Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 V 201



112 V 201

36. Urteil vom 19. Juni 1986 i.S. "Zürich" Versicherungsgesellschaft
gegen Koller und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 9 Abs. 1 UVV: Unfallbegriff.

    - Merkmal des ungewöhnlichen äusseren Faktors (Zusammenfassung der
Rechtsprechung; Erw. 1).

    - Das Abbrechen eines Zahnes beim Essen eines selbstgebackenen
Kirschenkuchens, der mit nicht entsteinten Früchten zubereitet wurde,
ist nicht als Unfall zu qualifizieren, weil nicht die Einwirkung eines
ungewöhnlichen äusseren Faktors den Zahnschaden verursacht hat (Erw. 2
und 3).

Sachverhalt

    A.- Edith Koller ist bei der "Zürich" Versicherungsgesellschaft
obligatorisch gegen Unfälle versichert. Am 15. Februar 1984 brach sie sich
beim Essen eines selbstgebackenen Kirschenkuchens, für dessen Zubereitung
nicht entsteinte Früchte verwendet wurden, einen Schneidezahn ab.

    Mit Verfügung vom 22. Oktober 1984 lehnte die Versicherungsgesellschaft
die Übernahme der Behandlungskosten ab, weil der Zahnschaden nicht die
Folge eines Unfalles sei. Auf Einsprache von Edith Koller hin bestätigte
die Versicherungsgesellschaft am 28. November 1984 diese Verfügung.

    B.- Edith Koller führte Beschwerde mit dem Begehren, die
Versicherungsgesellschaft sei zu verpflichten, die Behandlungskosten zu
übernehmen. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die
Beschwerde mit Entscheid vom 20. August 1985 gut. Zur Begründung führte
es im wesentlichen aus, das Beissen auf einen Kirschenstein stelle für
einen Zahn eine ungewöhnliche Belastung dar. Die Sinnfälligkeit, unter der
die Schädigung eingetreten sei, liege im Biss auf den Kirschenstein an
sich. Ob Edith Koller beim Essen eines selbstgebackenen Kirschenkuchens
damit habe rechnen müssen und ob sie allenfalls ein Verschulden treffe,
habe auf die Sinnfälligkeit (Ungewöhnlichkeit) des Ereignisses keinen
Einfluss. Da auch die übrigen Begriffsmerkmale gegeben seien, liege ein
versicherter Unfall im Sinne von Art. 9 Abs. 1 UVV vor.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die
Versicherungsgesellschaft, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.
Während Edith Koller sich zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht
vernehmen lässt, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf
eine Stellungnahme.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 9 Abs. 1 UVV gilt als Unfall die plötzliche,
nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen
äusseren Faktors auf den menschlichen Körper. Damit wurde die vom Eidg.
Versicherungsgericht in ständiger Rechtsprechung verwendete Definition
des Unfalls übernommen (BGE 103 V 175, 102 V 131, 100 V 78 f., 99 V 138,
97 V 2; EVGE 1966 S. 138 und 1963 S. 18; RKUV 1985 Nr. K 614 S. 25 Erw. 2;
MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. I, S. 280), wobei
der Bundesrat jedoch darauf verzichtet hat, in der Verordnungsbestimmung
die Ungewöhnlichkeit wie bisher näher zu umschreiben ("mehr oder
weniger"). Dies ändert indessen am Begriffsinhalt nichts (Urteil
R. vom 7. Februar 1984, publiziert im SUVA-Rechtsprechungsbericht 1984,
Nr. 2); der Richter hat nach wie vor einen Beurteilungsspielraum bei der
Entscheidung, ob im Einzelfall die Ungewöhnlichkeit gegeben sei (MAURER,
Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 164 und 168).

    Nach der Definition des Unfalls bezieht sich das Begriffsmerkmal der
Ungewöhnlichkeit nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors, sondern nur
auf diesen selber (BGE 99 V 138 Erw. 1 mit Hinweisen; RKUV 1985 Nr. K 614
S. 26 oben). Ohne Belang für die Prüfung der Ungewöhnlichkeit ist somit,
dass der äussere Faktor allenfalls schwerwiegende, unerwartete Folgen
nach sich zog. Der äussere Faktor ist ungewöhnlich, wenn er den Rahmen
des im jeweiligen Lebensbereich Alltäglichen oder Üblichen überschreitet
(EVGE 1966 S. 138 Erw. 2). Ob dies zutrifft, beurteilt sich im Einzelfall,
wobei grundsätzlich nur die objektiven Verumständungen in Betracht fallen
(RKUV 1985 Nr. K 614 S. 26 oben; Urteile I. vom 31. Januar 1984 und
R. vom 7. Februar 1984, publiziert im SUVA-Rechtsprechungsbericht 1984,
Nrn. 1 und 2).

