Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IV 115



112 IV 115

35. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 21. August 1986
i.S. F. und C. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 23 Abs. 1 ANAG, Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens;
Art. 96 OG, Art. 269 BStP, Art. 73 VwVG.

    1. In einem Strafverfahren wegen illegaler Einreise in die Schweiz
ist die Rüge, dass eine Verurteilung wegen rechtswidrigen Betretens des
Landes gegen Bestimmungen des Flüchtlingsabkommens verstosse, nicht
mit der Beschwerde an den Bundesrat, sondern mit der eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht zu erheben (E. 1).

    2. Der Richter kann in einem Strafverfahren selber vorfrageweise
über die für die strafrechtliche Beurteilung einer bestimmten Handlung
wesentliche Frage der Flüchtlingseigenschaft des Angeschuldigten
entscheiden, wenn die Asylbehörden darüber noch nicht befunden haben
(E. 4a).

Sachverhalt

    A.- Am 7. März 1985 kontrollierten Beamte der Kantonspolizei St. Gallen
in Murg einen Personenwagen mit Mailänder Kontrollschildern. Im Fahrzeug
sassen zwei italienische und fünf türkische Staatsangehörige. Die
türkischen Staatsangehörigen, die einige Stunden zuvor heimlich in die
Schweiz eingereist waren und keine Visa vorweisen konnten, wurden wegen des
Verdachts des widerrechtlichen Betretens des Landes in Untersuchungshaft
genommen und später, mit Ausnahme von F. und C., die am 13. März 1985
ein Asylgesuch stellten, nach Istanbul ausgeschafft.

    B.- Am 2. Juli 1985 verurteilte die Gerichtskommission Sargans
F. und C. wegen rechtswidrigen Betretens des Landes gemäss Art. 23
Abs. 1 ANAG zu bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafen von acht Tagen,
unter Anrechnung der Untersuchungshaft von acht Tagen. Das Kantonsgericht
St. Gallen wies die von den beiden Verurteilten dagegen erhobene Berufung
am 3. Februar 1986 ab.

    C.- Die Verurteilten fechten den Entscheid des St. Galler
Kantonsgerichts entgegen der darin enthaltenen Rechtsmittelbelehrung nicht
mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde, sondern, unter Hinweis
auf Art. 73 Abs. 1 lit. b VwVG und BGE 101 IV 375 sowie VPB 1985 Nr. 1,
mit Beschwerde beim Bundesrat an. Sie machen geltend, ihre Verurteilung
gemäss Art. 23 Abs. 1 ANAG verstosse gegen Art. 31 Ziff. 1 des Abkommens
über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen beantragt unter
Hinweis auf die Ausführungen im angefochtenen Entscheid die Abweisung
der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das Bundesamt für Justiz vertrat in einem von ihm im Auftrag
des EJPD am 12. Mai 1986 eröffneten Meinungsaustausch die Auffassung,
der Einwand, dass eine Verurteilung wegen rechtswidrigen Betretens des
Landes gegen Art. 31 Ziff. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der
Flüchtlinge verstosse, sei nicht mit der Beschwerde an den Bundesrat,
sondern mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof
des Bundesgerichts zu erheben. Der Kassationshof schloss sich dieser
Auffassung in einem Schreiben vom 29. Mai 1986 an.

    Die in der Beschwerdeschrift erwähnten BGE 101 IV 375 und VPB 1985
Nr. 1 betrafen Fälle der richterlichen Landesverweisung gemäss Art. 55
StGB. Der Kassationshof hielt in einem neuesten Urteil (BGE 111 IV 12)
fest, der Strafrichter müsse bei der Anordnung der Nebenstrafe der
Landesverweisung nicht prüfen, ob sich diese nach den Bestimmungen des
Asylgesetzes überhaupt vollziehen lasse; allenfalls "aus dem Asylrecht"
sich ergebende Einwände seien erst in jenem Zeitpunkt zu prüfen, in dem
feststeht, dass die angeordnete Landesverweisung vollzogen werden muss;
denn bei diesen "asylrechtlichen Argumenten" gehe es "nicht um eigentliche
Vorfragen, deren Entscheidung für die Anwendung von Art. 55 StGB notwendig
wäre, sondern es handelt sich um Hindernisse, welche gemäss Asylrecht aus
humanitären Gründen dem Vollzug einer Landesverweisung im konkreten Fall
eventuell entgegenstehen können" (BGE 111 IV 13/14). Diesen Gedanken hatte
der Kassationshof bereits in seiner Stellungnahme im Rahmen des im Jahre
1984 durchgeführten Meinungsaustauschs mit dem Bundesrat festgehalten
(vgl. VPB 1985 Nr. 1 S. 18). Die vorliegend zu beurteilende Frage,
ob die beiden türkischen Beschwerdeführer, die sich als Flüchtlinge
bezeichnen und Asylanträge gestellt haben, gemäss Art. 23 Abs. 1 ANAG
wegen illegaler Einreise verurteilt werden dürfen, kann indessen nicht
entschieden werden, ohne dass zuvor geprüft wird, ob die in Art. 31
Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens genannten Voraussetzungen erfüllt sind
und damit eine Bestrafung ausgeschlossen ist. Die Frage der Anwendbarkeit
von Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens ist mithin eine echte
Vorfrage und daher gemäss Art. 96 Abs. 3 OG (siehe dazu BGE 76 IV 114)
vom Kassationshof zu entscheiden, der im Verfahren der eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde in der Hauptsache (Verurteilung gemäss Art. 23
Abs. 1 ANAG) zuständig ist. Das von den Beschwerdeführern eingereichte
Rechtsmittel wird deshalb als eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde an
den Kassationshof des Bundesgerichts entgegengenommen.

