Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 V 297



112 V 297

52. Urteil vom 16. Oktober 1986 i.S. Bachmann gegen Schweizerische
Krankenkasse Helvetia und Versicherungsgericht des Kantons Zürich Regeste

    Art. 39 UVG, Art. 50 UVV, Art. 14 Abs. 2 Vo III zum KUVG:
Wagnischarakter des Biplace-Deltaflugs.

    - Der Wagnisbegriff, der in der obligatorischen Unfallversicherung
- nach KUVG und UVG - massgebend ist, gilt auch in der sozialen
Krankenversicherung, wo sie das Unfallrisiko mit einschliesst (Erw. 1).

    - Der Flug mit einem zweiplätzigen Hängegleiter (Biplace) stellt kein
absolutes Wagnis dar (Erw. 2).

    - Im vorliegenden Fall ist ein relatives Wagnis anzunehmen, weil der
Biplace-Flug in Missachtung der geltenden Vorschriften und mit ungenügender
Ausbildung der Beteiligten unternommen wurde (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Die 1964 geborene Barbara Bachmann ist bei der Schweizerischen
Krankenkasse Helvetia u.a. gegen Unfälle versichert. Am 4. August 1983
unternahm sie als Passagierin zusammen mit dem Piloten S. im Raume
Fiesch einen Flug mit einem zweiplätzigen Hängegleiter. Nach einer
Flugzeit von rund einer Viertelstunde löste sich an ihrer Liegegurte eine
Beinschlaufe, worauf S. sich zu einer vorzeitigen Landung entschloss. Dazu
wählte er einen steilen Hang unterhalb des Startplatzes. Die Landung
missglückte. Barbara Bachmann zog sich erhebliche Verletzungen zu, u.a. den
Bruch von zwei Rückenwirbeln, und wurde gleichentags im Kreisspital
Brig hospitalisiert. Am 15. August 1983 meldete sie den Unfall bei der
Krankenkasse an.

    Mit Verfügung vom 24. Juli 1984 lehnte es die Krankenkasse ab, für die
Folgen des Hängegleiterunfalls vom 4. August 1983 Versicherungsleistungen
zu erbringen, weil Barbara Bachmann ein Wagnis eingegangen sei, das gemäss
Art. 46 Ziff. 1 lit. g der Kassenstatuten von der Versicherungsdeckung
ausgeschlossen sei; überdies liege eine Dritthaftpflicht vor.

    B.- Barbara Bachmann führte hiegegen Beschwerde mit dem Antrag auf
Zusprechung der statutarischen Versicherungsleistungen bei Unfall. Das
Versicherungsgericht des Kantons Zürich wies die Beschwerde mit Entscheid
vom 11. Dezember 1984 ab. In der Begründung wurde festgehalten, dass
der Flug vom 4. August 1983 als Wagnis im Sinne der Rechtsprechung
zu qualifizieren sei. Die in der Verordnung über bestimmte Fluggeräte
und Flugkörper vom 6. September 1976 umschriebenen Voraussetzungen für
Passagier- und Ausbildungsflüge mit zweiplätzigen Hängegleitern seien
nicht erfüllt gewesen: der Pilot S. sei nicht Fluglehrer gewesen; Barbara
Bachmann habe die Ausbildungsstufe I als Flugschülerin nicht abgeschlossen
gehabt, so dass das Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) keine Bewilligung
für den Passagierflug erteilt hätte.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert Barbara Bachmann das
im vorinstanzlichen Verfahren gestellte Rechtsbegehren. Die Krankenkasse
schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt
für Sozialversicherung beantragt, vor der Entscheidung des Rechtsstreits
sei beim BAZL eine Stellungnahme einzuholen.

    D.- Das Eidg. Versicherungsgericht zog die Akten des Strafverfahrens
bei, das im Zusammenhang mit dem Hängegleiterunfall vom 4. August 1983
beim Instruktionsgericht der Bezirke Brig, Östlich-Raron und Goms gegen S.
eingeleitet worden war. Ferner ersuchte das Gericht das BAZL um eine
Stellungnahme zu Gesichtspunkten flugtechnischer und luftrechtlicher Natur
sowie zu den von den Parteien eingereichten Fragen. Das BAZL äusserte sich
mit Schreiben vom 9. September 1985 zur luftrechtlichen Regelung und nahm
zu allgemeinen technischen Aspekten des Hängegleiterfliegens Stellung.

