Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IV 43



112 IV 43

13. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 26. Mai 1986
i.S. N. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zug (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 247, 249 BStP; Art. 25 Abs. 2 lit. i SVG, Art. 33 Abs. 3
BAV, Art. 14 ARV, Art. 5 Abs. 1 VRV. Fahrtschreiberaufzeichnungen als
Beweismittel.

    Die anlässlich einer Kontrolle der Arbeits- und Ruhezeit der
berufsmässigen Motorfahrzeugführer anhand der Fahrtschreiberaufzeichnungen
gemachten Wahrnehmungen betreffend die gefahrenen Geschwindigkeiten
können Anlass zur Eröffnung eines Strafverfahrens wegen Überschreitung
der zulässigen Höchstgeschwindigkeit bilden. Dabei können die
Fahrtschreiberaufzeichnungen als Beweismittel verwendet werden
(Präzisierung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Am 12. September 1984 führte die Kantonspolizei Zug bei
verschiedenen Unternehmungen Betriebskontrollen durch. Dabei ergab
sich, dass unter anderem N. als Führer eines schweren Motorwagens
die Vorschriften der Chauffeurverordnung betreffend wöchentliche
Höchstarbeitszeit, zulässige Überzeitarbeit, tägliche Höchstlenkzeit,
Pausen, tägliche Ruhezeit, Bedienung des Fahrtschreibers, Ausfüllen des
Wochenblattes im Arbeitsbuch etc. verschiedentlich missachtet hatte. Die
Polizei stellte bei der Untersuchung der Fahrtschreiber-Diagrammscheiben
zudem fest, dass er im überprüften Zeitraum Juni bis August 1984 mehrmals
die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h für schwere Motorwagen ohne
Anhänger überschritten hatte und gemäss den Fahrtschreiberaufzeichnungen
gelegentlich mit einer Geschwindigkeit von maximal 110 km/h gefahren war.

    B.- Das Polizeirichteramt des Kantons Zug bestrafte N. am 2. August
1985 wegen Verletzung verschiedener Bestimmungen der Chauffeurverordnung
sowie wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 80
km/h für schwere Motorwagen (Art. 90 Ziff. 1 SVG in Verbindung mit Art. 5
Abs. 1 VRV) mit einer Busse von Fr. 300.--. Das Strafgericht Zug sprach
ihn auf seine Berufung hin am 20. Dezember 1985 in einzelnen Anklagepunkten
(Verletzung der Vorschriften betreffend die wöchentliche Höchstarbeitszeit
und betreffend Überzeit sowie betreffend Meldung an den Arbeitgeber)
frei, bestätigte die übrigen Schuldsprüche, unter anderem jenen wegen
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, und bestrafte ihn
mit einer Busse von Fr. 300.--.

    C.- Der Gebüsste führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit
dem Antrag, er sei in Aufhebung des Urteils des Strafgerichts Zug
vom 20. Dezember 1985 vom Vorwurf der Überschreitung der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit für schwere Motorwagen ohne Anhänger (Art. 5 Abs. 1
VRV) freizusprechen und die von der Vorinstanz ausgefällte Busse sei
angemessen zu reduzieren.

    Das Strafgericht und die Staatsanwaltschaft des Kantons Zug beantragen
die Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer macht geltend, er dürfe nicht aufgrund
der Aufzeichnungen auf den Einlageblättern des Fahrtschreibers wegen
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit für schwere Motorwagen
ohne Anhänger verurteilt werden. Diese Einlageblätter dürfen seines
Erachtens nicht zur nachträglichen und systematischen Überprüfung der
gefahrenen Geschwindigkeiten verwendet werden.

