszivilrecht erhoben werden
(E. 3a).

    3. Schranken des Verzichts (E. 3b).

Sachverhalt

    A.- Mit Gesellschaftsvertrag vom 25. Mai 1979 schlossen sich S., die
X. AG und zwei weitere Firmen zu einer einfachen Gesellschaft zusammen,
deren Zweck einerseits in der Aufteilung des Marktes eines bestimmten
Vertragsgebiets in feste Marktanteile (Kontingente) und anderseits in
der Durchsetzung einheitlicher Preise und Konditionen gegenüber den
Abnehmern bestand. Die Parteien sahen für Kontingentsüberschreitungen
eine Ausgleichsabgabe und für jede Vertragsverletzung überdies eine
Konventionalstrafe von Fr. 10'000.-- vor. Ein durch Dr. D. geführtes
Sekretariat hatte unter anderem als Inkassostelle zu amten und die
Einhaltung der Kontingente zu überwachen. Gemäss Ziffer 22 des Vertrags
sollten sämtliche damit zusammenhängenden Streitigkeiten vorbehältlich
der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde durch das Handelsgericht des Kantons
St. Gallen "als einzige und letzte Instanz" beurteilt werden.

    Nach Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gesellschaftern hielt das
Sekretariat für S. eingegangene Zahlungen über insgesamt Fr. 262'895.30
mit der Begründung zurück, der Betrag werde mit von S. verwirkten
Konventionalstrafen verrechnet.

    B.- Die Klage von S. gegen die übrigen Gesellschafter auf Auszahlung
der zurückbehaltenen Summe hiess das Handelsgericht des Kantons St. Gallen
am 19. Dezember 1985 vollumfänglich, die von den Beklagten erhobene
Widerklage auf Zahlung von 3 Millionen Franken Konventionalstrafe und
Fr. 3'790.-- Ausgleichsabgaben im Umfang von Fr. 702'145.-- gut und
verpflichtete den Kläger zur Zahlung des Saldos von Fr. 439'249.70 nebst
Zins. Eine Nichtigkeitsbeschwerde des Klägers wies das Kassationsgericht
des Kantons St. Gallen am 22. August 1986 ab, soweit es darauf eintrat.

    C.- Der Kläger hat die Urteile des Handels- und des Kassationsgerichts
mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV
angefochten, die das Bundesgericht abweist, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das Kassationsgericht ist auf die Nichtigkeitsbeschwerde
nicht eingetreten, soweit der Beschwerdeführer mit ihr eine Verletzung
eidgenössischen Rechts durch unrichtige Auslegung des Gesellschaftsvertrags
und unzutreffende Anwendung von Art. 163 Abs. 3 OR gerügt hat. Zur
Begründung führt das Kassationsgericht im wesentlichen aus, nach
Art. 426 Abs. 2 ZP/SG sei die Nichtigkeitsbeschwerde gegen ein Urteil
des Handelsgerichts nur insoweit zulässig, als das Erkenntnis nicht mit
Berufung oder zivilrechtlicher Beschwerde beim Bundesgericht angefochten
werden könne. Die vom Beschwerdeführer behauptete Verletzung von
Bundesrecht wäre mit Berufung anfechtbar gewesen, hätten die Parteien
nicht unter Ziffer 22 des Gesellschaftsvertrages gültig auf dieses
Rechtsmittel verzichtet. Durch diesen Verzicht werde nicht eine
Überprüfungsbefugnis des Kassationsgerichts anstelle derjenigen des
Bundesgerichts geschaffen. Andernfalls könnten die Parteien die Kognition
des Kassationsgerichts erweitern und mit der Nichtigkeitsbeschwerde Rügen
erheben, die zwingendes Verfahrensrecht ausschliesse.

    Der Beschwerdeführer wirft dem Kassationsgericht vor, es habe damit
seine Kognition willkürlich eingeschränkt und ihm das rechtliche Gehör
verweigert. Der vertragliche Ausschluss der Berufung könne nicht zu einer
grösseren Beschränkung der Kognition des Kassationsgerichts führen, als
wenn die Berufung aufgrund einer gesetzlichen Vorschrift ausgeschlossen
sei. Überdies setze sich das Kassationsgericht in Widerspruch zu
Art. 427 Ziff. 1 ZP/SG und zu seiner bisherigen Praxis. Schliesslich
wäre es willkürlich, wenn der Beschwerdeführer wegen des im Jahr 1979
erklärten Verzichts auf die Berufung jeder Möglichkeit beraubt würde,
eine Vertragsauslegung zu rügen.

