Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 V 164



112 V 164

29. Auszug aus dem Urteil vom 24. Juli 1986 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen T. und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich
Regeste

    Ziff. 3 des Schlussprotokolls zum Abkommen zwischen der Schweiz und
der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 1. Mai 1969. Zum Begriff
"sich gewöhnlich aufhalten".

Sachverhalt

    A.- Der 1978 geborene türkische Staatsangehörige T. leidet an
Epilepsie und an geistiger Behinderung, welche zunächst mit einer gewissen
Ängstlichkeit sowie mit erzieherischen Problemen erklärt wurden. Im
Juni 1982 reiste er mit seinen Eltern in die Schweiz ein. In der Folge
wurde er zu Pflegeeltern im Kanton Zürich verbracht, wo er seither
ununterbrochen lebt. Nachdem seine leiblichen Eltern im Januar 1983 aus
der Schweiz ausgewiesen worden waren, bestellte die Vormundschaftsbehörde
der Stadt Zürich dem Kind einen Beistand. Am 26. September 1984 teilte
die Fremdenpolizei des Kantons Zürich dem Beistand mit, es werde ein
dauernder Pflegeaufenthalt in der Schweiz bewilligt, sobald u.a. eine
Vormundschaft errichtet sei. Daraufhin wurde das Verfahren zum Entzug
der elterlichen Gewalt eingeleitet und die Aufenthaltsbewilligung bis
18. Dezember 1986 verlängert.

    Am 17. August 1984 war T. von seinem Beistand bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet worden. Entsprechend
einem Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission lehnte
die Ausgleichskasse des Kantons Zürich das Begehren ab, da die
versicherungsmässigen Voraussetzungen in bezug auf den schweizerischen
Wohnsitz gemäss dem schweizerisch-türkischen Abkommen über Soziale
Sicherheit vom 1. Mai 1969 nicht erfüllt seien (Verfügung vom 8. November
1984).

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess die AHV-Rekurskommission
des Kantons Zürich mit Entscheid vom 30. Oktober 1985 teilweise gut, hob
die angefochtene Verfügung vom 8. November 1984 auf und wies die Akten zur
materiellen Beurteilung des Leistungsbegehrens an die Verwaltung zurück.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der vorinstanzliche
Entscheid sei aufzuheben und die Kassenverfügung vom 8. November 1984
wiederherzustellen.

    Der Beistand des T. lässt auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Die Ausgleichskasse verweist
auf die Vernehmlassung der Invalidenversicherungs-Kommission, welche die
Gutheissung der Beschwerde beantragt.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist, ob der Beschwerdegegner die versicherungsmässigen
Voraussetzungen für die Zusprechung von Eingliederungsmassnahmen der
schweizerischen Invalidenversicherung erfüllt. Diese Frage ist aufgrund
des am 1. Januar 1969 in Kraft getretenen Abkommens zwischen der Schweiz
und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 1. Mai 1969 zu
prüfen. Laut dessen Art. 9 Ziff. 2 Satz 1 steht minderjährigen Kindern
türkischer Staatsangehörigkeit, die in der Schweiz wohnen, ein Anspruch
auf Eingliederungsmassnahmen zu, wenn sie unmittelbar vor dem Eintritt der
Invalidität ununterbrochen während mindestens eines Jahres in der Schweiz
gewohnt haben. Gemäss Ziff. 3 des Schlussprotokolls zum Abkommen bedeutet
der Ausdruck "wohnen" im Sinne des Abkommens "sich gewöhnlich aufhalten".

