Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 V 180



112 V 180

32. Auszug aus dem Urteil vom 16. Mai 1986 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Signer und AHV-Rekurskommission des Kantons
Zürich Regeste

    Art. 47 Abs. 2 AHVG, Art. 49 IVG.

    - Beginn der einjährigen Verwirkungsfrist, wenn die Verwaltung ihre
für die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs erforderliche Kenntnis
noch mit zusätzlichen Abklärungen vervollständigen muss (Erw. 4b).

    - Falls es für die Ermittlung des Rückforderungsanspruchs des
Zusammenwirkens mehrerer hiemit betrauter Verwaltungsstellen (hier:
Invalidenversicherungs-Kommission und Ausgleichskasse) bedarf, genügt
es für den Beginn des Fristenlaufs, wenn die erforderliche Kenntnis bei
einer der zuständigen Verwaltungsstellen vorhanden ist (Änderung der
Rechtsprechung; Erw. 4c).

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Nach Art. 47 Abs. 2 Satz 1 AHVG verjährt der
Rückforderungsanspruch mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die
Ausgleichskasse davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem
Ablauf von fünf Jahren seit der einzelnen Rentenzahlung. Bei diesen
Fristen handelt es sich um Verwirkungsfristen (BGE 111 V 135).

    In Anlehnung an die Praxis zu Art. 82 Abs. 1 AHVV betreffend die
Verwirkung von Schadenersatzforderungen im Sinne von Art. 52 AHVG
hat das Eidg. Versicherungsgericht entschieden, dass die einjährige
Verwirkungsfrist in dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, in welchem
die Verwaltung bei Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit hätte
erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen
(BGE 110 V 305 Erw. 2b). Um die Voraussetzungen für eine Rückerstattung
beurteilen zu können, müssen der Verwaltung alle im konkreten Einzelfall
erheblichen Umstände zugänglich sein, aus deren Kenntnis sich der
Rückforderungsanspruch dem Grundsatz nach und in seinem Ausmass gegenüber
einem bestimmten Rückerstattungspflichtigen ergibt (vgl. dazu BGE 108 V
50). Für die Beurteilung des Rückforderungsanspruchs genügt es nicht,
dass der Kasse bloss Umstände bekannt werden, die möglicherweise
zu einem solchen Anspruch führen können, oder dass dieser Anspruch
bloss dem Grundsatz nach, nicht aber in masslicher Hinsicht feststeht;
das gleiche gilt, wenn nicht feststeht, gegen welche Person sich die
Rückforderung zu richten hat (BGE 111 V 16 Erw. 3). Ferner ist die
Rückforderung als einheitliche Gesamtforderung zu betrachten. Vor Erlass
der Rückerstattungsverfügung muss die Gesamtsumme der unrechtmässig
ausbezahlten Renten feststellbar sein (BGE 111 V 19 Erw. 5).

    Die fünfjährige Verwirkungsfrist des Art. 47 Abs. 2 Satz 1 AHVG
beginnt mit dem Zeitpunkt zu laufen, an welchem die Leistung effektiv
erbracht worden ist, und nicht etwa mit dem Datum, an welchem sie hätte
erbracht werden sollen (BGE 111 V 17 Erw. 3 in fine, 108 V 4).

    b) Die mit BGE 110 V 304 begründete Praxis, wonach der Beginn
der einjährigen Verwirkungsfrist unter dem Gesichtspunkt der von der
Verwaltung geforderten Aufmerksamkeit zu bestimmen ist, hat nicht nur
bei der Beantwortung der Frage zu gelten, ob die von einem Dritten
erstattete Meldung die erforderliche Kenntnis der Verwaltung auszulösen
vermag. Sie ist sinngemäss auch auf die von der Verwaltung in der
Folge zu treffenden Abklärungen auszudehnen. Die Verwaltung hat die
ihr zumutbare Aufmerksamkeit insbesondere auch bei den sich allenfalls
aufdrängenden Erhebungen anzuwenden, damit ihre noch ungenügende Kenntnis
so vervollständigt wird, dass der Rückforderungsanspruch die nötige
Bestimmtheit erhält. Wenn die Verwaltung nicht die erforderlichen
Anstrengungen unternimmt, um über ihre noch ungenügend bestimmte
Forderung innert absehbarer Zeit ein klares Bild zu erhalten, so darf
sich ihre Säumnis nicht zu ihren Gunsten und zuungunsten des Versicherten
auswirken. In einem solchen Fall ist der Beginn der Verwirkungsfrist
vielmehr auf den Zeitpunkt festzusetzen, in welchem die Verwaltung ihre
unvollständige Kenntnis mit dem erforderlichen und zumutbaren Einsatz
so hätte ergänzen können, dass der Rückforderungsanspruch die nötige
Bestimmtheit erhält und der Erlass einer Verfügung möglich wird.

    c) Nachdem vorliegend die Rückerstattungsverfügung vom 3. Mai 1983
innerhalb der Verwirkungsfrist von fünf Jahren erging, ist zu prüfen,
ob die Ausgleichskasse die zu Unrecht seit 1. Juli 1981 bezogenen
Rentenbetreffnisse rechtzeitig innerhalb der einjährigen Verwirkungsfrist
geltend machte.

