Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 V 74



112 V 74

13. Urteil vom 21. Februar 1986 i.S. Merian-Iselin-Spital gegen Perrin
und Krankenkassen-Schiedsgericht des Kantons Basel-Stadt Regeste

    Art. 55 VwVG. Zeitliche Auswirkungen des Suspensiveffekts einer
Beschwerde, wenn diese abgewiesen wird.

Sachverhalt

    A.- Im Kanton Basel-Stadt bestand zwischen den Basler Privatspitälern,
zu denen auch das Merian-Iselin-Spital gehört, und den Basler Krankenkassen
hinsichtlich des Tarifs für ambulante Behandlung ein vertragsloser
Zustand. In Anwendung von Art. 22quater Abs. 3 KUVG setzte daher der
Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt mit Beschluss vom 12. Mai 1981
diesen Tarif in der Weise fest, dass vom 1. Juli 1981 hinweg auf den
allgemeinen Basler Spitaltarifen eine Reduktion von 20% vorzunehmen sei.

    Gegen diesen Beschluss liessen das Merian-Iselin-Spital, die Basler
Privatspitäler-Vereinigung und weitere drei Institutionen gestützt auf Art.
22quinquies KUVG am 22. Juni 1981 beim Bundesrat Verwaltungsbeschwerde
führen, der das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement am 17. März
1982 die aufschiebende Wirkung entzog. Mit Entscheid vom 12. Januar 1983
trat der Bundesrat auf die Verwaltungsbeschwerde nicht ein (VPB 1982
Nr. 72 S. 465).

    B.- Am 3. Februar 1982 wurde die bei der Schweizerischen Krankenkasse
Helvetia versicherte Johanna Perrin im Merian-Iselin-Spital ambulant
untersucht, wofür ihr das Spital am 2. März 1982 in der Höhe von Fr. 306.--
Rechnung stellte, ohne die 20%ige Reduktion gemäss Regierungsratsbeschluss
vorzunehmen. Die Versicherte beglich die Rechnung, erhielt aber von der
Krankenkasse nur einen um den Selbstbehalt und um die 20% reduzierten
Betrag (Fr. 221.80) rückvergütet.

    C.- Nach Abschluss des Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesrat
verlangte Johanna Perrin vom Merian-Iselin-Spital die Rückerstattung von
20% des Rechnungsbetrages (Fr. 59.50). Nachdem hierüber keine Einigung
erzielt werden konnte, erhob die Krankenkasse für Johanna Perrin gemäss
Art. 25 Abs. 3 KUVG Klage beim Krankenkassen-Schiedsgericht des Kantons
Basel-Stadt. Sie verlangte vom Merian-Iselin-Spital die Rückerstattung
von Fr. 59.50 mit der Begründung, der Beschluss des Regierungsrates vom
12. Mai 1981 sei rückwirkend auf den 1. Juli 1981 in Kraft getreten;
daran ändere nichts, dass die Verwaltungsbeschwerde vom 1. Juli 1981 bis
17. März 1982 aufschiebende Wirkung gehabt habe, denn durch den Entscheid
des Bundesrates sei der Suspensiveffekt dahingefallen.

    Das Schiedsgericht hiess die Klage mit Entscheid vom 27. März 1984
gut und verhielt das Merian-Iselin-Spital zur Bezahlung von Fr. 59.50 an
die Versicherte.

    D.- Das Merian-Iselin-Spital lässt mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde
die Aufhebung dieses Entscheides und die Abweisung der Klage beantragen.

    Die Krankenkasse Helvetia trägt für Johanna Perrin auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an. Auch das Bundesamt für Sozialversicherung
stellt den Antrag, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Verwaltungsbeschwerde, welche das Merian-Iselin-Spital beim
Bundesrat einreichte, hatte gemäss Art. 55 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 77
VwVG aufschiebende Wirkung. Bis zum 17. März 1982, als das Eidgenössische
Justiz- und Polizeidepartement in Anwendung von Art. 55 Abs. 2 VwVG der
Beschwerde die aufschiebende Wirkung entzog, war somit der angefochtene
Regierungsratsbeschluss vom 12. Mai 1981, der am 1. Juli 1981 hätte
"in Wirksamkeit" treten sollen, nicht vollstreckbar. In diese Zeit
der fehlenden Vollstreckbarkeit fiel die ambulante Untersuchung der
Beschwerdegegnerin im Merian-Iselin-Spital, weshalb dieses in seiner
Rechnung vom 2. März 1982 die im Regierungsratsbeschluss vorgesehene
20%ige Reduktion zunächst zu Recht nicht vornahm.

