Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 V 168



112 V 168

30. Urteil vom 4. Juli 1986 i.S. Furrer gegen Kantonale Ausgleichskasse
des Wallis und Kantonales Versicherungsgericht Wallis Regeste

    Art. 25bis IVG: Ablösung eines KUVG-Krankengeldes durch ein IV-Taggeld;
Besitzstandsgarantie. Art. 25bis IVG ist entgegen seinem Wortlaut auch
bei Versicherten anwendbar, die bis zur Eingliederung Anspruch auf ein
Krankengeld nach dem altrechtlichen Art. 74 KUVG hatten (Erw. 3).

    Art. 25 Abs. 1 IVG, Art. 17 Abs. 2 UVG und Art. 27 Abs. 1 UVV:
Berechnung des IV-Taggeldes. Zu vergleichen ist das Taggeld der
Unfallversicherung ohne den allfälligen Abzug für die Unterhaltskosten mit
dem Taggeld der IV, einschliesslich des vollen Eingliederungszuschlages
gemäss Art. 25 Abs. 1 IVG (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Hans Furrer erlitt am 31. Juli 1983 bei einem Unfall
Rückenwirbelfrakturen. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) gewährte ihm für die Zeit vom 3. August 1983 bis 31. August 1985
Krankengelder in der Höhe von Fr. 153.-- im Tag. Am 13. April 1984 meldete
sich der Versicherte bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an;
er ersuchte namentlich um Umschulung auf eine neue Erwerbstätigkeit.

    Mit Verfügung vom 16. Oktober 1985 setzte die Kantonale Ausgleichskasse
des Wallis das Taggeld für die erste Phase (2. September 1985 bis
1. September 1986) der von der Invalidenversicherung übernommenen
Umschulung auf Fr. 149.-- fest (Haushaltungsentschädigung und zwei
Kinderzulagen Fr. 131.--, Eingliederungszuschlag Fr. 18.--).

    B.- Die vom Versicherten hiegegen erhobene Beschwerde, mit der er die
Zusprechung eines Taggeldes von Fr. 154.-- zuzüglich Kinderzulagen von Fr.
26.-- und eines Eingliederungszuschlages von Fr. 18.-- beantragte, wies
das Kantonale Versicherungsgericht Wallis mit Entscheid vom 16. Dezember
1985 ab.

    C.- Der Versicherte lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit
dem Begehren, es sei ihm, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides
und der Kassenverfügung, ein Taggeld in der Höhe von Fr. 154.60 zuzüglich
eines Eingliederungszuschlages von Fr. 18.-- zuzusprechen.

    Während die Ausgleichskasse auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, beantragt das Bundesamt
für Sozialversicherung (BSV), in teilweiser Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei das Taggeld der Invalidenversicherung
auf Fr. 153.-- festzusetzen.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Versicherte hat während der Eingliederung Anspruch auf ein
Taggeld, wenn er an wenigstens drei aufeinanderfolgenden Tagen wegen
der Eingliederung verhindert ist, einer Arbeit nachzugehen, oder zu
mindestens 50 Prozent arbeitsunfähig ist (Art. 22 Abs. 1 Satz 1 IVG). Die
Taggelder werden u.a. als Haushaltungsentschädigung für Alleinstehende
und Kinderzulagen ausgerichtet (Art. 23 IVG) und nach den gleichen
Ansätzen, Bemessungsregeln und Höchstgrenzen wie die entsprechenden
Entschädigungen und Zulagen gemäss Bundesgesetz vom 25. September
1952 über die Erwerbsersatzordnung für Wehr- und Zivilschutzpflichtige
(EOG) festgelegt, wobei für Erwerbstätige das Erwerbseinkommen, das der
Versicherte durch die zuletzt voll ausgeübte Tätigkeit erzielt hat, die
Bemessungsgrundlage bildet (Art. 24 Abs. 1 und 2 IVG). Der Versicherte,
der während der Eingliederung selbst für Verpflegung oder Unterkunft
aufkommen muss, hat Anspruch auf einen Zuschlag zum Taggeld (Art. 25
Abs. 1 IVG), der vom Bundesrat auf Fr. 18.-- im Tag festgesetzt wurde
(Art. 11 AHVV, anwendbar gemäss Art. 25 Abs. 2 IVG in Verbindung mit
Art. 22bis Abs. 1 IVV).

    Hatte ein Versicherter bis zur Eingliederung Anspruch auf ein Taggeld
nach dem Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung
(UVG), so entspricht der Gesamtbetrag des Taggeldes mindestens dem bisher
bezogenen Taggeld der Unfallversicherung (Art. 25bis IVG, in Kraft seit
1. Januar 1984).