    a) Da nicht ein unmittelbar aus Art. 4 BV hergeleiteter, vom
Bundesgericht frei zu prüfender Anspruch in Frage steht, namentlich
keine Verletzung der verfassungsrechtlichen Minimalgarantie des
rechtlichen Gehörs dargetan wird (BGE 112 Ia 5 E. 2b mit Hinweisen, BGE
111 Ia 274 E. 2a und 166 E. 2a mit Hinweisen), ist die Zuständigkeit des
Kassationsgerichts ausschliesslich eine Frage des kantonalen Rechts, dessen
Anwendung das Bundesgericht nur auf Willkür überprüft. Willkür im Sinn
von Art. 4 BV liegt bei der Auslegung und Anwendung von Gesetzesnormen
nicht schon dann vor, wenn eine andere Auslegung ebenfalls vertretbar
oder gar zutreffender erschiene. Das Bundesgericht greift erst dann ein,
wenn der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist (BGE 112 Ia
27 E. 1c mit Hinweisen).

    b) Es ist offensichtlich haltbar, aufgrund von Art. 426 Abs. 2
ZP/SG die Überprüfung der Anwendung von Bundeszivilrecht durch das
Kassationsgericht auf die Fälle zu beschränken, in denen eine Überprüfung
durch das Bundesgericht von Gesetzes wegen ausgeschlossen ist. Weder
Gründe der Gleichbehandlung noch Art. 427 Ziff. 1 ZP/SG gebieten es, auch
derjenigen Partei eine Kontrollmöglichkeit durch das Kassationsgericht
zu eröffnen, die freiwillig auf die Kontrolle durch das Bundesgericht
verzichtet hat und sich deshalb nicht darüber beklagen kann, sie sei
jeder Möglichkeit beraubt worden, eine Vertragsauslegung zu rügen. Art.
427 Ziff. 1 ZP/SG nennt zwar als Nichtigkeitsgrund unter anderem die
Verletzung einer Bestimmung des Bundesrechts, die auf die Beurteilung der
Streitsache von wesentlichem Einfluss ist. Dadurch wird jedoch die auf
Fälle von Streitsachen unter Fr. 8'000.-- beschränkte Zulässigkeit der
mit Nichtigkeitsbeschwerde anfechtbaren Verletzungen von Bundeszivilrecht
(LUTZ, Kommentar, N. 6 zu Art. 426 ZP/SG) nicht erweitert. Unbehelflich
ist auch der Hinweis auf ein früheres Urteil des Kassationsgerichts, räumt
doch der Beschwerdeführer selbst ein, dass in jenem Entscheid die Berufung
von Gesetzes wegen, also nicht zufolge eines vertraglichen Verzichts
ausgeschlossen war. Der vorliegende Verzicht ist im übrigen nicht dem
Vorausverzicht auf die Nichtigkeitsbeschwerde gleichzusetzen, den das
Kassationsgericht im angefochtenen Urteil ausdrücklich als unzulässig
erachtet. Der zu beurteilende Sachverhalt weist vielmehr eine Parallele
zum in BGE 98 Ia 647 beurteilten auf, wo das Bundesgericht beim Verzicht
auf die Anrufung einer oberen kantonalen Instanz aus ähnlichen Erwägungen
wie das Kassationsgericht nicht auf eine staatsrechtliche Beschwerde
eingetreten ist (S. 648 f. E. 2).

Erwägung 3

    3.- Schliesslich macht der Beschwerdeführer geltend, das Handelsgericht
habe es in willkürlicher Anwendung von Art. 163 Abs. 3 OR und unter
Verletzung der Rechtsgleichheit, der Verhältnismässigkeit und des
Gebotes der schonenden Rechtsausübung abgelehnt, die auf Fr. 650'000.--
festgesetzte ruinöse Konventionalstrafe für Preisreduktionen zu
ermässigen. Der umfangreichen Beschwerdebegründung lässt sich im
wesentlichen entnehmen, dass der Beschwerdeführer dem Handelsgericht
vorwirft, die Konventionalstrafe in Beziehung zum Gesamtumsatz von
rund 1,4 Millionen Franken und nicht in Beziehung zu den tatsächlich
gewährten Rabatten von lediglich Fr. 11'729.50 oder zum Umsatz von
rund Fr. 280'000.-- gesetzt zu haben, den der Beschwerdeführer mit
den Rabattlieferungen erzielt haben will. Gleich wie bei der auf
Fr. 50'000.-- herabgesetzten Konventionalstrafe für überhöhte Preise
hätte berücksichtigt werden müssen, dass viele Baustellen mit einer Menge
unter 5 m3 Beton beliefert worden seien. Der Verdacht liege nahe, dass es
den Beschwerdegegnerinnen mit der Konventionalstrafe darum gegangen sei,
einen missliebigen Konkurrenten aus dem Weg zu schaffen.