    a) Im Lichte der von der Rechtsprechung entwickelten
Auslegungsgrundsätze (BGE 111 V 119 Erw. 1b) ist zu prüfen, welche
Bedeutung der Wendung "sich gewöhnlich aufhalten" gemäss Ziff. 3
des Schlussprotokolls zum erwähnten Abkommen zukommt. Den nämlichen
Terminus "sich gewöhnlich aufhalten" kennt auch das Abkommen zwischen
der Schweiz und Spanien über Soziale Sicherheit vom 13. Oktober 1969 in
Ziff. 2 des Schlussprotokolls. Eine übereinstimmende Formulierung findet
schliesslich auch im internationalen Privatrecht Verwendung, indem der
"Wohnsitz" zunehmend durch den Begriff der "résidence habituelle" bzw. des
"gewöhnlichen Aufenthaltes" ersetzt wird, welcher einen Aufenthalt von
einer gewissen Dauer am Ort voraussetzt, wo sich der "Schwerpunkt der
Lebensverhältnisse" befindet (VISCHER, Internationales Privatrecht, in:
Schweizerisches Privatrecht, Bd. I, S. 544 f.; STEIN, Das internationale
Sozialversicherungsrecht der Schweiz mit Einschluss seiner Beziehungen zum
Haftpflichtrecht, SZS 1971, S. 21 f.; BUCHER, N 52 und 94 zu Vorbemerkungen
vor Art. 22-26 ZGB; SCHNITZER, Handbuch des internationalen Privatrechts,
Bd. I, S. 127 f.; vgl. auch BGE 110 II 121 f., 94 I 243, 89 I 314). -
Das Eidg. Versicherungsgericht hat sich bisher zum Begriff des
"gewöhnlichen Aufenthaltes" nicht ausdrücklich ausgesprochen. Es hat
lediglich im Zusammenhang mit der Gewährung ausserordentlicher Renten
der AHV und der Invalidenversicherung sowie von Ergänzungsleistungen
festgestellt, dass unter anderem neben dem zivilrechtlichen Wohnsitz auch
der effektive Aufenthalt in der Schweiz und der Wille, diesen Aufenthalt
aufrechtzuerhalten, massgebend sind, und zusätzlich dazu den "Schwerpunkt
aller Beziehungen in der Schweiz" als erforderlich bezeichnet (BGE 111 V
182 Erw. 4a, 110 V 172 Erw. 2b und 173 Erw. 3b mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 110 V 283, 108 V 77, 105 V 168 mit Hinweisen).

    b) Bei der Auslegung der genannten Bestimmungen ist von Bedeutung,
dass im Vertragstext - anders als z.B. im Abkommen zwischen der
Schweiz und Italien über Soziale Sicherheit vom 14. Dezember 1962
in Ziff. 9 des Schlussprotokolls - nicht von "Wohnsitz" im Sinne
des Schweizerischen Zivilgesetzbuches die Rede ist. Da der Wortlaut
des Sozialversicherungsabkommens mit der Türkei - auch in dem gemäss
Ziff. 16 lit. b in fine des Schlussprotokolls nebst dem türkischen in
gleicher Weise verbindlichen französischen Originaltext - nicht der
Klarheit entbehrt, kann insoweit der zivilrechtliche Wohnsitz nach
schweizerischem Recht nicht massgebend sein (BBl 1969 II 1433 unten),
weshalb insbesondere auch die gesetzlichen Wohnsitzfiktionen nach Art. 25
Abs. 1 ZGB ausser Betracht fallen (vgl. dazu BGE 106 V 162 f. mit
Hinweisen). Anderseits wird im Vertragstext der Begriff "Aufenthalt"
ebenfalls nicht verwendet, so dass der fraglichen Bestimmung auch
der schweizerische Aufenthaltsbegriff im Sinne des unter Umständen
bloss vorübergehenden Verweilens (Art. 24 Abs. 2 und Art. 26 ZGB)
nicht zugrunde gelegt werden kann (vgl. in diesem Zusammenhang auch ZAK
1965 S. 304). Der fraglichen Wendung ist deshalb unter Weiterführung
der in Erw. 1a hievor dargelegten Grundsätze jene Bedeutung beizumessen,
wie sie sich im wesentlichen aus dem internationalen Privatrecht und der
damit - unter Vorbehalt des zivilrechtlichen Wohnsitzes - grundsätzlich
übereinstimmenden Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts über
die ausserordentlichen Renten ergibt. Demnach ist für den "gewöhnlichen
Aufenthalt" der effektive Aufenthalt in der Schweiz und der Wille, diesen
während einer gewissen Dauer aufrechtzuerhalten, massgebend; zusätzlich
dazu muss sich der Schwerpunkt aller Beziehungen in der Schweiz befinden.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall fragt es sich zunächst, ob der
Beschwerdegegner angesichts des Umstandes, dass er sich seit Juni 1982 in
der Schweiz und seit Juli 1982 bei seinen Pflegeeltern im Kanton Zürich
befindet, sich hier im Sinne der erwähnten Grundsätze "gewöhnlich aufhält".