Erwägung 2

    2.- Streitig ist im vorliegenden Fall die Höhe des Taggeldes der
Invalidenversicherung, auf welches der Beschwerdeführer ab 2. September
1985 Anspruch hat.

    a) Ausgleichskasse und Vorinstanz setzten die Haushaltungsentschädigung
gemäss den ab 1. Januar 1984 gültigen Tabellen der EO-Tagesentschädigungen
und der IV-Taggelder auf Fr. 131.-- fest, womit sich zusammen mit dem
Eingliederungszuschlag von Fr. 18.-- (Art. 11 Abs. 1 AHVV) ein Taggeld von
insgesamt Fr. 149.-- ergab. Das kantonale Gericht gelangte zum Schluss,
dass Art. 25bis IVG im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. Diese
Bestimmung gelte nach ihrem Wortlaut nur für Versicherte, die bis zur
Eingliederung Anspruch auf ein Taggeld nach dem UVG gehabt hätten,
was für den Beschwerdeführer nicht zutreffe. Sein Unfall habe sich vor
dem Inkrafttreten des UVG am 1. Januar 1984 ereignet, weshalb ihm die
Versicherungsleistungen der SUVA (u.a. das Krankengeld) nach altem Recht
(KUVG) gewährt worden seien.

    b) Der Beschwerdeführer und das BSV wenden sich gegen diese
Betrachtungsweise. Der Beschwerdeführer macht im wesentlichen geltend,
Art. 25bis IVG dürfe nicht nach seinem Wortlaut, sondern müsse nach
seinem wirklichen Sinn ausgelegt werden. Die Besitzstandsklausel des
Art. 25bis IVG bezwecke, denjenigen Versicherten vor einer Benachteiligung
zu schützen, der nach einem Unfall nicht durch die Unfall-, sondern durch
die Invalidenversicherung eingegliedert werde. Die Ansicht der Vorinstanz
stehe auch in Widerspruch zu den Gesetzesmaterialien. Laut der Botschaft
des Bundesrates zum UVG sei das Taggeld identisch mit dem Krankengeld
nach KUVG. Art. 25bis IVG diene dazu, einen Leistungsabfall bei der
beruflichen Eingliederung zu verhindern. Das BSV schliesst sich dieser
Begründung an und weist zusätzlich darauf hin, dass sich bezüglich der
Art. 16 Abs. 3 UVG, 44 Abs. 2 und 25bis IVG keine Übergangsbestimmungen
fänden. Diese Normen entfalteten deshalb mit dem Inkrafttreten des
UVG rechtliche Wirkungen. In zeitlicher Hinsicht seien diejenigen
Rechtssätze massgeblich, die bei Erfüllung des rechtlich zu ordnenden
oder zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben. Im Falle des
Art. 25bis IVG liege dieser Sachverhalt in der Ablösung des Taggeldes
der Unfallversicherung (bzw. der Krankengelder gemäss KUVG) durch das
Taggeld der Invalidenversicherung, weshalb diese Bestimmung vorliegend
entgegen der Ansicht der Vorinstanz anzuwenden sei.

Erwägung 3

    3.- a) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut
auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar bzw. sind verschiedene Auslegungen
möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter
Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich der Auslegung
nach dem Zweck, nach dem Sinn und nach den dem Text zugrunde liegenden
Wertungen. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext
zukommt (BGE 111 V 127 Erw. 3b, 110 V 122 Erw. 2d mit Hinweisen).

    Das Gericht ist zwar an das Gesetz gebunden, doch weicht es
ausnahmsweise von der wörtlichen Interpretation ab, wenn diese zu
offensichtlich unhaltbaren Ergebnissen führt, die dem wahren Willen
des Gesetzgebers zuwiderlaufen (BGE 109 V 62 Erw. 4, 107 V 216 Erw. 3b;
RKUV 1984 Nr. K 593 S. 226 Erw. 2b; vgl. auch BGE 105 V 47).

    b) Der Vorinstanz ist darin beizupflichten, dass Art. 25bis IVG,
der durch das Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung
(UVG), in Kraft seit 1. Januar 1984, ins IVG eingefügt wurde, nach
seinem Wortlaut nur bei Versicherten Anwendung findet, die vor der
Eingliederung Anspruch auf ein Taggeld nach dem UVG hatten. Sinn dieser
Bestimmung ist laut der bundesrätlichen Botschaft vom 18. August 1976 zum
Bundesgesetz über die Unfallversicherung jedoch, einen Leistungsabfall
bei der beruflichen Eingliederung zu verhindern, solange die Taggelder
der Invalidenversicherung jenen der Unfallversicherung nicht allgemein
angeglichen sind, indem die Taggelder der Invalidenversicherung nicht
niedriger angesetzt werden dürften als die zuvor bezogenen Taggelder der
Unfallversicherung (BBl 1976 III 228). Die Auslegung des Art. 25bis IVG
nach dem Wortlaut ist in ihren Auswirkungen unhaltbar. Versicherte würden
unterschiedlich behandelt, je nachdem, ob sie vor Beginn der Eingliederung
Krankengelder nach KUVG oder Taggelder nach UVG bezogen haben. Eine solche
rechtsungleiche Behandlung, deren Ursache in Zufälligkeiten zeitlicher
Natur liegt, kann sich nicht auf sachliche Gründe stützen; sie erweist
sich als unzulässig und widerspricht der Absicht des Gesetzgebers, der
allgemein Versicherte, deren Tagesentschädigungen der Unfallversicherung
durch solche der Invalidenversicherung abgelöst werden, vor Benachteiligung
schützen wollte. Art. 25bis IVG ist demnach entgegen seinem Wortlaut auch
anwendbar, wenn der Versicherte vor Beginn der Eingliederung Krankengelder
nach Art. 74 f. KUVG bezogen hat.