    Auf die Begründung der Rechtsschriften und die Darlegungen des BAZL
wird, soweit erforderlich, in den Erwägungen Bezug genommen.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Gestützt auf Art. 14 Abs. 2 Vo III zum KUVG (SR 832.140)
bestimmt Art. 46 Abs. 1 lit. g der Statuten der Krankenkasse Helvetia,
dass keine Versicherungsleistungen gewährt werden für Unfälle und deren
Folgen, die auf aussergewöhnliche Gefahren und Wagnisse oder Teilnahme
an Raufhandel zurückzuführen sind.

    b) Unter der Herrschaft des bis 31. Dezember 1983 geltenden Rechts war
die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gemäss Art. 67 Abs. 3
KUVG befugt, aussergewöhnliche Gefahren und Wagnisse von der Versicherung
gegen Nichtbetriebsunfälle auszuschliessen. Die Anstalt hat von dieser
Befugnis durch Verwaltungsratsbeschluss vom 31. Oktober 1967, welcher am
1. Januar 1968 in Kraft getreten ist, Gebrauch gemacht. Die Tatbestände,
die als ausserordentliche Gefahren galten, wurden in Ziff. I abschliessend
aufgezählt. Von der Versicherung der Nichtbetriebsunfälle waren gemäss
Ziff. II ebenfalls die Wagnisse ausgenommen. Als Wagnisse nach dieser
Bestimmung galten Handlungen, durch die ein Versicherter sich wissentlich
einer besonders grossen Gefahr aussetzt, welche durch die Handlung selbst,
die Art ihrer Ausführung oder die Umstände, unter denen sie ausgeführt
wird, gegeben sein oder in der Persönlichkeit des Versicherten liegen kann.

    Laut Art. 39 UVG (in Kraft seit 1. Januar 1984) hat der Bundesrat die
Befugnis, aussergewöhnliche Gefahren und Wagnisse zu bezeichnen, die in der
Versicherung der Nichtberufsunfälle zur Verweigerung sämtlicher Leistungen
oder zur Kürzung der Geldleistungen führen. Der Bundesrat hat gestützt auf
diese Bestimmung Art. 50 UVV erlassen. Dieser sieht in Abs. 1 vor, dass bei
Nichtbetriebsunfällen, die auf ein Wagnis zurückgehen, die Geldleistungen
gekürzt und in besonders schweren Fällen verweigert werden. Wagnisse sind
nach Art. 50 Abs. 2 UVV Handlungen, mit denen sich der Versicherte einer
besonders grossen Gefahr aussetzt, ohne die Vorkehren zu treffen oder
treffen zu können, die das Risiko auf ein vernünftiges Mass beschränken.

    Trotz abweichender Formulierung ist der Wagnisbegriff nach Art. 39
UVG in Verbindung mit Art. 50 Abs. 2 UVV identisch mit demjenigen nach
Art. 67 Abs. 3 KUVG/Beschluss des SUVA-Verwaltungsrates vom 31. Oktober
1967 und der dazu entwickelten Praxis. Das Eidg. Versicherungsgericht hat
diesbezüglich in einem neuesten Urteil zwischen absoluten und relativen
Wagnissen unterschieden und dazu folgendes dargelegt: Betätigungen,
deren inhärente grosse Risiken nicht auf ein vernünftiges Mass reduziert
werden können und daher zum vornherein als Wagnisse zu qualifizieren sind,
werden als absolute Wagnisse bezeichnet; bei den anderen Betätigungen
ist zu prüfen, ob sie an sich schützenswert sind ("intérêt digne de
protection") und ob der Versicherte die erforderlichen Vorkehren zur
Reduzierung der Gefahren auf ein vernünftiges Mass getroffen hat; ist
eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt, liegt ein relatives Wagnis vor
(BGE 112 V 47 Erw. 2a und b mit Hinweisen auf Lehre und Rechtsprechung).

    c) Der Wagnisbegriff, der in der obligatorischen Unfallversicherung
- nach KUVG und UVG - massgebend ist, gilt auch in der sozialen
Krankenversicherung, wo sie das Unfallrisiko mit einschliesst.

Erwägung 2

    2.- Das Deltasegeln kann im Extremfall ein absolutes Wagnis
darstellen. In den bisher vom Eidg. Versicherungsgericht beurteilten Fällen
traf dies nie zu, hingegen wurde anhand der konkreten Umstände geprüft,
ob ein relatives Wagnis vorlag (BGE 104 V 19; unveröffentlichtes Urteil
Jakober vom 1. Juli 1980; Urteil D. vom 27. September 1978, auszugsweise
veröffentlicht im SUVA-Rechtsprechungsbericht 1978 Nr. 6).

    In den genannten Urteilen ging es um Unfälle, die sich mit den üblichen
Einsitzer-Hängegleitern ereignet hatten. Im Gegensatz dazu ereignete
sich der Unfall der Beschwerdeführerin vom 4. August 1983 mit einem
zweiplätzigen Hängegleiter (Biplace), was indessen nicht erlaubt, ein
absolutes Wagnis anzunehmen. Denn auch beim Biplace-Flug ist es möglich,
dass Pilot und Begleiter die inhärenten Gefahren auf ein vernünftiges Mass
zu reduzieren vermögen, indem sie das geeignete Flugmaterial verwenden,
sich an die seiner Flugreichweite entsprechenden Routen halten, die von
den zuständigen Organen empfohlene Disziplin befolgen, die geltenden
Vorschriften berücksichtigen und die elementaren Regeln dieses Sportes
beachten (BGE 104 V 23 Erw. 2 am Ende; erwähntes Urteil Jakober vom
1. Juli 1980). Auch kann nicht generell gesagt, sondern muss von Fall
zu Fall beurteilt werden, ob diese Art sportlicher Betätigung noch als
schützenswert betrachtet werden kann. Es ist daher im folgenden zu prüfen,
ob ein relatives Wagnis vorliegt oder nicht.