    Es fragt sich aber, ob es dabei auch nach Erlass des bundesrätlichen
Beschwerdeentscheides sein Bewenden oder ob dieser einen Einfluss auf
die Geltung des Suspensiveffekts habe. Dabei spielt es keine Rolle,
dass der Bundesrat die Verwaltungsbeschwerde nicht materiell abwies,
sondern auf Nichteintreten aus prozessualen Gründen erkannte; denn in
beiden Fällen bewirkte der Entscheid, dass der Regierungsratsbeschluss
in Rechtskraft trat.

Erwägung 2

    2.- a) Die Frage, ob der angefochtene Regierungsratsbeschluss
während der Dauer des Suspensiveffekts der gegen ihn erhobenen
Verwaltungsbeschwerde auch dann nicht vollstreckt werden kann, wenn er im
Beschwerdeverfahren bestätigt wird, oder ob der den Beschluss bestätigende
Beschwerdeentscheid die rückwirkende Aufhebung des Suspensiveffekts
bewirkt, lässt sich nicht einheitlich ein für allemal beantworten. Es
kommt auf die Besonderheiten des Einzelfalles und auf die jeweilige
Interessenlage an (BGE 106 Ia 159 Erw. 5).

    b) Es gibt Fälle, in denen es gar nicht möglich ist, die Vergangenheit
rückgängig zu machen. So wäre es sinnlos, jemanden rückwirkend dazu zu
verpflichten, Vorsichtsmassnahmen zu ergreifen (KNAPP, Grundlagen des
Verwaltungsrechts, S. 132). Gleiches gilt bezüglich des rückwirkenden
Entzugs eines Führerscheins, den der Betroffene dank dem Suspensiveffekt
bis zum Datum des Endentscheides besass; abgesehen davon würde sich der
Motorfahrzeugführer im nachhinein einer Strafverfolgung aussetzen, wenn
er während des seinerzeit geltenden, nun aber rückwirkend aufgehobenen
Suspensiveffekts ein Motorfahrzeug geführt hätte (GRISEL, Traité de droit
administratif, S. 923; BGE 106 Ia 158 f.), eine Folge, die unhaltbar wäre.

    Sodann gibt es Fälle, in denen sich die nachträgliche Vollstreckung
für die Dauer des geltenden Suspensiveffekts aus praktischen Gründen
gar nicht realisieren liesse. So verhielt es sich bei der Beschwerde
einiger Erdölgesellschaften gegen eine Verfügung des Preisüberwachers,
mit welcher ihnen unter Entzug des Suspensiveffekts eine Preiserhöhung
untersagt worden war (BGE 99 Ib 215); eine nachträgliche Aufhebung des
Suspensiveffekts hätte jenen Firmen nichts genützt, weil es praktisch
unmöglich gewesen wäre, von allen in der Zwischenzeit belieferten Kunden
die Preisdifferenz nachzufordern (BGE 106 Ia 159).

    Anders verhält es sich diesbezüglich bei einer
Verwaltungsgerichtsbeschwerde betreffend die Erhöhung der Prämien
der Motorfahrzeughaftpflichtversicherung. Einerseits lässt sich die
Prämienerhöhung ohne weiteres nachfordern. Anderseits durfte die der
Beschwerde zuteil gewordene aufschiebende Wirkung nicht zur Folge haben,
dass die Versicherungsgesellschaften die erhöhten Prämien erst für die Zeit
nach dem bundesgerichtlichen Urteil über die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
hätten einfordern können. Denn es gilt der Grundsatz, dass die
aufschiebende Wirkung nicht dem unterliegenden Beschwerdeführer zum
Schaden des obsiegenden Beschwerdegegners einen materiell-rechtlichen
Vorteil bringen darf (GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl.,
S. 245, und GYGI, Aufschiebende Wirkung und vorsorgliche Massnahmen in der
Verwaltungsrechtspflege, in: ZBl 77/1976, S. 11 f.; BGE 106 Ia 158 ff.).

    c) Somit muss in jedem einzelnen Fall geprüft werden, welche Tragweite
vernünftigerweise dem Suspensiveffekt zuzumessen ist bzw. welchen
Zwecken er vernünftigerweise und legitimerweise dienen soll (BGE 106 Ia
159 Erw. 5). Diese Auffassung vertritt auch GRISEL (S. 922 f.). GYGI,
Bundesverwaltungsrechtspflege (S. 245), und KNAPP (S. 132 f.) neigen dazu,
in den meisten Fällen eine rückwirkende Aufhebung des Suspensiveffekts
anzunehmen. Dieselbe Betrachtungsweise lässt sich indirekt auch dem
Urteil BGE 105 V 266 entnehmen.