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Zahnschaden der
Beschwerdegegnerin durch eine plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende
Einwirkung eines äusseren Faktors verursacht wurde. Näher zu prüfen ist,
ob auch das Begriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors
gegeben ist und damit ein Unfall im Sinne von Art. 9 Abs. 1 UVV vorliegt.

    a) Das kantonale Gericht bejahte diese Frage mit der Feststellung,
dass der Biss auf einen Kirschenstein für einen Zahn eine ungewöhnliche
Belastung darstelle und dass die Sinnfälligkeit, unter der die Schädigung
eingetreten sei, im "Biss auf den Kirschenstein an sich" liege. Ob die
Beschwerdegegnerin bei einem selbstgebackenen Kirschenkuchen damit habe
rechnen müssen und ob sie allenfalls ein Verschulden treffe, könne auf
die Sinnfälligkeit (bzw. die Ungewöhnlichkeit) des Ereignisses an sich
keinen Einfluss haben.

    b) Die Beschwerdeführerin hält dieser Auffassung entgegen,
dass das Abbeissen eines Stückes nicht entsteinten Kirschenkuchens
nichts Aussergewöhnliches sei. Dass dabei die Schneidezähne auch mit
Kirschensteinen in Berührung kämen, sei normal. Die Steine seien - wie
die Dekorationsperlen im Urteil Saredi vom 20. August 1984 (RKUV 1985
Nr. K 614 S. 24) - dazu bestimmt, in den Mund genommen zu werden. Dort
würden sie entweder geschluckt oder mit Hilfe der Zähne vom Fruchtfleisch
getrennt und wieder ausgespuckt. Sie stellten im nicht entsteinten
Fruchtkuchen keine Fremdkörper dar, mit welchen nicht gerechnet werden
müsse, sondern bildeten Teile des Kuchens. Das Beissen auf einen Stein sei
kein ungewohnter, programmwidriger Vorgang. Wer ein Stück eines solchen
Kuchens esse, werde zwangsläufig mit den Zähnen auf Kirschensteine stossen.
Dies sei so wenig aussergewöhnlich wie das Beissen auf Dekorationsperlen,
Bonbons oder Körner im sogenannten Klosterbrot. Auch das Entsteinen
von Zwetschgen mit Mund und Zähnen sei kein Vorgang, der den Rahmen
des Alltäglichen überschreite. Ein gesunder und funktionstüchtiger Zahn
breche durch eine solche Einwirkung nicht ab. Ungewöhnlich werde eine
solche Beanspruchung der Zähne erst, wenn der Kau- oder Abbeissakt durch
unversehens auftretende Faktoren gestört werde.

Erwägung 3

    3.- a) Im unveröffentlichten Urteil Kobi vom 4. September 1975
qualifizierte das Eidg. Versicherungsgericht das Ausbeissen eines Zahnes
an einem Zwetschgenstein im "Tuttifrutti" als Unfall. Die Vorinstanz
hatte in jenem Fall die Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors und damit
das Vorliegen eines Unfalles mit folgender Begründung verneint:

    "Wenn der Kläger beim Essen von Tuttifrutti auf einen

    Zwetschgenstein gebissen hat - wobei er wissen musste, dass diese

    Zwetschgen nicht entsteint sind -, so musste er mit dem Stein rechnen.

    Das Beissen auf eine gedörrte Zwetschge, von der man weiss, dass sie
   nicht entsteint ist, ist nichts Aussergewöhnliches. Aussergewöhnlich
   ist nur, dass ohne Rücksicht auf den Stein gebissen wurde. Dies aber ist
   wiederum nicht auf einen äusseren Faktor zurückzuführen, sondern auf die
   mangelnde Sorgfalt des Klägers, die beim Beissen auf eine Zwetschge mit

    Stein erforderlich gewesen wäre, umso mehr, als der betreffende Zahn
   saniert war (was nicht heisst, er sei krank gewesen)."