Erwägung 3

    3.- a) Zur Zeit des Unfalls (am 4. August 1983) galten folgende
Vorschriften: Gemäss Art. 7 der Verordnung des EVED über bestimmte
Fluggeräte und Flugkörper vom 6. September 1976 (VFF; SR 748.941) waren
Biplace-Flüge grundsätzlich nicht gestattet. Indessen erteilte das BAZL
auf Gesuch hin Ausnahmebewilligungen unter genau umschriebenen Bedingungen:

    - Einzelbewilligungen an Hängegleiter-Fluglehrer für Ausbildungsflüge
mit Trägern des Hängegleiter-Pilotenausweises sowie mit Schülern mit
abgeschlossener erster Ausbildungsstufe;

    - Einzelbewilligungen an Träger des Hängegleiter-Pilotenausweises
für Flüge mit anderen Trägern dieses Ausweises (Stellungnahme des BAZL
vom 9. September 1985).

    Im vorliegenden Fall steht fest, dass eine Ausnahmebewilligung
weder erteilt wurde noch hätte erteilt werden können; denn weder
S. noch die Beschwerdeführerin erfüllten die Voraussetzungen:
S. war wohl Hängegleiter-Pilot, nicht aber Hängegleiter-Fluglehrer;
die Beschwerdeführerin war Schülerin ohne abgeschlossene erste
Ausbildungsstufe. Es handelte sich somit um einen zur Zeit des Unfalls
generell verbotenen Passagierflug. Seit Dezember 1984 erteilt das BAZL
allerdings auch für Passagierflüge Einzelbewilligungen, dies jedoch
nur an Hängegleiter-Fluglehrer, die zusätzlich einen besonderen Kurs
für Doppelsitzerflüge absolviert und eine entsprechende theoretische
und praktische Prüfung bestanden haben (Stellungnahme des BAZL
vom 9. September 1985). Diese rund anderthalb Jahre nach dem Unfall
geänderte Bewilligungspraxis ist für die Beurteilung des vorliegenden
Rechtsstreites nicht entscheidend. Es ist aber immerhin festzustellen,
dass der Unglücksflug auch der neuen Praxis nicht entsprach, war doch
S. weder Fluglehrer, noch hatte er den besonderen Kurs absolviert.

    b) Die Beschwerdeführerin wendet ein, bei den zitierten Bestimmungen
handle es sich um bloss formelle Vorschriften, deren Missachtung nicht
unfallkausal gewesen sei. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Die
zuständige Behörde erliess die erwähnten Bestimmungen um der Sicherheit der
Beteiligten und um der Unfallverhütung willen. Sie sollen gewährleisten,
dass die Beteiligten über hinreichende Kenntnisse und Erfahrung verfügen,
um die Gefahren, die ein Flug mit sich bringt, auf ein vernünftiges
Mass zu beschränken. Wie berechtigt diese Vorschriften sind und wie
wichtig ihre Befolgung ist, zeigt gerade der Ablauf des vorliegend zu
beurteilenden Unfalles.

    Zunächst löste sich in programmwidriger Weise die Beinschlaufe der
Beschwerdeführerin, wofür die Ursache nicht feststeht: möglicherweise ist
sie vor dem Start nicht richtig fixiert worden oder die Beschwerdeführerin
hat sich während des Fluges ungeschickt verhalten; in der Folge entschloss
sich S. zu einer vorzeitigen Landung, für welche er die steilste Stelle
des Hanges wählte; er stiess den Bügel zu spät aus, was zur missglückten
Landung führte. Diese Abfolge von Unzulänglichkeiten und Fehlern lässt sich
nicht anders als mit ungenügenden Kenntnissen und mangelnder Erfahrung
von Pilot und Begleiterin erklären. Die hier anwendbaren Bestimmungen
haben demnach klarerweise materiellen Gehalt und deren Nichteinhaltung
war unfallkausal.

    c) Indem die Beschwerdeführerin sich auf ein die einschlägigen
Vorschriften in gravierender Weise missachtendes Unternehmen einliess,
dem weder sie selbst noch der Pilot S. gewachsen waren, handelte sie
leichtsinnig, ja verwegen. Unter den dargelegten Umständen barg der Flug
besonders grosse Gefahren in sich, denen die Beschwerdeführerin sich
nicht hätte aussetzen dürfen. Ihr Verhalten ist daher als (relatives)
Wagnis zu qualifizieren, weshalb die Leistungspflicht der Krankenkasse
entfällt. Die gegenteilige, in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde unter
Hinweis auf Meinungsäusserungen von Anhängern des Deltasegelsports
vertretene Ansicht ändert daran nichts.

    Da nach dem Gesagten der Wagnischarakter des zum Unfall führenden
Fluges zu bejahen ist, kann offenbleiben, ob der Flug zu den noch
schützenswerten Betätigungen gezählt werden kann.

Entscheid:

       Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.