Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IV 88



112 IV 88

28. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 28. August 1986 i.S. K.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 36 Abs. 2 SVG, Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV.

    1. Nicht speziell signalisierte Strässchen, die nur bestimmten
Personen offenstehen oder als Sackgassen wenige Häuser bedienen, haben
bei der Einmündung in Durchgangsstrassen eine so untergeordnete Bedeutung,
dass dort das Vortrittsrecht nicht gilt.

    2. Unter "Durchgangsstrassen" i.S. von BGE 96 IV 37 sind nicht nur
Autobahnen, Autostrassen und Hauptstrassen zu verstehen, sondern allgemein
jene Strassen, die wenigstens zeitweise viel Verkehr aufweisen, grössere
Ortsteile oder Ortschaften miteinander verbinden und nicht bloss dem
Innenverkehr eines Quartiers dienen.

Sachverhalt

    A.- Als am 1. Oktober 1984, um 13.30 Uhr, Frau S. in Chur mit ihrem
Personenwagen in Richtung Ringstrasse durch die Wiesentalstrasse fuhr,
bog nach der Liegenschaft Nr. 50 von rechts aus einer Sackgasse Frau
K. mit ihrem Wagen in die letztgenannte Strasse ein. Dabei kam es zwischen
den beiden Fahrzeugen zu einem heftigen Zusammenstoss, wobei die beiden
Lenkerinnen verletzt wurden und an den Fahrzeugen erheblicher Sachschaden
entstand. Die erwähnte Sackgasse, die keinen Namen trägt und zu zwei
Häusern führt, ist nicht als solche signalisiert.

    Am 24. Oktober 1985 verfällte der Kreisgerichtsausschuss Chur Frau
K. wegen Verletzung von Art. 15 Abs. 3 VRV in eine Busse von Fr. 120.--.

    Eine von der Verurteilten gegen diesen Entscheid eingereichte Berufung
wies der Kantonsgerichtsausschuss Graubünden am 16. April 1986 ab.

    Frau K. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Kantonsgerichtsausschusses sei aufzuheben und sie sei freizusprechen. Das
Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Bei Strassenverzweigungen hat das von rechts kommende Fahrzeug den
Vortritt (Art. 36 Abs. 2 SVG). Verzweigungen sind Kreuzungen, Gabelungen
oder Einmündungen von Fahrbahnen. Das Zusammentreffen von Rad- oder
Feldwegen, von Garage-, Parkplatz-, Fabrik- oder Hofausfahrten usw. mit der
Fahrbahn gilt nicht als Verzweigung (Art. 1 Abs. 8 VRV). Deswegen hat auch,
wer aus solchen Ausfahrten sowie aus Feldwegen, Radwegen, Parkplätzen,
Tankstellen und dergleichen auf eine Haupt- oder Nebenstrasse fährt,
den Benützern dieser Strassen den Vortritt zu gewähren (Art. 15 Abs. 3
VRV). Für Fälle, wo es an der Signalisierung einer Ausnahme von der
Regel des Art. 36 Abs. 2 SVG fehlt und eine Klassierung des Verkehrswegs
unter eines der in Art. 1 Abs. 8 VRV genannten Beispiele nicht eindeutig
gegeben ist, hat das Bundesgericht auf die Verkehrsbedeutung abgestellt
und entschieden, dass Strässchen, die nur bestimmten Personen offenstehen
oder als Sackgassen wenige Häuser bedienen, bei der Einmündung in
Durchgangsstrassen eine so untergeordnete Bedeutung haben, dass dort das
normale Vortrittsrecht nicht gilt (BGE 107 IV 49 und 50 mit Verweisungen).

    a) Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz ist die von
der Beschwerdeführerin unmittelbar vor dem Unfall befahrene Verkehrsfläche
zwar recht breit und asphaltiert. Doch ist sie eine blosse Sackgasse, die
bereits nach wenigen Dutzend Metern endet und lediglich zwei Grundstücken
mit den beiden Häusern Nrn. 58 und 60 dient. Ausserdem hebt das Gericht
hervor, es handle sich dabei um eine wenig benutzte Zufahrt von derart
geringer Bedeutung, dass sie nicht einmal einen Namen trage, während
die Wiesentalstrasse stark befahren werde und das bevölkerungsreiche
Lacunaquartier mit der Gegend um den Bahnhof verbinde.

    b) Geht man von diesen für den Kassationshof verbindlichen
tatsächlichen Annahmen aus, so unterliegt es keinem Zweifel, dass es sich
bei der Einmündung der fraglichen Sackgasse in die Wiesentalstrasse nicht
um eine Verzweigung im Rechtssinne gehandelt hat und die Beschwerdeführerin
infolgedessen der Frau S. den Vortritt hätte gewähren müssen. Wie die
Vorinstanz ferner festhält, ist die Beschwerdeführerin sich auch durchaus
bewusst gewesen, dass ihr angesichts der geringen Bedeutung der von ihr
benützten "Ausfahrt" der Vortritt nicht zustand, habe sie doch gemäss ihren
eigenen Angaben bei der Einmündung einen Sicherheitshalt eingeschaltet und
sich vergewissert, ob von links oder rechts andere Fahrzeuge nahten. Diese
Feststellungen binden den Kassationshof und bestätigen das Gesagte.

    c) Was die Beschwerdeführerin hiergegen vorbringt, ist zu einem
wesentlichen Teil schon deswegen unbeachtlich, weil sie von einem
Sachverhalt ausgeht, der mit dem im angefochtenen Urteil festgehaltenen
nicht übereinstimmt. Soweit sie aber unter Berufung auf BGE 96 IV
37 darauf Gewicht legt, dass der Kassationshof in diesem Entscheid
von Durchgangsstrassen sprach, ist sie darauf hinzuweisen, dass dieser
Ausdruck nicht im technischen Sinne, d.h. zur Bezeichnung von Autobahnen,
Autostrassen und Hauptstrassen verwendet wurde. Er wurde bloss gebraucht,
um deutlich zu machen, dass es sich um Strassen handelt, die wenigstens
zeitweise viel Verkehr aufweisen und grössere Ortsteile oder gar
Ortschaften miteinander verbinden und nicht bloss dem Innenverkehr
eines Quartiers dienen. Im vorliegenden Fall handelt es sich bei
der Wiesentalstrasse nicht um einen dem blossen Innenverkehr eines
Quartiers dienenden Verkehrsweg, sondern um die Verbindung eines ganzen
bevölkerungsreichen Quartiers mit der Gegend um den Bahnhof, also um
eine Strasse, die - wie bereits bemerkt - nach dem angefochtenen Urteil
stark befahren wird. Damit aber ist das Verkehrsgefälle zwischen ihr und
der "wenig benutzten" Sackgasse klarerweise erstellt und auch für den
Strassenbenützer ohne weiteres erkennbar. Das muss in vermehrtem Masse
für die Beschwerdeführerin gelten, weist sie doch in ihrer Eingabe selber
auf ihre Ortskundigkeit hin.