Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IA 22



113 Ia 22

4. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
12. Juni 1987 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons
Solothurn (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    § 178 Abs. 1 StPO-SO; Verwirkung des Appellationsrechts, wenn
der Beschuldigte an der dem Gericht zuletzt angegebenen Adresse nicht
vorgeladen werden kann.

    Es ist sachlich nicht vertretbar, aus dem Umstand, dass sich der
Beschuldigte zur Zeit nicht an der dem Gericht zuletzt angegebenen Adresse
aufhält, zu schliessen, dass damit eine Vorladung an dieser Adresse nicht
möglich sei, und deshalb die Appellation als verwirkt zu erklären. Die
Vorladung kann möglicherweise Drittpersonen ausgehändigt werden; durch
die allfällige Entgegennahme der Vorladung durch diese Drittpersonen ist
die Zustellung vollendet (E. 2).

Sachverhalt

    A.- X. wurde vom Amtsgerichtspräsidenten von Olten-Gösgen am
14. Oktober 1986 der Verletzung von Verkehrsregeln und des pflichtwidrigen
Verhaltens bei Unfall schuldig gesprochen und zu einer Busse von
Fr. 500.-- verurteilt. Mit Schreiben vom 27. Oktober 1986 erklärte sein
Rechtsvertreter vollumfänglich die Appellation. Am 1. Dezember 1986
teilte ihm das Obergericht des Kantons Solothurn mit, der Präsident
der Strafkammer erachte die Appellation aufgrund der vorliegenden
Akten und nach vorläufiger Prüfung als aussichtslos, weshalb ihm der
Rückzug der Appellation empfohlen werde. Gleichzeitig wurde ihm Frist bis
29. Dezember 1986 angesetzt, um einen allfälligen Rückzug zu erklären oder
andernfalls Entlastungsbeweisanträge zu stellen. Der Verteidiger ersuchte
am 24. Dezember 1986 um Erstreckung dieser Frist bis 27. Januar 1987,
da es ihm noch nicht möglich gewesen sei, die Sache mit seinem Klienten
zu besprechen. Der Präsident der Strafkammer entsprach diesem Gesuch. Am
27. Januar 1987 teilte der Verteidiger indessen mit, er habe vernehmen
müssen, dass sich X. in Frankreich in Haft befinde. Er könne ihn deshalb
nicht erreichen und es fehle ihm auch eine nähere Adresse. Er ersuche daher
um vorläufige Sistierung des Verfahrens. Daraufhin erklärte das Obergericht
des Kantons Solothurn die Appellation mit Beschluss vom 2. Februar 1987 als
verwirkt. Es stützte sich hiebei auf § 178 Abs. 1 der Strafprozessordnung
des Kantons Solothurn vom 7. Juni 1970 (StPO), der wie folgt lautet:

    "Hat der Beschuldigte appelliert und kann er an der dem Gericht
   zuletzt angegebenen Adresse nicht vorgeladen werden oder bleibt er
   trotz gehöriger Vorladung in der Hauptverhandlung des Obergerichts aus,
   gilt die

    Appellation eine halbe Stunde nach dem Verhandlungstermin als verwirkt,
   ausser wenn das Obergericht den Beschuldigten auf Gesuch hin aus
   wichtigen

    Gründen vom Erscheinen dispensiert hat."

    Das Obergericht erwog, aus dem Schreiben des Verteidigers vom
27. Januar 1987 gehe hervor, dass der Aufenthaltsort des Beschuldigten
nicht bekannt sei. Eine Vorladung an "der dem Gericht zuletzt angegebenen
Adresse" im Sinne von § 178 Abs. 1 StPO sei deshalb nicht möglich und
die Appellation als verwirkt zu erklären.

    Eine gegen diesen Entscheid von X. erhobene staatsrechtliche Beschwerde
heisst das Bundesgericht gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Nach § 178 Abs. 1 StPO verwirkt der Beschuldigte, der trotz
gehöriger Vorladung in der Hauptverhandlung des Obergerichts unentschuldigt
ausbleibt, grundsätzlich sein Appellationsrecht. Dass diesem Tatbestand
derjenige gleichgestellt wird, bei dem der Beschuldigte an der dem
Gericht zuletzt angegebenen Adresse nicht vorgeladen werden kann, ist
folgerichtig. In diesem Fall wird der Beschuldigte, dem rechtsgültig
überhaupt keine Kenntnis vom Hauptverhandlungstermin gegeben werden kann,
regelmässig unentschuldigt nicht an der Hauptverhandlung erscheinen;
insoweit ist dem Obergericht beizupflichten, wenn es unter Hinweis
auf seinen Entscheid vom 23. September 1971 die Auffassung vertritt,
in diesem Fall könne die Appellation ohne weiteres abgeschrieben werden,
ohne dass der Termin aufrecht erhalten und die Wartefrist von einer halben
Stunde gemäss § 178 Abs. 1 StPO eingehalten werden müsste.