    a) Die Mitanfechtung des handelsgerichtlichen Urteils hält zwar
vor dem Fristerfordernis von Art. 89 Abs. 1 OG stand, ist doch das
Kassationsgericht wenigstens teilweise auf die Nichtigkeitsbeschwerde
eingetreten (BGE 109 Ia 250 E. 1 mit Hinweisen); die Verfassungsrügen,
die das Kassationsgericht nicht prüfen durfte, können an sich noch mit
einer staatsrechtlichen Beschwerde gegen das handelsgerichtliche Urteil
erhoben werden (BGE 104 Ia 83 E. 2b mit Hinweisen insbesondere auf BGE 94
I 462 E. 2a bb). Dagegen stellt sich die Frage, ob ein gültiger Verzicht
auf das ordentlicherweise offenstehende Rechtsmittel der Berufung es
auch ausschliesst, das Urteil des Handelsgerichts anstelle der Berufung
mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen verfassungswidriger Anwendung von
Bundeszivilrecht anzufechten. Das ist in Anlehnung an den Grundgedanken
von BGE 98 Ia 648 f. E. 2, wonach ein Verzicht auf die Weiterziehung an
eine kantonale Rechtsmittelinstanz eine staatsrechtliche Beschwerde gegen
den unterinstanzlichen Entscheid ausschliesst, zu bejahen. Bereits in BGE
66 I 175 f. hat das Bundesgericht angenommen, dass eine staatsrechtliche
Beschwerde wegen Willkür nicht mehr möglich ist, wenn die Parteien
vereinbart haben, ihre Streitigkeit durch eine einzige kantonale Instanz
beurteilen zu lassen. Dass die Gesellschafter im vorliegenden Fall nicht
auf eine kantonale Rechtsmittelinstanz verzichtet haben, macht für die
Zulässigkeit der staatsrechtlichen Beschwerde keinen Unterschied.

    b) Wie das Kassationsgericht geht auch der Beschwerdeführer davon aus,
dass gültig im voraus auf die Berufung an das Bundesgericht verzichtet
worden sei. Das lässt sich auf eine alte Rechtsprechung stützen, die
einen solchen Vorausverzicht zulässt, wenn ein Streitobjekt vorliegt,
über das die Parteien frei verfügen können (so schon BGE 33 II 207
f. E. 5, 48 II 133 f. E. 3; BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, S. 76 N. 2d;
GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 502; zur
Schranke der Verzichtsmöglichkeit BGE 79 II 236 ff. E. 3). Demgegenüber
sind die höchstpersönlichen und unveräusserlichen subjektiven Rechte
der Parteidisposition entzogen und damit als Prozessgegenstand einem
Rechtsmittelverzicht nicht zugänglich. Dazu zählen etwa persönliche Status-
und Familienrechte (BGE 79 II 237), gewisse Persönlichkeitsrechte (im
wirtschaftlichen Bereich namentlich die Schutzrechte aus Art. 27 ZGB)
oder die unverjährbaren und unverzichtbaren Grundrechte (BGE 74 I 283
f.). Ein in diesem Sinne unzulässiger Verzicht auf die Berufung könnte
jedoch nicht dazu führen, dass anstelle der Berufung die staatsrechtliche
Beschwerde zuzulassen wäre, sondern hätte vielmehr zur Folge, dass trotz
Verzichts auf eine Berufung eingetreten werden müsste. Eine solche Berufung
aber hätte hier im Anschluss an das handelsgerichtliche Urteil erhoben
werden müssen; die Frage einer allfälligen Umdeutung der staatsrechtlichen
Beschwerde in eine Berufung (vgl. BGE 110 II 56 E. 1a mit Hinweis) stellt
sich deshalb nicht, weil die Berufungsfrist nicht eingehalten wäre. Damit
kann das Bundesgericht auch nicht prüfen, ob im vorliegenden Fall eine
unzulässige Beschränkung der wirtschaftlichen Persönlichkeitsrechte des
Beschwerdeführers angenommen werden könnte.

    c) Selbst wenn angenommen würde, der Berufungsverzicht schliesse die
staatsrechtliche Beschwerde nicht aus, wäre darauf nicht einzutreten. Die
Ausführungen über die Herabsetzung der Konventionalstrafe genügen den
Anforderungen an die Substantiierung nicht (BGE 110 Ia 3 f. E. 2a mit
Hinweis).