Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 V 195



112 V 195

35. Urteil vom 16. Juni 1986 i.S. Schweizerische Grütli gegen Moussa und
Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 14 Abs. 4 und 6 KUVG: Krankengeld bei Mutterschaft.

    - Eine Krankenkasse darf ohne Einwilligung des Mitgliedes die
Krankengeldversicherung aufheben oder die Deckung vermindern, wenn dieses
die Erwerbstätigkeit endgültig aufgibt oder für dauernd reduziert und
die Taggeldversicherung dadurch ganz oder teilweise gegenstandslos wird
(Erw. 2a).

    - Für die Anwendbarkeit von Art. 14 Abs. 4 KUVG ist die Absicht
einer endgültigen Erwerbsaufgabe oder einer definitiven Verminderung der
Erwerbstätigkeit vorauszusetzen (Erw. 2b; Bestätigung der Rechtsprechung
gemäss BGE 111 V 329).

    - Unter einer endgültigen Änderung der erwerblichen Verhältnisse ist
nicht eine Aufgabe oder Verminderung der Erwerbstätigkeit für immer zu
verstehen; gemeint ist eine Aufgabe oder Verminderung für längere Zeit
(Erw. 2b).

    - Die Versicherte hat den Zeitpunkt der späteren Wiederaufnahme
einer Erwerbstätigkeit zu konkretisieren; dieser hat in näherer Zukunft
zu liegen, andernfalls ist eine länger dauernde Erwerbsaufgabe und damit
ein Grund für die Herabsetzung der Versicherungsdeckung gegeben (Erw. 2b
und 3b).

Sachverhalt

    A.- Susanne Moussa war bei der Krankenkasse Grütli für ein Krankengeld
von Fr. 50.-- pro Tag versichert. Vom Sommer 1981 bis Ende Mai 1982 war
sie im Restaurant M. als Aushilfserviertochter in Teilzeitarbeit tätig. Im
März 1982 wurde sie schwanger und stand fortan beim Gynäkologen Dr. K. in
Behandlung. Als dieser anfangs Juni 1982 ferienhalber abwesend war, begab
sich Susanne Moussa, da sie unter Herzbeschwerden, Schwindelanfällen,
Nervosität und Anämie litt, zu dessen Stellvertreter Dr. W., der ihr
im Krankenschein für den Behandlungszeitraum vom 4. bis 18. Juni 1982
volle Arbeitsunfähigkeit attestierte. Gestützt hierauf erbrachte die
Krankenkasse Grütli Taggeldleistungen im Betrage von Fr. 750.-- (15
Taggelder à Fr. 50.--). Susanne Moussa nahm die Arbeit nach dem 18. Juni
1982 nicht wieder auf.

    Am 4. Januar 1983 gebar Susanne Moussa ihr Kind. Im Mai 1983 verlangte
sie von der Kasse die Ausrichtung des versicherten Taggeldes für die Zeit
vom 19. Juni 1982 bis 3. Januar 1983 unter dem Titel krankheitsbedingter
Arbeitsunfähigkeit und für die Zeit ab 4. Januar 1983 während zehn
Wochen unter dem Titel Mutterschaft. Die Kasse lehnte die Begehren in
der Hauptsache mit der Begründung ab, für die Arbeitsunfähigkeit bis zum
3. Januar 1983 fehle es an einer glaubwürdigen ärztlichen Bescheinigung und
einer rechtzeitigen Krankmeldung; für die Zeit ab 4. Januar 1983 könne nur
ein auf Fr. 4.-- reduziertes tägliches Taggeld ausgerichtet werden. Denn
wenn die Erwerbstätigkeit früher als vier Wochen vor der Niederkunft
aufgegeben werde, müsse die Krankengeldversicherung herabgesetzt werden
(Art. 14 Abs. 4 KUVG). Am 12. Dezember 1983 erging die entsprechende
Verfügung.