Erwägung 2

    2.- Wer rechtswidrig die Schweiz betritt oder darin verweilt, wird
mit Gefängnis bis zu sechs Monaten bestraft. Mit dieser Strafe kann
Busse bis zu 10'000 Franken verbunden werden; in leichten Fällen kann
auch nur auf Busse erkannt werden (Art. 23 Abs. 1 ANAG). In die Schweiz
Geflüchtete sind straflos, wenn die Art und Schwere der Verfolgung den
rechtswidrigen Grenzübertritt rechtfertigen (Art. 23 Abs. 2 2. Satz
ANAG). Die Beschwerdeführer stellen nicht in Abrede, dass sie die
Schweiz rechtswidrig betraten. Sie berufen sich auch nicht auf den
Strafausschliessungsgrund gemäss Art. 23 Abs. 2 2. Satz ANAG. Sie machen
aber geltend, Art. 31 Ziff. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung
der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (SR 0.142.30; Flüchtlingsabkommen)
schliesse ihre Bestrafung wegen illegaler Einreise in die Schweiz gemäss
Art. 23 Abs. 1 ANAG aus.

    Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens lautet:

    Die vertragschliessenden Staaten ergreifen wegen illegaler Einreise
   oder unrechtmässigen Aufenthalts keine Strafmassnahmen gegen
   Flüchtlinge, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, wo ihr Leben
   oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht war und sofern sie
   sich unverzüglich den

    Behörden stellen und triftige Gründe für ihre illegale Einreise oder

    Anwesenheit darlegen.

    Nach Auffassung der Vorinstanz sind mehrere der in dieser Bestimmung
genannten Voraussetzungen für den Ausschluss einer strafrechtlichen
Verfolgung wegen illegalen Grenzübertritts vorliegend nicht erfüllt. Die
Beschwerdeführer können gemäss den Ausführungen im angefochtenen Urteil
nicht als Flüchtlinge im Sinne des Flüchtlingsabkommens betrachtet
werden, vermochten zudem keine triftigen Gründe für die illegale
Einreise darzulegen und stellten sich schliesslich nach der Einreise
nicht unverzüglich den Behörden.

Erwägung 3

    3.- Das Kantonsgericht legte unter Berufung auf die Aussagen der
Beschwerdeführer im Strafverfahren ausführlich dar, weshalb diese
mit Rücksicht auf ihre Beweggründe für die Einreise in die Schweiz
und ihre Situation in der Türkei nicht als Flüchtlinge im Sinne des
Flüchtlingsabkommens bezeichnet werden können. Die Beschwerdeführer
behaupten zwar, das Kantonsgericht habe ihre Flüchtlingseigenschaft zu
Unrecht verneint, sie legen aber überhaupt nicht dar, inwiefern die
diesbezüglichen Ausführungen im angefochtenen Entscheid in der Sache
verfehlt seien. Auf die Beschwerde ist daher insoweit mangels hinreichender
Begründung nicht einzutreten.

Erwägung 4

    4.- Die Beschwerdeführer machen geltend, die kantonalen Gerichte
hätten das Strafverfahren wegen rechtswidrigen Betretens des Landes
bis zum Asylentscheid der zuständigen Behörden aussetzen müssen oder,
wenn sie vorweg selber im Strafverfahren die Flüchtlingseigenschaft
beurteilten, die Akten des vor erster Instanz hängigen Asylverfahrens
beiziehen müssen. Diese Einwände sind unbegründet.