Erwägung 3

    3.- Demnach fragt es sich also auch im vorliegenden Fall, welche Gründe
für und welche gegen eine rückwirkende Aufhebung des Suspensiveffekts
sprechen.

    a) Der Beschwerdeführer weist zunächst darauf hin, dass eine
rückwirkende Aufhebung des Suspensiveffekts eine nachträgliche
Änderung einer Unzahl von Rechtsverhältnissen zur Folge hätte,
die zwischen dem 1. Juli 1981 und dem 17. März 1982 vollendet
worden sind. Selbst wenn dem so wäre, würde dies die nachträgliche
Vollstreckung des Regierungsratsbeschlusses für die fragliche Zeit
faktisch nicht verunmöglichen. Die Rechnungsunterlagen betreffend
die ambulanten Behandlungen zwischen dem 1. Juli 1981 und 17. März
1982 müssen beim Beschwerdeführer vorhanden sein, was erlauben würde,
ohne unzumutbaren administrativen Aufwand die 20%ige Reduktion gemäss
Regierungsratsbeschluss vorzunehmen und die entsprechenden Beträge
den Berechtigten zurückzuerstatten. Der nachträgliche Vollzug des
Regierungsratsbeschlusses erweist sich also weder als unmöglich, noch
zeitigt er unerwünschte oder unzumutbare Folgen.

    b) Der Beschwerdeführer meint ferner, es müsse unterschieden werden
zwischen den ordentlichen Rechtsmitteln einerseits, die sich gegen einen
noch nicht rechtskräftigen Entscheid richten, und den ausserordentlichen
Rechtsmitteln anderseits, die gegen einen rechtskräftigen Entscheid
gerichtet sind. Nur beim ausserordentlichen Rechtsmittel - das sich
gegen einen rechtskräftigen Entscheid richtet und wo die aufschiebende
Wirkung durch eine prozessleitende Verfügung angeordnet werden muss -
sei es denkbar, dass der Suspensiveffekt im Falle der späteren Abweisung
des Rechtsmittels rückwirkend auf den Zeitpunkt der bereits eingetretenen
Rechtskraft des angefochtenen Entscheides wieder dahinfalle. Im Gegensatz
dazu bestehe beim ordentlichen Rechtsmittel bis zum Endentscheid noch keine
Rechtskraft. Da es sich bei der Verwaltungsbeschwerde an den Bundesrat um
ein ordentliches Rechtsmittel handle, könne der Regierungsratsbeschluss
nicht vollstreckt werden, bevor er in Kraft getreten sei.

    Soweit sich der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang unter Hinweis
auf GULDENER (Schweizerisches Zivilprozessrecht) auf zivilprozessuale
Grundsätze beruft, sind seine Darlegungen nicht stichhaltig. Es
trifft zwar zu, dass die Unterscheidung zwischen ordentlichen und
ausserordentlichen Rechtsmitteln nicht nur dem Zivilprozess, sondern
auch dem öffentlichrechtlichen Prozess eigen ist. Aber es müssen
sich nicht notwendigerweise dieselben Folgerungen wie im Zivilprozess
ergeben. Bezüglich der aufschiebenden Wirkung im öffentlichrechtlichen
Prozess unterscheidet weder die Rechtsprechung noch die Lehre
zwischen ordentlichen Rechtsmitteln (Verwaltungsbeschwerde und
Verwaltungsgerichtsbeschwerde) und ausserordentlichen Rechtsmitteln
(z.B. staatsrechtliche Beschwerde). Der mehrfach zitierte BGE 106 Ia
155 betraf eine staatsrechtliche Beschwerde. Die Präjudizien, welche das
Bundesgericht in diesem Urteil anruft (BGE 99 Ib 51 und 215), hatten
aber gerade ordentliche Rechtsmittel zum Gegenstand. Und schliesslich
beziehen sich die Ausführungen in der Literatur ganz generell auf alle
Arten von Rechtsmitteln, wenn nicht gar vorwiegend auf die ordentlichen
(vgl. auch KNAPP, L'effectivité des décisions de justice, in: ZBl 86/1985,
S. 465 ff.).

    c) Einer der wesentlichsten Gesichtspunkte für die Beurteilung der
Streitfrage besteht darin, dass "der durch die aufschiebende Wirkung
ausgelöste Schwebezustand dem unterliegenden Beschwerdeführer nicht
zum Schaden des Beschwerdegegners einen Vorteil einbringen darf" (GYGI,
Bundesverwaltungsrechtspflege, S. 245; BGE 106 Ia 160). Das aber wäre der
Fall, wenn man der Auffassung des Beschwerdeführers folgen würde. Daran
vermag nichts zu ändern, was in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
vorgebracht wird.

    Demnach hat es bei der auf den 1. Juli 1981 rückwirkenden Aufhebung
des Suspensiveffekts sein Bewenden. Daraus ergibt sich, dass der
Beschwerdeführer verpflichtet ist, der Beschwerdegegnerin den Betrag von
Fr. 59.50 zurückzuerstatten.

Entscheid:

       Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.