Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 II 226



112 II 226

38. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 22. April 1986
i.S. R. X. gegen Y. (Berufung) Regeste

    Genugtuungsanspruch des Ehegatten (Art. 47 und Art. 49 a.F.  OR).

    Der Ehegatte, dessen Partner durch einen Unfall schwer invalid
geworden ist, hat Anspruch auf Genugtuung, wenn er gleich schwer oder
schwerer betroffen ist als im Falle der Tötung eines Angehörigen; sein
Anspruch setzt kein schweres Verschulden des Schadensverursachers voraus.

Sachverhalt

    A.- Am 14. Mai 1980 wurde der 1952 geborene J. X. in Basel
von einem Lastwagen überfahren. Der Unfall hatte unter anderem
die Impotenz von X. zur Folge. Am 4. November 1980 verurteilte der
Strafgerichtspräsident Basel-Stadt den Lastwagenlenker wegen fahrlässiger
schwerer Körperverletzung zu einer Busse von Fr. 500.--.

    B.- Am 21. April 1983 klagte die im Zeitpunkt des Unfalls knapp 19
Jahre alte Ehefrau von X., R. X., beim Zivilgericht des Kantons Basel-Stadt
gegen die Haftpflichtversicherungs-Gesellschaft des Lastwagenhalters,
die Y. Versicherungs-Gesellschaft, auf Zahlung einer Genugtuung von
Fr. 30'000.-- nebst Zins. Die Klägerin begründete ihren auf Art. 49 OR
abgestützten Anspruch damit, dass sie wegen der Verletzung ihres Ehemannes
keine weitern Kinder haben könne. Nach Einreichung der Klage fand die
Beklagte den Ehemann mit einer Genugtuung von Fr. 60'000.-- ab. Das
Zivilgericht des Kantons Basel-Stadt beschränkte den Prozess auf die Frage,
ob auch Angehörigen eines Verletzten ein Genugtuungsanspruch gemäss Art. 49
OR zustehe, verneinte dies und wies die Klage ab. Das Appellationsgericht
des Kantons Basel-Stadt bestätigte das erstinstanzliche Urteil.

    Das Bundesgericht heisst die Berufung gut, hebt das Urteil des
Appellationsgerichts auf und weist die Sache zur Neubeurteilung im Sinn
der Erwägungen an die Vorinstanz zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Weil die Anspruchsberechtigung der Klägerin dem Grundsatz nach
zu bejahen ist, sind die weiteren Voraussetzungen von Art. 49 OR zu
prüfen. Der Einwand der Beklagten, es fehle selbst bei Vorliegen der
Aktivlegitimation an der nötigen Intensität der Verletzung, übersieht,
dass sowohl das Zivilgericht als auch das Appellationsgericht den Prozess
auf die Frage der Anspruchsberechtigung beschränkt haben, weshalb die
übrigen Bedingungen von Art. 49 OR offengeblieben sind. So erschöpfen
sich die Ausführungen über die Schwere der Verletzung in Andeutungen. Die
Vorinstanz wird darüber umfassende Feststellungen zu treffen haben.

    a) Beim Entscheid, ob die Impotenz des Ehemannes die Klägerin in ihren
Persönlichkeitsrechten besonders schwer verletzt hat, wird auch der vom
Ministerkomitee mit Resolution 75-7 vom 19. März 1975 empfohlene Grundsatz
Nr. 13 zu beachten sein (vgl. dazu J.-F. EGLI in Mélanges André Grisel,
S. 325 und 338). Im französischen Originaltext verlangt er die "présence
de souffrances d'un caractère exceptionnel". Massgebend sind dabei alle
Umstände wie das Alter der Ehegatten, die Bedeutung des Geschlechtslebens
in der vorliegenden Ehe, die Art der Impotenz, das heisst, ob und inwieweit
zur impotentia generandi noch die impotentia coeundi hinzukommt, sowie
die Ausgeprägtheit des Wunsches nach weiteren Kindern.

    b) Im Gegensatz zu Art. 49 OR in der bis zum 30. Juni 1985 geltenden
Fassung setzt Art. 47 OR kein besonders schweres Verschulden voraus. Die
Tötung eines Menschen unter gravierenden Umständen auch objektiver Natur
kann den Angehörigen derart treffen, dass sich eine Genugtuung ungeachtet
des Verschuldens des Schädigers aufdrängt.

    Dieser Grundgedanke ist auch bei der Auslegung von Art. 49 OR
heranzuziehen, obwohl der Fall altem Recht untersteht (Botschaft des
Bundesrates über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom
5. Mai 1982, BBl 1982 II S. 683; BROGGINI, Schweizerisches Privatrecht,
Bd. I, S. 460). Es wäre eine ungerechtfertigte Privilegierung von
Angehörigen eines Getöteten gegenüber den Angehörigen eines Verletzten,
die gleich oder schwerer betroffen sein können, wenn diesen die Genugtuung
einzig deshalb versagt bliebe, weil es am besonders schweren Verschulden
des Schädigers fehlt. Die Vorinstanz wird demnach entscheidend auf die
Schwere der Persönlichkeitsverletzung bei der Klägerin abzustellen haben.