Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 V 275



112 V 275

48. Auszug aus dem Urteil vom 13. November 1986 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Weiss und Eidgenössische Rekurskommission der
AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen Regeste

    Art. 4 Abs. 2, 6 Abs. 1, 8 Abs. 3 lit. b, 15-18 IVG, Art. 11 des
schweizerisch-französischen Sozialversicherungsabkommens vom 3. Juli 1975:
Eintritt des Versicherungsfalles. Der Gesundheitsschaden bewirkt für jede
der im Gesetz vorgesehenen beruflichen Eingliederungsmassnahmen einen
eigenen Versicherungsfall.

Sachverhalt

    A.- Der 1953 geborene französische Staatsangehörige Claude Weiss
arbeitete seit Juli 1978 als Grenzgänger in einer der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) unterstellten Schiffahrts- und
Speditionsunternehmung in Basel. Am 13. September 1982 erlitt er bei einem
Arbeitsunfall ein schweres Schädel-Hirntrauma mit Schädelbasisfraktur und
Hirnödem. Die SUVA kam für die Heilbehandlung sowie für die Nachbehandlung
(in der Rehabilitationsklinik Bellikon) auf und gewährt dem Versicherten
ab 1. August 1985 aufgrund einer 100%igen Invalidität eine Rente.

    Am 21. Juli 1983 meldete sich Claude Weiss bei der
Invalidenversicherung an und beantragte die Gewährung von Berufsberatung,
Umschulung und einer Rente. Die Invalidenversicherungs-Kommission stellte
fest, dass die 360tägige Wartezeit gemäss Art. 29 Abs. 1 Variante 2
IVG am 7. September 1983 endete und dass der Invaliditätsgrad 100%
betrug. Demgemäss sprach die Schweizerische Ausgleichskasse dem
Versicherten ab 1. September 1983 eine ganze Invalidenrente (nebst
Zusatzrente für die Ehefrau) zu (rechtskräftige Verfügung vom 11. Mai
1984).

    Mit Verfügung vom 10. Januar 1984 wies die Ausgleichskasse das
Gesuch um berufliche Eingliederungsmassnahmen ab, weil bei Eintritt
des Versicherungsfalles der Umschulung die versicherungsmässigen
Voraussetzungen gemäss Art. 11 des schweizerisch-französischen Abkommens
über Soziale Sicherheit (vom 3. Juli 1975) nicht erfüllt gewesen seien.

    B.- Claude Weiss beschwerte sich gegen die Verfügung vom 10. Januar
1984 und beantragte, es seien ihm die zu seiner Wiedereingliederung
erforderlichen Massnahmen beruflicher Art zu gewähren. Mit Entscheid vom
21. Februar 1985 hiess die Eidgenössische Rekurskommission der AHV/IV
für die im Ausland wohnenden Personen die Beschwerde gut.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung erhebt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid vom 21. Februar
1985 und beantragt dessen Aufhebung. Claude Weiss lässt Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen. Die Ausgleichskasse sieht von
einer Stellungnahme ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen der
Invalidenversicherung ist, dass der Ansprecher im Zeitpunkt des
Versicherungsfalles versichert ist (Art. 6 Abs. 1 IVG). Über den Status als
Versicherter enthält Art. 11 des (hier unbestrittenermassen anwendbaren)
schweizerisch-französischen Sozialversicherungsabkommens (vom 3. Juli 1975)
folgende Bestimmungen für französische Grenzgänger:

    "Für den Erwerb des Anspruches auf eine Leistung der schweizerischen

    Invalidenversicherung gelten in der Schweiz wohnhafte französische

    Staatsangehörige und Grenzgänger, die ihre Erwerbstätigkeit in
der Schweiz
   infolge Krankheit oder Unfalls aufgeben müssen, deren Invalidität
   aber in diesem Land festgestellt wird, für die Dauer eines Jahres,
   gerechnet vom

    Zeitpunkt der zur Invalidität führenden Arbeitsunterbrechung als

    Versicherte im Sinne der schweizerischen Gesetzgebung und haben
Beiträge
   an die schweizerische Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung
   zu entrichten, als hätten sie Wohnsitz in der Schweiz."

    Es ist demnach entscheidend, in welchem Zeitpunkt der Versicherungsfall
eingetreten ist: ob vor oder nach Ablauf des Jahres seit dem "Zeitpunkt
der zur Invalidität führenden Arbeitsunterbrechung", konkret vor oder
nach dem 13. September 1983.

    b) Gemäss Art. 4 Abs. 2 IVG gilt die Invalidität als eingetreten,
sobald sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung
erforderliche Art und Schwere erreicht hat. Nach der Gerichtspraxis
ist dieser Zeitpunkt objektiv aufgrund des Gesundheitszustandes des
Versicherten festzustellen; zufällige externe Faktoren (wie z.B. eine
noch ungenügend entwickelte Operationstechnik: EVGE 1969 S. 221) sind
unerheblich (BGE 111 V 121 Erw. 1d mit Hinweisen).

