Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IA 214



113 Ia 214

34. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
24. März 1987 i.S. P. gegen Staatsanwaltschaft und Überweisungsbehörde
des Kantons Basel-Stadt (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 2 und 3 lit. c und d EMRK; Rechte des
flüchtigen Angeschuldigten im Untersuchungsverfahren.

    Es ist zumindest in der Anfangsphase der Untersuchung gerechtfertigt,
einem flüchtigen Angeschuldigten die sog. zusätzlichen Rechte gemäss §§
112 ff. StPO/BS (Verteidiger, Teilnahme an der Einvernahme von Zeugen
und Sachverständigen, Akteneinsicht) zu verweigern (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt führt gegen P., der unbekannten
Aufenthalts ist, ein umfangreiches Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des
gewerbsmässigen Betruges. Am 7. Februar 1986 ersuchte dessen Verteidiger
den ersten Staatsanwalt um Gewährung der sog. "zusätzlichen Rechte" gemäss
§§ 112 ff. der Strafprozessordnung des Kantons Basel-Stadt (StPO). Diese
Rechte umfassen die Zuziehung des Verteidigers und den Verkehr des
verhafteten Angeschuldigten mit ihm (§ 113), die Anwesenheit bei den
Beweiserhebungen (§ 114) und - wenn die Staatsanwaltschaft den Zweck
des Ermittlungsverfahrens als erreicht erachtet - die Akteneinsicht
(§ 115). Die Staatsanwaltschaft lehnte das Gesuch mit Schreiben
vom 10. Februar 1986 ab. Eine bei der Überweisungsbehörde erhobene
Beschwerde blieb ohne Erfolg. Das Bundesgericht weist die dagegen erhobene
staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer ist der Meinung, die Überweisungsbehörde
habe willkürlich erwogen, die "zusätzlichen Rechte" gemäss §§ 112 ff. StPO
seien grundsätzlich nur dem anwesenden Angeschuldigten zu gewähren, einem
abwesenden höchstens dann, wenn das Fernbleiben auf besondere Gründe
(wie Krankheit oder Dispensation) zurückzuführen sei. Er beruft sich
ausserdem auf die Verteidigungsrechte gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. c und
d EMRK sowie auf die Unschuldsvermutung gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK.

    b) Die Argumentation der Überweisungsbehörde erscheint angesichts
der gesetzlichen Systematik der unter der Überschrift "V. Rechte
des Angeschuldigten" stehenden §§ 108 ff. StPO zumindest nicht als
willkürlich. Die §§ 108-111 StPO regeln gleichsam die "ordentlichen"
Rechte, die dem Angeschuldigten in jedem Verfahren zustehen (§ 108:
Recht auf Gehör; § 109: Recht auf Antragstellung; § 110: Teilnahme
an Zeugeneinvernahmen und Augenscheinen, die voraussichtlich in der
Hauptverhandlung nicht wiederholt werden können; § 111: Teilnahme an der
Bestellung von Sachverständigen). Die §§ 112-115 enthalten gemäss dem
Sachtitel "Zusätzliche Rechte in schwierigen Fällen" die vorliegendenfalls
umstrittenen Parteirechte. Nach § 116 StPO sollen, wenn der Angeschuldigte
sich ausserhalb des Kantons aufhält und das Verfahren "deshalb durch
Beobachtung der Vorschriften der §§ 108-111 StPO wesentlich verzögert"
würde, diese Bestimmungen unanwendbar sein. Da die §§ 112-115 im Verhältnis
zu den §§ 108-111 entsprechend ihrer Bezeichnung als "zusätzliche Rechte"
konzipiert sind, lässt sich ohne Willkür erwägen, dass sie unter der
Voraussetzung des § 116 StPO ebenfalls verweigert werden können.

    Im übrigen sieht § 114 StPO die persönliche Anwesenheit des
Angeschuldigten und nur eventuell zusätzlich, nicht aber allein,
die Zulassung des Verteidigers bei Beweiserhebungen vor. Es ist somit
mindestens nicht willkürlich, den flüchtigen Angeschuldigten nicht besser
zu behandeln als den anwesenden.

    c) Auch die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 6 Ziff. 3
lit. c EMRK lässt bei Abwesenheit des Angeschuldigten Einschränkungen
seiner Rechte zu. Das Bundesgericht hat mehrfach festgehalten, dass das
Recht auf Waffengleichheit nur gewährleistet ist, wenn der Angeschuldigte
anwesend (oder allenfalls aus verständlichen Gründen verhindert oder aber
dispensiert) ist. Dagegen hat es ein Recht des flüchtigen Angeschuldigten,
sich durch einen Anwalt "vertreten" zu lassen, mit gutem Grund abgelehnt
(vgl. nicht veröffentlichte Urteile vom 4. März 1982 i.S. C., E. 5,
und vom 6. Oktober 1982 i.S. S., E. 3c/bb; HAEFLIGER, Alle Schweizer
sind vor dem Gesetze gleich, S. 154 f.; WILDHABER, Erfahrungen mit der
europäischen Menschenrechtskonvention, ZSR 98/1979 II S. 367).