    Das Eidg. Versicherungsgericht verwarf diese Auffassung mit folgender
Argumentation: Wenn ein sanierter und somit für den normalen Kauakt
durchaus funktionstüchtiger Zahn einer plötzlichen, nicht beabsichtigten
und aussergewöhnlichen Belastung nicht standhält, dürfe die Annahme
eines Unfalles nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, ein völlig
intakter Zahn hätte selbst diese Belastung überstanden. Es sei demnach
und gestützt auf den geschilderten Sachverhalt davon auszugehen, dass der
beim Versicherten eingetretene Zahnschaden Folge eines Unfalls sei. Der
Einwand der Militärversicherung, das Beissen auf den Zwetschgenstein sei
nicht unvermutet geschehen bzw. der Versicherte sei unvorsichtig gewesen,
beschlage nicht die Frage nach dem Unfallbegriff an sich, sondern die
Frage nach der schuldhaften Herbeiführung des Schadens.

    Nicht als Unfall qualifizierte das Eidg. Versicherungsgericht dagegen
in den Urteilen Michel (BGE 103 V 177) und Pletscher vom 27. Dezember
1977 das Abbrechen eines Zahnes beim Essen eines Biskuits ("Totenbeinli")
und eines Stücks Nuss-Schokolade. In Präzisierung der Praxis gemäss dem
zitierten Urteil Kobi führte das Gericht aus, es stehe fest, dass ein
gesunder bzw. ein sanierter und insoweit funktionstüchtiger Zahn beim
normalen Kauakt, selbst beim Essen harter Nahrung, nicht abbricht (BGE
103 V 181).

    Ebenso hat das Gericht im Urteil Saredi (RKUV 1985 Nr. K 614 S. 24) das
Abbrechen eines Zahnes beim Essen eines mit Dekorationsperlen verzierten
Kuchens nicht als Unfall qualifiziert.

    b) Im Urteil Kobi vom 4. September 1975 (Unfall angenommen)
bejahte das Eidg. Versicherungsgericht ohne nähere Begründung die
Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors (Zwetschgenstein). In den Urteilen
Michel und Pletscher vom 27. Dezember 1977 (Unfälle verneint) setzte sich
das Gericht mit der Frage nach der Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors
(Biskuit, Nuss-Schokolade) ebenfalls nicht ausdrücklich auseinander. Im
Urteil Saredi vom 20. August 1984 (Unfall verneint) stellte das Gericht
sodann fest, ungewöhnlich seien nicht die Dekorationsperlen an sich,
sondern lediglich die schädigenden Einwirkungen derselben auf den
betroffenen Zahn. Die Perlen seien im übrigen zum Essen bestimmt gewesen
und stellten keine Fremdkörper dar wie beispielsweise Kirschensteine in
einem Fruchtkuchen oder Knochensplitter in einer Wurst.

    Von diesem Entscheid - und nicht von den Urteilen Kobi, Michel und
Pletscher, bei welchen der Begriff der Gesundheitsschädigung nach dem
MVG im Vordergrund stand - ist bei der Lösung des vorliegenden Falles
auszugehen. Zwar stellte das Gericht im Urteil Saredi in unzutreffender
Weise den "Fremdkörper" dem äusseren Faktor gleich; entscheidend war
aber die Feststellung, dass Dekorationsperlen auf oder in einem Kuchen
nicht ungewöhnlich seien. Ebensowenig kann der Stein in einer gedörrten
Zwetschge im "Tuttifrutti" oder die mit Zunge und Zähnen bewusst gesuchte
Figur im Dreikönigskuchen als ungewöhnlich bezeichnet werden. Im Gegensatz
dazu wäre ein Knochensplitter in einer Wurst - nicht aber ein Poulet-
oder Kotelettknochen - als ungewöhnlich zu qualifizieren. Damit ist auch
gesagt, dass der Stein im Kirschenkuchen, der bewusst mit nicht entsteinten
Früchten zubereitet wurde, keinen ungewöhnlichen Faktor darstellt, weil
es dabei an der Sinnfälligkeit fehlt.

    c) Im vorliegenden Fall war nicht der Kirschenstein ungewöhnlich,
sondern lediglich die durch das Beissen auf den Stein verursachte
schädigende Einwirkung auf den betroffenen Zahn. Weil sich das Merkmal
der Ungewöhnlichkeit nur auf den äusseren Faktor selbst, nicht aber auf
dessen Wirkungen auf den menschlichen Körper bezieht (Erw. 1 hievor),
liegt kein Unfall vor.

    Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich, den Einwand der
Beschwerdeführerin, der betroffene Stiftzahn der Beschwerdegegnerin sei
nicht mehr funktionstüchtig gewesen, zu prüfen.

Erwägung 4

    4.- (Parteientschädigung; vgl. BGE 112 V 49 Erw. 3)

Entscheid:

       Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 20. August 1985
aufgehoben.