    a) Der Ausländer, dem die Schweiz Asyl gewährt hat, gilt gegenüber
allen eidgenössischen und kantonalen Behörden als Flüchtling im Sinne
dieses Gesetzes sowie des Flüchtlingsabkommens (Art. 25 AsylG). Der
Richter ist mithin in einem Strafverfahren wegen rechtswidrigen Betretens
des Landes an den positiven Asylentscheid der zuständigen Behörden
(siehe Art. 11 AsylG) gebunden und kann die Flüchtlingseigenschaft
nicht erneut überprüfen (anders die Praxis verschiedener Gerichte vor
dem Inkrafttreten des Asylgesetzes, siehe Botschaft des Bundesrates,
BBl 1977 III 128 mit Hinweis auf BGE 93 II 362; VIKTOR LIEBER, Die
neuere Entwicklung des Asylrechts im Völkerrecht und Staatsrecht,
Diss. ZH 1973, S. 305, 318). Art. 25 AsylG hindert den Richter indessen
nicht daran, in einem Strafverfahren selber vorfrageweise über die für
die strafrechtliche Beurteilung einer bestimmten Handlung wesentliche
Frage der Flüchtlingseigenschaft des Angeschuldigten zu entscheiden, wenn
diese von den Asylbehörden noch nicht durch einen positiven Asylentscheid
bejaht worden ist. Aus der Bindung des Strafrichters an einen positiven
Asylentscheid der zuständigen Behörden kann nicht eine bundesrechtliche
Pflicht zur Sistierung solcher Strafprozesse bis zum Abschluss des hängigen
Asylverfahrens abgeleitet werden (vgl. auch WOLFGANG ECKERT, Begriff
und Grundzüge des schweizerischen Flüchtlingsrechts, Diss. ZH 1977,
S. 56/7, 73). Im Zeitpunkt der Ausfällung des angefochtenen Urteils,
am 3. Februar 1986, lag kein positiver Asylentscheid der zuständigen
Behörden vor. Gemäss den Ausführungen in der Beschwerdeschrift wurde
das Asylgesuch des Beschwerdeführers F. am 20. März 1986 von der ersten
Instanz abgewiesen und war das Asylgesuch des Beschwerdeführers C. zur
Zeit der Einreichung des vorliegenden Rechtsmittels noch vor der ersten
Instanz hängig. Das Kantonsgericht durfte somit die Flüchtlingseigenschaft
der Beschwerdeführer im Strafverfahren vorfrageweise selber beurteilen.

    Die Pflicht zur Sistierung des Strafverfahrens bis zum Abschluss
des hängigen Asylverfahrens kann auch nicht aus dem in Art. 33 des
Flüchtlingsabkommens festgelegten Grundsatz des "non-refoulement"
abgeleitet werden. Dieser schon für die Dauer des Asylverfahrens geltende
Grundsatz betrifft die Frage, ob und wohin eine Person ausgeschafft werden
kann. Er steht der Bestrafung eines Asylbewerbers wegen rechtswidrigen
Betretens der Schweiz nicht entgegen. Eine Person kann selbst im Falle
der Anerkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 23 Abs. 1
ANAG verurteilt werden, wenn eine der übrigen, in Art. 31 Ziff. 1 des
Flüchtlingsabkommens genannten Voraussetzungen nicht erfüllt ist.

    Wohl führte der Kassationshof in BGE 111 IV 14, auf den sich die
Beschwerdeführer ebenfalls berufen, aus, es erscheine "aus prinzipiellen
und aus praktischen Gründen [...] weder notwendig noch zweckmässig, dass
der Strafrichter sich mit der ihm nicht vertrauten Problematik des Asyl-
und Flüchtlingsrechts auseinandersetzt". Damit wollte er aber, wie sich aus
den übrigen Erwägungen in jenem Entscheid ergibt, lediglich zum Ausdruck
bringen, dass der Strafrichter sich nicht mit flüchtlingsrechtlichen
Fragen auseinandersetzen soll, wo dies nicht notwendig ist. So sind
nach dem zitierten Urteil Einwände aus dem Asylrecht nicht schon vom
Strafrichter bei der Ausfällung der Nebenstrafe der Landesverweisung,
sondern erst von der zuständigen Behörde beim Vollzug der Landesverweisung
zu berücksichtigen, da sie erst in diesem Stadium echte Vorfragen
sind. Wo aber die Beantwortung der Frage der Flüchtlingseigenschaft des
Angeschuldigten wie im vorliegenden Fall für die strafrechtliche Verfolgung
einer bestimmten Handlung unerlässlich ist, muss sich der Strafrichter
mit ihr befassen. Dass er mit den Problemen des Flüchtlingsrechts
weniger vertraut ist als die zur Beurteilung der Asylgesuche zuständigen
Behörden und dass zudem die Gefahr von Widersprüchen zu deren späteren
Entscheiden besteht, ist kein Grund für die Sistierung des Strafprozesses
bis zum Abschluss des Asylverfahrens, welches erfahrungsgemäss lange Zeit
dauern kann. Der Strafrichter hat sich nicht selten mit Vorfragen aus den
Gebieten des Zivilrechts, des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts oder
des Verwaltungsrechts zu befassen. Ebenso kann er in einem Strafverfahren
wegen rechtswidrigen Betretens des Landes bei Fehlen eines positiven
Asylentscheides der zuständigen Behörden vorfrageweise prüfen, ob der
Angeschuldigte allenfalls wegen seiner Flüchtlingseigenschaft gemäss
Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens nicht strafrechtlich verfolgt
werden darf.