    a) Nach Art. 25 Abs. 2 lit. i SVG erlässt der Bundesrat Vorschriften
über Geräte zur Aufzeichnung der Fahrzeit, der Geschwindigkeit und
dergleichen; "er schreibt solche Einrichtungen vor, namentlich zur
Kontrolle der Arbeitszeit berufsmässiger Motorfahrzeugführer sowie
allenfalls für Fahrzeuge von Personen, die wegen zu schnellen Fahrens
bestraft wurden". Zwar ist diese Aufzählung der Zwecke, zu denen der
Bundesrat auf dem Verordnungsweg den Einbau von Tachografen vorschreiben
kann, nicht abschliessend ("namentlich"). Ob diese Delegationsnorm - oder
andere, allgemeiner formulierte Delegationsnormen im SVG (s. Art. 8, 56,
106) - den Bundesrat zum Erlass einer Verordnungsbestimmung des Inhalts
ermächtigt, dass die von berufsmässigen Fahrzeuglenkern in einem beliebigen
Zeitpunkt gefahrene Geschwindigkeit jederzeit und voraussetzungslos
anhand der Fahrtschreiberaufzeichnungen kontrolliert werden darf,
kann hier dahingestellt bleiben. Der Bundesrat hat jedenfalls von einer
allfälligen Kompetenz zum Erlass einer solchen Bestimmung nicht Gebrauch
gemacht. Nach Art. 33 Abs. 3 BAV müssen die dort genannten Fahrzeuge
"mit einem Fahrtschreiber zur Kontrolle der Arbeits- und Ruhezeit und zur
Abklärung von Unfällen... ausgerüstet sein" ("doivent être équipés d'un
tachygraphe permettant de contrôler la durée du travail et du repos et
de déterminer les vitesses en cas d'accident"). Damit wird festgelegt, zu
welchen Zwecken die Fahrtschreiberaufzeichnungen unabhängig vom Vorliegen
des Verdachts einer strafbaren Handlung untersucht werden dürfen. Die
zitierten Bestimmungen verbieten den Behörden aber nicht, die anlässlich
einer zu diesen Zwecken durchgeführten Untersuchung der Diagrammscheiben
gemachten Wahrnehmungen, welche mit dem Untersuchungsgegenstand (Unfall,
Arbeits- und Ruhezeit) nichts zu tun haben, ebenfalls zu beachten. Sie
schreiben den Behörden nicht vor, dass sie bei der Untersuchung der
Fahrtschreiber-Diagrammscheiben bestimmte Wahrnehmungen nicht machen
dürfen, und die genannten Bestimmungen enthalten weder eine Ausnahme vom
strafprozessualen Legalitätsprinzip (s. Art. 247 BStP), wonach bei Verdacht
einer Straftat ein Verfahren zu eröffnen ist, noch eine Einschränkung
des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (s. Art. 249 BStP) durch
ein Beweisverbot (vgl. dazu BGE 108 IV 112 ff.). Die nach Art. 247 BStP
bestehende Pflicht (s. BGE 100 IV 126 E. 2b) der kantonalen Behörden zur
Verfolgung und Beurteilung von Bundesstrafsachen besteht auch in bezug auf
eine strafbare Handlung, die anlässlich von Ermittlungen hinsichtlich einer
anderen Straftat entdeckt wird und mit dieser in keinem Zusammenhang steht,
und der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt auch in einem aufgrund
solcher Wahrnehmungen eröffneten Verfahren. Führt die Polizei anhand der
Fahrtschreiberaufzeichnungen Arbeits- und Ruhezeitkontrollen durch und
stellt sie dabei fest, dass der Lenker gemäss diesen Aufzeichnungen die
Geschwindigkeitslimiten überschritten hat, dann kann ein Verfahren wegen
Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit eröffnet und die Diagrammscheibe
als Beweismittel verwendet werden. Dies ergibt sich aus den in Art. 247
und 249 BStP festgelegten Grundsätzen, die weder durch Art. 25 Abs. 2
lit. i SVG noch durch Art. 33 Abs. 3 BAV eingeschränkt werden.

    b) Der Beschwerdeführer behauptet mit Recht selber nicht, dass
die von der Kantonspolizei Zug am 12. September 1984 durchgeführte
Betriebskontrolle zwecks Überprüfung der Arbeits- und Ruhezeit
unter anderem anhand der Fahrtschreiberaufzeichnungen unzulässig
gewesen sei. Er macht auch nicht geltend, es sei bei der fraglichen
Betriebskontrolle in Tat und Wahrheit primär um eine gezielte
Überprüfung der von den Chauffeuren im Zeitraum Juni bis August 1984
gefahrenen Geschwindigkeiten gegangen. Die Zuger Behörden überprüften
in zulässiger Weise die Fahrtschreiberaufzeichnungen darauf hin, ob der
Beschwerdeführer die Vorschriften der Chauffeurverordnung betreffend
die Arbeits- und Ruhezeit etc. eingehalten habe. Sie machten anlässlich
dieser Überprüfung der Diagrammscheiben Wahrnehmungen, die zumindest
den Verdacht begründeten, der Beschwerdeführer habe die gemäss Art. 5
Abs. 1 VRV zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h für schwere
Motorwagen mehrmals eindeutig überschritten. Diese Wahrnehmungen waren
nicht das Ergebnis von allenfalls unzulässigen "Verdachtsermittlungen"
(siehe dazu Hans Walder, Grenzen der Ermittlungstätigkeit, ZStW 95/1983
S. 867 mit Hinweisen), sondern wurden von der Polizei anlässlich der
ihr obliegenden Kontrolle der Arbeits- und Ruhezeit der Chauffeure
anhand der Fahrtschreiberaufzeichnungen gemacht. Aufgrund des durch diese
Wahrnehmungen begründeten Verdachts konnte nach dem Gesagten ein Verfahren
wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit eröffnet werden,
in welchem die Fahrtschreiber-Diagrammscheiben als Beweismittel verwendet
werden durften.