    Zunächst stellt sich die Frage, ob sich die Ausgleichskasse die
Kenntnis der Invalidenversicherungs-Kommission (IVK) anrechnen lassen
muss. Nach dem Wortlaut von Art. 47 Abs. 2 Satz 1 AHVG ist die Kenntnis
der Ausgleichskasse ausschlaggebend. Dem entspricht die bisherige Praxis,
wonach die Frist erst in jenem Zeitpunkt zu laufen beginnt, in welchem die
für die Rückerstattungsfrage zuständige Kassenstelle - und nicht die IVK -
vom Rückforderungsanspruch Kenntnis erhält (EVGE 1964 S. 196 Erw. 3). An
dieser Praxis kann nicht festgehalten werden. Gemäss Art. 49 IVG findet
Art. 47 AHVG für das Gebiet der Invalidenversicherung lediglich "sinngemäss
Anwendung". Es ist daher der Besonderheit der Invalidenversicherung
Rechnung zu tragen. Im Gegensatz zur AHV (vgl. Art. 49 AHVG) sind
in der Invalidenversicherung neben den Ausgleichskassen noch andere
Verwaltungsstellen mit der Durchführung der Versicherung betraut
(vgl. Art. 53 IVG). Wo die Ursache des unrechtmässigen Leistungsbezugs
den Aufgabenbereich mehrerer Verwaltungsstellen betrifft und deren
Zusammenwirken somit für die Ermittlung des Rückforderungsanspruchs
erforderlich ist, kann für den Beginn des Fristenlaufs nicht allein die
Kenntnis der Ausgleichskasse ausschlaggebend sein. In solchen Fällen muss
die einjährige Verwirkungsfrist für die zuständigen Verwaltungsstellen
zusammen Geltung besitzen. Falls zwei Verwaltungsstellen mit geteilten
Kompetenzen - wie vorliegend die IVK und die Ausgleichskasse - für die
Durchführung zuständig sind, genügt es für den Beginn des Fristenlaufs,
dass die nach der Praxis erforderliche Kenntnis bei einer der zuständigen
Verwaltungsstellen vorliegt. Diese Auslegung kann die Aufgabe von
Ausgleichskasse und IVK nicht über Gebühr erschweren, da die beiden
Verwaltungsstellen im Bereich der Renten und Hilflosenentschädigungen
ohnehin in enger Verbindung tätig werden müssen (vgl. Art. 69 Abs. 1, 74
Abs. 2, 77 Abs. 2, 88 IVV); wo die Angelegenheit in die Zuständigkeit einer
kantonalen Ausgleichskasse fällt, besteht zudem eine direkte Verbindung
zur IVK schon dadurch, dass die Ausgleichskasse das Sekretariat der IVK
führt (Art. 57 IVG).

    Ferner ist die Frage zu beurteilen, wann die einjährige
Verwirkungsfrist zu laufen begann. Die IVK erfuhr von den veränderten
Einkommensverhältnissen des Beschwerdegegners erstmals mit dem Eingang des
Berichts des Sozialdienstes am 12. März 1982. Gestützt darauf war indessen
die Verwaltung noch nicht in der Lage, ihren Rückforderungsanspruch zu
ermitteln. Hiezu waren weitere Abklärungen erforderlich, insbesondere
darüber, ob die Lohnangaben des Sozialdienstes, die dieser ausdrücklich
als "gemäss Angaben des Patienten" machte, richtig waren. Die
Arbeitgeberin führte denn auch im Fragebogen vom 8. Mai 1982 teilweise
erheblich abweichende Lohnzahlen an. Des weitern musste die Frage eines
allfälligen Soziallohnes sowie der Zumutbarkeit der Arbeit geprüft und das
hypothetische Erwerbseinkommen ohne Invalidität ermittelt werden. Vor dem
Eintreffen des Arbeitgeberberichts vom 8. Mai 1982 liess sich überhaupt
noch nicht feststellen, ob die Revisionsvoraussetzungen des Art. 41 IVG
erfüllt waren. Da bei den Abklärungen keine unannehmbare Verzögerung
eingetreten ist, wäre die Verwaltung frühestens aufgrund der Angaben
des am 10. Mai 1982 bei der IVK eingegangenen Arbeitgeberberichts vom
8. Mai 1982 in der Lage gewesen, den Rückforderungsanspruch dem Grundsatz
nach und in seinem Ausmass zu ermitteln. Es ist daher davon auszugehen,
dass die einjährige Verwirkungsfrist frühestens am 10. Mai 1982 zu laufen
begann. Daraus folgt, dass die Rückerstattungsverfügung vom 3. Mai 1983
innerhalb der Jahresfrist des Art. 47 Abs. 2 AHVG erging. Entgegen der
Auffassung der Vorinstanz kann demnach der Rückerstattungsanspruch der
Ausgleichskasse nicht als verwirkt betrachtet werden.