    B.- Hiegegen liess Susanne Moussa Beschwerde führen mit dem Antrag,
die Kasse sei zu verpflichten, für die Zeit vom 19. Juni 1982 bis
20. März 1983 ein Krankengeld von Fr. 50.-- pro Tag auszurichten. Das
Versicherungsgericht des Kantons Bern erkannte mit Entscheid vom 7. Februar
1985, dass für die Zeit vom 19. Juni 1982 bis 3. Januar 1983 keine
anspruchsbegründende Arbeitsunfähigkeit ausgewiesen sei. Doch selbst
wenn eine solche gegeben wäre, könnte das geforderte Krankengeld nicht
ausgerichtet werden, da die Arbeitsunfähigkeit verspätet gemeldet worden
sei. Demnach bestehe die Leistungsverweigerung der Kasse diesbezüglich
zu Recht. Dagegen könne nicht gesagt werden, dass Susanne Moussa die
Arbeit mehr als vier Wochen vor der Niederkunft unterbrochen habe,
weil sie sich endgültig aus dem Erwerbsleben habe zurückziehen wollen,
sondern weil sie sich aufgrund der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsatteste
und vielleicht auch wegen gelegentlichen Unwohlseins als arbeitsunfähig
gehalten habe. Unter diesen Umständen sei eine Rückversetzung in eine
niedrigere Krankengeldklasse unzulässig gewesen. Die Kasse habe deshalb
Susanne Moussa für die Dauer von 70 Tagen (Art. 14 Abs. 6 KUVG) das volle
versicherte Taggeld von Fr. 50.-- auszurichten.

    C.- Die Kasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag,
der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Verfügung vom 12. Dezember
1983 zu bestätigen. Auf die Begründung wird, soweit erforderlich, in den
Erwägungen einzugehen sein.

    Susanne Moussa lässt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragen. Das Bundesamt für Sozialversicherung schliesst ebenfalls
auf Abweisung.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Streitig ist im vorliegenden Verfahren nur noch der
Taggeldanspruch gemäss Art. 14 Abs. 6 KUVG. Nicht mehr streitig
ist dagegen, ob der Beschwerdegegnerin Taggelder unter dem Titel
"krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit" zuzusprechen seien.

    Nach Art. 14 Abs. 1 KUVG haben die Krankenkassen bei Schwangerschaft
und Niederkunft die gleichen Leistungen wie bei Krankheit zu gewähren,
sofern die Versicherte bis zum Tag ihrer Niederkunft während wenigstens
270 Tagen, ohne Unterbrechung von mehr als drei Monaten, Mitglied von
Kassen gewesen ist. Nach Art. 14 Abs. 4 dürfen Versicherte, die ihre
Erwerbstätigkeit nicht früher als vier Wochen vor ihrer Niederkunft
aufgeben, vor Ablauf der Bezugsdauer gemäss Abs. 6 nicht in eine niedrigere
Krankengeldklasse versetzt werden. Die Versicherte hat Anspruch auf das
versicherte Krankengeld, sofern sie keine gesundheitsschädliche Arbeit
verrichtet. Gemäss Art. 14 Abs. 6 KUVG erstrecken sich die Leistungen bei
Mutterschaft auf zehn Wochen, wovon mindestens sechs nach der Niederkunft
liegen müssen.

    b) Mit Art. 14 Abs. 4 KUVG wollte der Gesetzgeber das unbefriedigende
Ergebnis vermeiden, dass eine Versicherte, die wegen einer bevorstehenden
Niederkunft ihre Stelle aufgibt, unverzüglich in eine tiefere Taggeldklasse
versetzt wird und damit eines höheren Taggeldanspruchs verlustig geht,
obwohl möglicherweise jahrelang verhältnismässig hohe Krankengeldprämien
bezahlt worden waren (BBl 1961 I 1437).

Erwägung 2

    2.- a) Im Urteil Güttinger vom 16. September 1985 (BGE 111 V 329)
hat das Eidg. Versicherungsgericht erkannt, Art. 14 Abs. 4 KUVG bestimme
nicht, unter welchen Voraussetzungen die Krankenkassen bei Schwangeren
eine Versicherungsdeckung herabsetzen dürfen; für diese Frage gelte
der Grundsatz, dass eine Krankenkasse nur dann ohne Einwilligung
des Mitgliedes die Krankengeldversicherung aufheben oder die Deckung
vermindern dürfe, wenn dieses am Fortbestand oder am bisherigen Mass der
Versicherung vernünftigerweise kein Interesse mehr haben könne. Wann das
zutrifft, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Eine Rückstufung
ist hauptsächlich dann möglich, wenn die Weiterführung der bestehenden
Deckung eine dauernde Überversicherung begründen würde, so etwa, wenn
die Erwerbstätigkeit endgültig aufgegeben oder für dauernd reduziert und
die Taggeldversicherung dadurch ganz oder teilweise gegenstandslos wird
(RSKV 1982 Nr. 475 S. 34 und 1981 Nr. 455 S. 156; für die Ausnahmen
BGE 107 V 162 Erw. 1 und RSKV 1982 Nr. 475 S. 34). Art. 14 Abs. 4
KUVG begründet eine Einschränkung zu dem in den genannten Grenzen
bestehenden Gestaltungsrecht der Kasse und kann nur zum Zuge kommen,
wenn die angeführten allgemeinen Voraussetzungen für die Herabsetzung
der Versicherungsdeckung beim Krankengeld erfüllt sind.