    d) Was das Bundesgericht zu Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK erwogen
hat, lässt sich für alle hier in Frage stehenden "zusätzlichen
Rechte" verallgemeinern. Die strafprozessualen Parteirechte und
auch die Verfahrensgarantien der Bundesverfassung und der EMRK sind
darauf zugeschnitten, dass der Angeschuldigte als Verfahrenssubjekt
an der Strafuntersuchung teilnimmt und den Untersuchungsorganen
zur Verfügung steht, nötigenfalls auch unfreiwillig als Adressat
von Zwangsmassnahmen, die etwa zur Beweissicherung oder sonstwie zur
Wahrung des Verfahrenszweckes nötig sind. Es lässt sich deshalb durchaus
erwägen, der Angeschuldigte, der absichtlich darauf verzichtet, sich
zur Verfügung der Untersuchungsbehörde zu halten, verzichte insoweit
auch auf die ihm an sich zustehenden Mitwirkungsrechte. Diese Annahme
lässt es - wenigstens im Normalfall und in diesem Stadium - auch zu,
den Verteidiger von der gleichsam stellvertretenden Teilnahme an der
Untersuchung ganz oder teilweise auszuschliessen. Die Stellung als
Angeschuldigter kann insoweit als höchstpersönlich angesehen werden. Zu
berücksichtigen ist überdies auch die Überlegung, dass derjenige, der
sich aus freien Stücken dem Zugriff der Untersuchungsbehörden entzieht,
das Verfahren in nachhaltigerer Weise stören oder hindern - kurz:
kolludieren - kann. Waffengleichheit bedeutet auch, dass die Behörde
bestehender Kollusionsgefahr durch Untersuchungshaft begegnen kann.
Das Bestreben des Beschwerdeführers läuft im Ergebnis darauf hinaus,
Kollusionsmöglichkeiten zu schaffen, ohne sich der Gefahr der Verhaftung
auszusetzen. Das zu verhindern, ist weder willkürlich noch EMRK-widrig.

    e) Nicht stichhaltig ist die Rüge, es sei inkonsequent, den
Fall der Flucht des Angeschuldigten anders zu behandeln als andere
Gründe der Nichtteilnahme wie etwa Krankheit oder Dispensation. Wo
einem Angeschuldigten aus gesundheitlichen oder anderen Gründen die
persönliche Teilnahme an einer Strafuntersuchung nicht zuzumuten ist,
kann es sich - auch im Interesse der Wahrheits- und Rechtsfindung -
durchaus rechtfertigen, ihn über einen Vertreter mitwirken zu lassen. Eine
Ungleichbehandlung verschiedener Sachverhalte verletzt Art. 4 BV nicht.

    Offensichtlich unbegründet ist die Rüge des Beschwerdeführers,
die Qualifikation seiner Abwesenheit als "illegal" verletze die
Unschuldsvermutung. Es geht aus dem angefochtenen Entschluss hervor,
dass damit einzig die Abwesenheit durch Flucht von derjenigen durch
Krankheit oder Dispensation unterschieden werden wollte, ohne etwas über
die Strafbarkeit des Beschwerdeführers auszusagen.

    f) Diese Gründe rechtfertigen es zumindest - wie hier - in der
Anfangsphase einer Untersuchung, einen Verteidiger auszuschliessen und
ihm insbesondere auch die Teilnahme an der Einvernahme von Zeugen und
Sachverständigen - und die Akteneinsicht - zu verweigern. Zwar mag eine
gewisse Problematik im Umstand liegen, dass Zeugen, die ohne Mitwirkung
des Angeschuldigten oder seines Verteidigers aussagen, sich in einer
Weise festlegen könnten, dass die spätere Wiederholung der Einvernahme
im Beisein des Angeschuldigten bzw. des Verteidigers nur noch ein
unvollkommenes Gegengewicht bildete. Indessen ist dieses Teilnahmerecht
schon dem anwesenden Angeschuldigten nicht uneingeschränkt, sondern nur
mindestens einmal - spätestens an der Hauptverhandlung - gewährleistet
(BGE 105 Ia 396 ff., 104 Ia 319). Es besteht kein Grund, den abwesenden
Angeschuldigten günstiger zu behandeln. Dazu kommt, dass die Teilnahme des
Verteidigers an derlei Einvernahmen dem Angeschuldigten nur hilft, wenn der
Verteidiger über alle Details instruiert ist und mit dem Angeschuldigten
Rücksprache halten und diesen über den Stand des Verfahrens ins Bild
setzen kann. Bei einem flüchtigen und klarerweise kollusionsgefährlichen
Angeschuldigten ist das aber problematisch, weil der Angeschuldigte dann
aufgrund der Informationen, die er durch den gegenüber seinem Klienten
pflichtgemäss handelnden Anwalt notwendigerweise erhält, den Zweck der
Strafuntersuchung leicht vereiteln kann.

    g) Der Beschwerdeführer kritisiert schliesslich, dass einem
Verteidiger die angeordneten Zwangsmassnahmen nicht bekanntgegeben
worden seien. Er erhebt diesbezüglich aber keine ausdrückliche Rüge. Der
angefochtene Entscheid hat sich mit dieser Frage nicht befasst, und der
Beschwerdeführer macht deswegen auch nicht Rechtsverweigerung geltend. Auf
diese Ausführungen ist daher nicht näher einzugehen.