    a) Das BSV vertritt in seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde die
Auffassung, das "Wohnen" des Beschwerdegegners sei im vorliegenden Fall
"bestimmt kein gewöhnlicher Aufenthalt". Die von der Fremdenpolizei des
Kantons Zürich ausgestellte Aufenthaltsbewilligung zeige nämlich, dass
für den Knaben nur ein vorübergehender Aufenthalt vorgesehen gewesen
sei. Die entsprechende Bewilligung datiere vom 26. Juli 1984 und sei
lediglich bis zum 18. Dezember 1984 gültig. Es sei daher ungewiss, ob das
Pflegeverhältnis verlängert werde, zumal sich die leiblichen Eltern auch
wieder melden könnten.

    b) Dieser Betrachtungsweise kann nicht gefolgt werden. Wie die
Vorinstanz mit Recht festhält, sind die Eltern des Beschwerdegegners
bereits im Januar 1983 aus der Schweiz ausgewiesen worden und haben
sich seither nicht mehr ernstlich um das Kind gekümmert. Schon vor
ihrer Ausweisung erklärten sie am 6./7. Januar 1983 gegenüber der
Vormundschaftsbehörde ausdrücklich, das Kind könne bei den Pflegeeltern
"so lange in Pflege bleiben, als diese es wünschen". Die daraufhin von der
Fremdenpolizei am 26. Juli 1984 erteilte Aufenthaltsbewilligung trug zwar
den Vermerk "Vorübergehender Pflegeaufenthalt" und war nur bis zum 18.
Dezember 1984 gültig. Das ist jedoch für die Belange des vorliegenden
Falles insofern unerheblich, als eine Aufenthaltsbewilligung normalerweise
ohnehin stets befristet ist und die Behörden der Fremdenpolizei dem
Ausländer, auch wenn er voraussichtlich dauernd im Lande bleibt, zunächst
in der Regel nur (befristeten) Aufenthalt zu bewilligen haben (Art. 5
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 ANAG). Die Aufenthaltsbewilligung
des Beschwerdegegners wurde von der Fremdenpolizei des Kantons Zürich denn
auch wiederholt verlängert und letztmals mit Wirkung bis 18. Dezember
1986 erteilt. Aufgrund dieser fortlaufend verlängerten Bewilligung hält
sich der Beschwerdegegner - wie die Invalidenversicherungs-Kommission
bereits am 1. Oktober 1984 bemerkte - tatsächlich und rechtmässig am
Wohnsitz seiner Pflegeeltern auf, wo sich anscheinend auch seine Schwester
befindet. Zudem wurde dort - nach der im Februar 1983 erfolgten Ernennung
eines Beistandes - auch das Verfahren zum Entzug der elterlichen Gewalt
sowie zur Bestellung eines Vormundes eingeleitet, welches zur Zeit noch
nicht rechtskräftig abgeschlossen ist. Bei diesen Gegebenheiten liegt
nach den zutreffenden Ausführungen der Vorinstanz ein Sachverhalt vor,
der zur Annahme des Schwerpunktes aller Beziehungen des Beschwerdegegners
in der Schweiz führt. Da dem Kinde im Rahmen seiner intellektuellen
Fähigkeiten auch der Wille zur Aufrechterhaltung des weiter dauernden
Aufenthalts bei seinen Pflegeeltern nicht abgesprochen werden kann, sind
die in Erw. 1b in fine erwähnten Voraussetzungen für den gewöhnlichen
Aufenthalt des Beschwerdegegners in der Schweiz erfüllt. Daran ändert
auch der vom BSV unter Bezugnahme auf die vorinstanzliche Vernehmlassung
der Invalidenversicherungs-Kommission erhobene Einwand nichts, der
Beschwerdegegner sei nur wegen der hier bestehenden und in seiner
Heimat offenbar fehlenden Möglichkeiten zu seiner Pflege und Betreuung
in die Schweiz verbracht worden; hiefür fehlen jegliche Anhaltspunkte in
den Akten.