    b) Für die Anwendbarkeit von Art. 14 Abs. 4 KUVG ist demnach die
Absicht einer endgültigen Erwerbsaufgabe (so auch die juristische Kartothek
des Konkordats der schweizerischen Krankenkassen in IIId 10/14/20 und
RSKV 1972 S. 197) oder definitiven Verminderung der Erwerbstätigkeit
vorauszusetzen. Unter einer endgültigen Änderung der erwerblichen
Verhältnisse ist allerdings nicht eine Aufgabe oder Verminderung der
Erwerbstätigkeit für immer zu verstehen, da sich eine Versicherte kaum
jemals in so definitiver Weise für die Zukunft festlegen könnte. Gemeint
ist vielmehr eine Aufgabe oder Verminderung der Erwerbstätigkeit für
längere Zeit. Für die Beibehaltung der Versicherungsdeckung genügt es
sodann nicht, dass die Versicherte bei der Aufgabe der Erwerbstätigkeit
infolge Schwangerschaft gegenüber der Krankenkasse bloss die nicht näher
bestimmte Absicht bekundet, später irgendwann wieder ins Erwerbsleben
zurückkehren zu wollen. Sie hat vielmehr den späteren Zeitpunkt einer
Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit zu konkretisieren; dieser hat sodann
in näherer Zukunft zu liegen, da andernfalls von einer länger dauernden
Erwerbsaufgabe gesprochen werden müsste, was die Kasse zur Herabsetzung
der Versicherungsdeckung berechtigen würde.

Erwägung 3

    3.- a) Die Vorinstanz hat zutreffend erkannt und begründet, dass die
Beschwerdegegnerin in der Zeit vom 19. Juni 1982 bis 3. Januar 1983 nicht
arbeitsunfähig war. Für die Einzelheiten kann auf die vorinstanzlichen
Ausführungen verwiesen werden, denen lediglich darin nicht gefolgt werden
kann, dass sich die Beschwerdegegnerin trotz bestehender Arbeitsfähigkeit
als arbeitsunfähig habe fühlen dürfen. Es verhält sich demnach nicht so,
dass die Beschwerdegegnerin die Vierwochenfrist des Art. 14 Abs. 4 KUVG
aus gesundheitlichen Gründen nicht hätte einhalten können.

    b) Nach den vorliegenden Akten ist sodann anzunehmen, dass das
Arbeitsverhältnis zwischen der Beschwerdegegnerin und dem Restaurant
M. Ende Mai 1982 beendet und anfangs Mai 1984 neu begründet worden
ist. Eine Unterbrechung der Erwerbstätigkeit von rund zwei Jahren
bzw. deren Wiederaufnahme erst 14 Monate nach der Niederkunft stellt
eine länger dauernde Erwerbsaufgabe dar, welche nach dem oben Gesagten
die Kasse zur Herabsetzung der Versicherungsdeckung berechtigte. Die
Beschwerdegegnerin will zwar seit anfangs März 1983 stundenweise
im Betrieb ihres Ehemannes ausgeholfen haben, ohne hiefür allerdings
entschädigt worden zu sein. Das kann jedoch einer Erwerbstätigkeit nicht
gleichgestellt werden. Nichts deutet schliesslich darauf hin, dass die
Beschwerdegegnerin nicht von Anfang an die Absicht einer länger dauernden
Erwerbsaufgabe gehabt hätte. Die Herabsetzung der Versicherungsdeckung
auf Fr. 4.-- pro Tag durch die Kasse erweist sich mithin als Rechtens.

    c) Die Kasse hat nicht entschieden, ab welchem Zeitpunkt die
Versicherungsdeckung als herabgesetzt zu betrachten sei. Sie hat
sich jedoch in ihrem Schreiben vom 26. April 1983 bereit erklärt, die
Reduktion auf den 1. Juli 1982 vorzunehmen, was nicht zu beanstanden
ist. Hiebei ist die Kasse zu behaften. Sie wird demzufolge noch über die
Prämienrückerstattung zu befinden haben.

Entscheid:

       Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 7. Februar 1985 aufgehoben,
soweit der Beschwerdegegnerin darin ein Mutterschaftstaggeld von Fr. 50.--
pro Tag während 70 Tagen zugesprochen wird.