    Vor der Einfügung des Abs. 2 in Art. 4 IVG (auf 1. Januar 1968) bestand
eine gewisse Unsicherheit darüber, ob ein und derselbe Gesundheitsschaden
mehrere (sukzessive) Versicherungsfälle bewirken könne (vgl. EVGE
1966 S. 178, wo das Eidg. Versicherungsgericht eine solche Möglichkeit
bezweifelte, die Frage aber offenlassen konnte). Mit Erlass des Abs. 2 von
Art. 4 erfolgte die Klarstellung: da diese Bestimmung von der "jeweiligen
Leistung" spricht, ist es grundsätzlich möglich, dass ein und derselbe
Gesundheitsschaden mehrere Versicherungsfälle bewirkt; "ein solcher Schaden
kann nämlich unter Umständen - zur gleichen Zeit oder zeitlich gestaffelt -
die Voraussetzungen für sehr verschiedene Leistungsarten (eine oder mehrere
Eingliederungsmassnahmen, Rentenleistungen, Hilflosenentschädigungen)
erfüllen" (BGE 105 V 61 Erw. 2c).

Erwägung 2

    2.- a) Gestützt auf Art. 11 des Sozialversicherungsabkommens war der
Beschwerdegegner bis zum 13. September 1983 (ein Jahr nach dem Unfall
vom 13. September 1982) in der schweizerischen Invalidenversicherung
versichert. Unbestrittenermassen trat hinsichtlich des Rentenanspruchs
der Versicherungsfall vor jenem Datum ein, nämlich am 7. September 1983
gemäss Art. 29 Abs. 1 Variante 2 IVG. Dementsprechend wurde ihm die
Invalidenrente zugesprochen. Streitig ist dagegen, in welchem Zeitpunkt
der Versicherungsfall bezüglich beruflicher Eingliederungsmassnahmen
eingetreten war.

    b) In tatbeständlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass mit der
Berufsberatung bereits während des ersten Aufenthalts des Beschwerdegegners
in der Rehabilitationsklinik Bellikon (8. November 1982 - 24. Juni 1983)
begonnen wurde. Offensichtlich wurde die Berufsberatung von den zuständigen
Instanzen der SUVA zu jener Zeit als indiziert erachtet. Für den Anspruch
gegenüber der Invalidenversicherung ist es irrelevant, dass die Massnahme
bereits vor der Anmeldung (21. Juli 1983) im Sinne von Art. 4 Abs. 2 IVG
indiziert war (BGE 103 V 131 oben). Bezüglich der Berufsberatung erfüllte
somit der Beschwerdegegner die versicherungsmässigen Voraussetzungen des
Sozialversicherungsabkommens. Indes ist der Anspruch nicht mehr aktuell,
weil die Berufsberatung in Bellikon faktisch - wenn auch ohne Erfolg -
durchgeführt worden ist.

    c) Effektiver Streitpunkt ist der Anspruch auf Umschulung gemäss
Art. 17 IVG. Aus den Berichten der Rehabilitationsklinik Bellikon
vom 28. Juni und 7. Juli 1983 ergibt sich, dass in der Zeit bis
13. September 1983 von der Möglichkeit einer Umschulung keine Rede sein
konnte. Im Sommer 1983 war der psychische Zustand des Beschwerdegegners
so schlecht, dass ein dreimonatiger Behandlungsunterbruch (bis zum
Wiedereintritt am 29. September 1983) eingeschaltet werden musste. Art
und Schwere des damaligen Gesundheitszustandes erlaubten keine
Umschulungsmassnahmen. Betrachtet man den Umschulungsanspruch für sich
allein genommen, so war der Versicherungsfall bis zum 13. September 1983
nicht eingetreten.

    Unbehelflich ist der Einwand, es habe schon vor dem 13. September 1983
festgestanden, dass der Beschwerdegegner die frühere Arbeit niemals wieder
werde verrichten können und dass deshalb eine Umschulung unumgänglich sein
werde. Das ist wohl richtig, aber nicht entscheidend. Die Notwendigkeit
späterer Eingliederungsmassnahmen (z.B. einer Umschulung) ist oft schon
kurz nach dem invalidisierenden Ereignis erkennbar. Diese Erkenntnis
bedeutet aber nicht den Eintritt des für diese Versicherungsleistung
massgebenden Versicherungsfalles. Hierfür massgebend ist vielmehr
der Zeitpunkt, in dem die Invalidität nach ihrer aktuellen Art und
Schwere die Eingliederungsmassnahme einerseits erheischt und anderseits
ermöglicht. Daher wird z.B. bei den medizinischen Eingliederungsmassnahmen
verlangt, dass keine Gegenindikation besteht (BGE 105 V 60 Erw. 2a). Im
vorliegenden Fall ist es offensichtlich und durch die Berichte der
Rehabilitationsklinik Bellikon belegt, dass Umschulungsmassnahmen vor
dem 13. September 1983 gänzlich ausgeschlossen waren.