    b) Die Regelung von § 178 Abs. 1 StPO dispensiert das Obergericht nach
ihrem klaren Wortlaut davon, im Falle der Appellation des Beschuldigten
bei der Vorladung zur Hauptverhandlung seinerseits nach dessen aktuellem
Aufenthalt zu forschen. Der Beschuldigte kann vielmehr an seiner dem
Gericht zuletzt angegebenen Adresse gehörig vorgeladen werden. Wie das
Obergericht zutreffend ausführt, geht diese Regelung davon aus, es könne
vom Beschuldigten als Appellanten erwartet werden, dass er dem Gericht
einen allfälligen Adresswechsel mitteile. Unterlässt er dies, so hat er
die daraus entstehenden Folgen zu tragen. Namentlich hat er es sich selber
zuzuschreiben, wenn er infolge einer unterlassenen Benachrichtigung des
Gerichts über eine Adressänderung von der an die zuletzt angegebene Adresse
zugestellten Vorladung keine Kenntnis erhält, deshalb in der angesetzten
Hauptverhandlung unentschuldigt nicht erscheint und die Appellation in
der Folge als verwirkt erklärt wird.

    c) Das Obergericht geht davon aus, eine Vorladung an die zuletzt
angegebene Adresse sei im vorliegenden Fall gar nicht möglich, weil der
Aufenthaltsort des Beschuldigten, der sich offenbar in Frankreich in Haft
befinde, nicht bekannt sei. Diese Auffassung ist näher zu prüfen.

    Gemäss § 23 StPO werden Vorladungen in Strafsachen soweit als
möglich durch die Post, allenfalls durch den Weibel oder die Polizei
zugestellt. Kann der Adressat vom zustellenden Beamten nicht angetroffen
werden, ist eine Ersatzzustellung zulässig. Bei der Zustellung durch
die Post gelten als bezugsberechtigt die im gleichen Haushalt lebenden
erwachsenen Familienangehörigen (Art. 147 lit. b und 148 lit. b PVV).
Bei Zustellung durch den Weibel oder die Polizei kann die Vorladung
verschlossen einem volljährigen Angehörigen oder Hausgenossen ausgehändigt
werden (§ 23 Abs. 2 StPO). Zudem kann der Adressat einer Postsendung
eine Drittperson zum Empfang der an ihn adressierten Postsendungen
bevollmächtigen (Art. 149 PVV). Auch bei Zustellung durch den Weibel oder
die Polizei ist allenfalls eine Zustellbevollmächtigung zu beachten
(vgl. KLAUS BEAT LÄMMLI, Die Strafverfügung nach solothurnischem
Prozessrecht, Diss. Bern 1983, S. 151/152). Durch die Entgegennahme
der Vorladung durch diese Drittpersonen ist die Zustellung vollendet;
ob der Beschuldigte selber vom Inhalt wirklich Kenntnis nimmt oder nicht,
ist unerheblich.

    d) Dem Obergericht war der bisherige Wohnort des Beschuldigten
bekannt. Dafür, dass er diesen Wohnort endgültig verlassen hätte,
liegen keine Anhaltspunkte vor. Nach dem Gesagten bestand deshalb
durchaus die Möglichkeit, dass er an dieser Adresse gehörig hätte
vorgeladen werden können. Zwar hält sich der Beschwerdeführer offenbar
zur Zeit im Ausland auf und es hätte demnach die Gefahr bestanden,
dass er vom Verhandlungstermin keine oder verspätet Kenntnis erhalten
hätte. Indessen wäre es ohne weiteres möglich gewesen, dass er hierüber
von der Drittperson, die allenfalls die Vorladung in Empfang genommen
hätte, rechtzeitig orientiert worden wäre. Jedenfalls konnte diese
Möglichkeit nach der Aktenlage nicht mit Grund schlechthin ausgeschlossen
werden. Insofern lässt sich der vorliegende Fall nicht mit dem oben
erwähnten vergleichen, in dem eine Vorladung überhaupt nicht möglich
ist. Unter diesen Umständen war es sachlich nicht vertretbar, dass das
Obergericht die Appellation als verwirkt erklärt hat, und der angefochtene
Beschluss ist schon deshalb aufzuheben. Darüber hinaus liesse sich fragen,
ob eine gehörige Vorladung nicht auch an die Adresse des Verteidigers
hätte erfolgen können. Zwar vertritt die solothurnische Praxis offenbar
die Auffassung, die Vorladung in Strafsachen sei dem Beschuldigten
persönlich zuzustellen (MICHAEL BEGLINGER, Der Friedensrichter im
solothurnischen Recht, Diss. Basel 1985, S. 181). Es erscheint indessen
unter dem Gesichtswinkel des Anspruchs auf rechtliches Gehör als fraglich,
ob eine Appellation gestützt auf § 178 Abs. 1 StPO auch dann als verwirkt
erklärt werden kann, wenn der Beschuldigte zwar tatsächlich nicht an
der zuletzt angegebenen Adresse vorgeladen werden kann, eine Vorladung
am Domizil seines Verteidigers aber ohne weiteres möglich ist. Dies ist
jedoch hier nicht abschliessend zu entscheiden. Beizufügen ist immerhin,
dass auch bei der Zustellung an den Verteidiger aus dem Umstand, dass
diesem der Aufenthalt des Beschuldigten zur Zeit nicht bekannt war, nicht
hätte geschlossen werden dürfen, eine rechtzeitige Benachrichtigung über
den angesetzten Termin sei schlechthin unmöglich.