    c) Der Anwendung von Art. 25bis IVG auf Versicherte, die vor
Inkrafttreten des UVG einen Unfall erlitten haben, steht - wie das BSV
richtig ausführt - keine übergangsrechtliche Regelung entgegen. Wohl
bestimmt Art. 118 Abs. 1 UVG, dass Versicherungsleistungen für Unfälle, die
sich vor dem Inkrafttreten des UVG ereignet haben, nach bisherigem Recht
- im vorliegenden Fall Krankengelder nach KUVG - gewährt werden. Daraus
kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass in solchen Fällen das frühere
Invalidenversicherungsrecht gelte. Denn in zeitlicher Hinsicht sind
grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgeblich, die bei Erfüllung des
zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (ZAK 1983 S. 239
Erw. 2b; IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,
5. Aufl., Bd. I, S. 95). Im Zeitpunkt der Ablösung des Krankengeldes
gemäss KUVG durch das Taggeld der Invalidenversicherung (2. September 1985)
stand Art. 25bis IVG in Kraft und ist demzufolge vorliegend anzuwenden. Der
Beschwerdeführer hat somit ab 2. September 1985 Anspruch auf ein Taggeld
der Invalidenversicherung in der Höhe des zuvor bezogenen Krankengeldes
der SUVA (Fr. 153.--); dabei handelt es sich um das dem Höchstbetrag des
versicherten Verdienstes entsprechende Taggeld (vgl. Art. 74 Abs. 2 KUVG).

Erwägung 4

    4.- Zusätzlich zum Taggeld beansprucht der Beschwerdeführer den
Eingliederungszuschlag von Fr. 18.--.

    Im Gegensatz zur Invalidenversicherung, die dem Versicherten, der
während der Eingliederung selbst für Verpflegung oder Unterkunft aufkommen
muss, einen Zuschlag zum Taggeld gewährt (Art. 25 Abs. 1 Satz 1 IVG),
ist im Taggeld der Unfallversicherung der Anteil für die Unterhaltskosten
eingeschlossen, wie sich aus Art. 17 Abs. 2 UVG und Art. 27 Abs. 1 UVV
ergibt, wonach für die Unterhaltskosten ein Abzug vom Taggeld vorgenommen
wird, wenn die Unfallversicherung diese Kosten deckt. Eine entsprechende
Regelung enthielt im übrigen auch Art. 75 KUVG (vgl. dazu BGE 105 V 202
Erw. 2a und b). Die Naturalleistungen bilden demnach einen Bestandteil
des Taggeldes nach UVG bzw. des Krankengeldes nach KUVG. Dies hat zur
Folge, dass gemäss Art. 25bis IVG das Taggeld der Unfallversicherung
ohne den allfälligen Abzug für die Unterhaltskosten mit dem Taggeld der
Invalidenversicherung einschliesslich des vollen Eingliederungszuschlages
von gegenwärtig Fr. 18.-- im Tag zu vergleichen ist (vgl. Rz. 42.4 des ab
1. Januar 1986 gültigen Nachtrages 3 zum Kreisschreiben über die Taggelder
sowie Rz. 18 des ab 1. Januar 1986 gültigen Anhanges). Der Beschwerdeführer
hat demnach nur Anspruch auf ein Taggeld der Invalidenversicherung in der
Höhe von Fr. 153.-- (Krankengeld nach KUVG ohne Abzug für Unterhaltskosten,
das höher ist als das Taggeld der Invalidenversicherung einschliesslich
des Eingliederungszuschlages).

    Laut Art. 27 Abs. 2 UVV wird zwar bei Versicherten, die für
minderjährige oder in Ausbildung begriffene Kinder zu sorgen haben, kein
Abzug für die Unterhaltskosten in einer Heilanstalt vorgenommen. Daraus
kann aber nicht abgeleitet werden, dass in diesen Fällen zum Taggeld der
Unfallversicherung ein Zuschlag für die ohne Belastung des Versicherten
von der Unfallversicherung übernommenen Unterhaltskosten zu berücksichtigen
ist (vgl. Rz. 42.4 des Nachtrages 3 zum Kreisschreiben).

Erwägung 5

    5.- (Parteientschädigung.)

Entscheid:

       Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Kantonalen Versicherungsgerichtes Wallis vom 16. Dezember
1985 sowie die Kassenverfügung vom 16. Oktober 1985 aufgehoben,
und die Kantonale Ausgleichskasse des Wallis wird verpflichtet, dem
Beschwerdeführer vom 2. September 1985 bis 1. September 1986 ein Taggeld
von Fr. 153.-- zu bezahlen.