Erwägung 3

    3.- a) Die Vorinstanz hat die Beschwerde im wesentlichen mit der
Begründung gutgeheissen, der Eintritt des Versicherungsfalles bezüglich der
Berufsberatung müsse für alle "Massnahmen beruflicher Art generell" gelten.
Insbesondere würden Berufsberatung und Umschulung eng zusammenhängen,
indem die Berufsberatung "der erste Schritt im Hinblick auf die berufliche
Wiedereingliederung [gewesen sei], welcher zur Abklärung der offensichtlich
als notwendig erkannten Umschulungsmassnahmen unternommen wurde".

    In gleicher Richtung argumentiert der Beschwerdegegner, der es als
nicht angängig erachtet, "den zeitlichen Eintritt des Versicherungsfalles
für einen Teil der Massnahmen beruflicher Art, nämlich die Berufsberatung,
vom zeitlichen Eintritt des Versicherungsfalles für die übrigen Massnahmen
beruflicher Art abzuspalten. Hinsichtlich sämtlicher Massnahmen beruflicher
Art tritt der Versicherungsfall zeitlich einheitlich ein."

    b) In BGE 105 V 58, wo es um zwei sukzessiv notwendig gewordene
Eingliederungsmassnahmen ging - zunächst um Sonderschulung auf der
Kindergartenstufe (Art. 19 Abs. 3 IVG, Art. 12 Abs. 1 lit. b IVV) und
ein paar Jahre später um Sonderschulung während der obligatorischen
Schulpflicht (Art. 19 Abs. 1 IVG, Art. 8 IVV) -, fand das Gericht, es
handle sich nicht um unterschiedliche Leistungskategorien; ohne Rücksicht
auf die Altersstufe stellten alle von Gesetz und Verordnung vorgesehenen
Sonderschulmassnahmen zusammen "ein einheitliches, sich ergänzendes
Massnahmenbündel mit im wesentlichen gleicher Zielsetzung dar. Tritt
die Invalidität in bezug auf die Sonderschulung deshalb ... bereits im
Vorschulalter ein, so löst der Übertritt in die Sonderschule bei Erreichen
des entsprechenden Alters keinen neuen Versicherungsfall aus" (S. 62).

    Diese Praxis betreffend die Sonderschule kann nicht auf die
beruflichen Massnahmen übertragen werden. Zwar ist richtig, dass zwischen
Berufsberatung und Umschulung sachlich ein enger Zusammenhang besteht,
und des öftern wird - was in casu allerdings nicht der Fall war - die
letztere unmittelbar an die erstere anschliessen. Dies ändert aber nichts
daran, dass es zwei verschiedene Leistungen sind, sowohl inhaltlich wie
gemäss der gesetzlichen Normierung. Sodann ist die Zielsetzung nicht
dieselbe. Dabei ist unter dem (in BGE 105 V 62 verwendeten) Begriff
"Zielsetzung" selbstredend nicht das allgemeine Ziel, den Versicherten
wieder ins Erwerbsleben einzugliedern, verstanden (andernfalls für
sämtliche Eingliederungsmassnahmen, von den medizinischen bis zur
Kapitalhilfe, nur ein einziger Versicherungsfall gelten würde); vielmehr
geht es um das Ziel jeder einzelnen Massnahme. Mit der Berufsberatung wird
klarerweise nicht dasselbe Ziel anvisiert wie mit der Umschulung. Jede der
im Gesetz vorgesehenen Massnahmen beruflicher Art (Art. 8 Abs. 3 lit. b
IVG) bewirkt daher einen eigenen Versicherungsfall. Art. 4 Abs. 2 IVG,
der von der "jeweiligen Leistung" der Versicherung spricht, kann nicht
anders verstanden und ausgelegt werden (vgl. auch MEYER-BLASER, Zum
Verhältnismässigkeitsgrundsatz im staatlichen Leistungsrecht, Diss. Bern
1985, S. 119).

    c) Aus diesen Gründen kann der Auffassung von Beschwerdegegner
und Vorinstanz nicht gefolgt werden. Der Versicherungsfall der
Berufsberatung gilt nicht auch für die Umschulung. Für die letztere ist
der Versicherungsfall - wie oben dargelegt - bis zum 13. September 1983
nicht eingetreten. Falls er später eingetreten sein sollte, wäre der
Beschwerdegegner nicht mehr versichert gewesen.