Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 II 167



112 II 167

29. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 29. April 1986 i.S.
Eidgenössische Alters- und Hinterlassenenversicherung gegen Basler
Versicherungs-Gesellschaft (Direktprozess) Regeste

    Motorfahrzeughaftpflicht. Regressrecht der Sozialversicherung.

    Art. 48ter Satz 2 AHVG enthält entgegen seinem Wortlaut und
Äusserungen zu seiner Entstehung keinen blossen Vorbehalt, sondern eine
Haftungsbeschränkung zugunsten der in Art. 129 Abs. 2 KUVG (nun in Art. 44
Abs. 1 UVG) erwähnten Familienangehörigen.

    Die Beschränkung kann einer Regressforderung der Sozialversicherung
entgegengehalten werden, gleichviel ob der vom Unfall Betroffene bei der
SUVA versichert gewesen sei oder nicht.

Sachverhalt

    A.- Antonio Carrieri wohnte 1982 in Neuenstadt (BE) und war Halter
eines VW-Lieferwagens, der mit schweizerischen Kontrollschildern versehen
war. Für seine Halterhaftpflicht war er bei der "Basler" versichert.

    Am 10. Juli 1982 fuhr er in Begleitung seiner Ehefrau sowie der
Tochter Orietta mit dem Wagen durch das Aostatal. Im Gebiet von Gignod
brach am Wagen eine Stabilisierungsstange. Carrieri verlor daraufhin
die Herrschaft über das Fahrzeug, das über die Strasse hinaus geriet und
sich überschlug. Seine Frau kam beim Unfall ums Leben. Ein Strafverfahren
gegen Carrieri wurde vom "Tribunale di Aosta" am 21. Dezember 1982 mangels
Verschuldens eingestellt.

    Orietta Carrieri, die am 28. November 1971 geboren ist, bezieht von der
Eidgenössischen Alters- und Hinterlassenenversicherung seit dem 1. August
1982 eine "Mutterwaisenrente" (Art. 48 AHVV). Das Deckungskapital der
Rente beträgt Fr. 28'249.--.

    B.- Am 20. September 1985 klagte die Eidgenössische Alters-
und Hinterlassenenversicherung, vertreten durch das Bundesamt für
Sozialversicherung, beim Bundesgericht gegen die "Basler" auf Zahlung
von Fr. 28'249.-- nebst 5% Zins seit 1. August 1982. Die Klägerin berief
sich in der Sache auf Art. 48ter AHVG.

    Das Bundesgericht weist die Klage gemäss Antrag der Beklagten ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 48ter AHVG tritt die Alters- und
Hinterlassenenversicherung bis auf die Höhe ihrer gesetzlichen Leistungen
in die Ansprüche ein, die der Versicherte und seine Hinterlassenen
gegen den haftpflichtigen Dritten haben (Satz 1); Art. 129 KUVG "bleibt
vorbehalten" (Satz 2). Hier kommt einzig Art. 129 Abs. 2 KUVG in Frage,
der durch Art. 44 UVG ersetzt worden ist, weshalb nun diese Bestimmung
als vorbehalten gilt (SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens von
Schadenausgleichsystemen, Randziffer (Rz.) 967; BOLLER, La limitation
de la responsabilité civile des proches et de l'employeur à l'égard
du travailleur, Diss. Freiburg 1984, S. 70). Nach Art. 44 Abs. 1 UVG
steht dem obligatorisch Versicherten und seinen Hinterlassenen ein
Haftpflichtanspruch gegen den Ehegatten, einen Verwandten in auf- und
absteigender Linie oder eine mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebende
Person nur zu, wenn der Belangte den Unfall absichtlich oder grobfahrlässig
herbeigeführt hat. Streitig ist vorliegend, ob diese Einschränkung der
Haftpflicht auch einer Regressforderung der Sozialversicherung gemäss Art.
48ter AHVG entgegengehalten werden kann, wenn es um Ansprüche unter
Familienangehörigen wie hier geht. Die Beklagte bejaht die Frage, zumal
ein Fall reiner Kausalhaftung vorliege; die Klägerin verneint sie dagegen,
weil die Verstorbene nicht bei der SUVA versichert gewesen sei.

    a) Satz 2 von Art. 48ter AHVG war im Entwurf des Bundesrates
nicht enthalten. Er geht auf einen Antrag Hefti in der ständerätlichen
Kommission zurück, die Haftung des Dritten fallenzulasen, soweit eine
Institution, der er Prämien zahle, die Haftung übernehme. Der Antrag wurde
in der Folge dahin abgeändert, dass Art. 129 KUVG vorbehalten bleibe. Damit
sollte laut Protokoll der Subkommission für Regressfragen (S. 3)
sichergestellt werden, dass die Haftungsbeschränkung des Arbeitgebers
und der Familienglieder nach KUVG grundsätzlich auch für den Rückgriff
der Sozialversicherungen gelte, weshalb Art. 129 KUVG ähnlich wie in
Art. 80 SVG ausdrücklich zu erwähnen sei. Zusammenfassend stellte
die Subkommission fest, dass die gleiche Beschränkung "in jedem Fall
auch für AHV/IV gilt", auf Art. 129 KUVG "daher an sich nicht besonders
verwiesen" werden müsste, es aber nicht schaden könne, diese Bestimmung
zu erwähnen. Der Vorschlag der Subkommission ist sodann ohne weitere
Begründung nicht nur von der ständerätlichen Kommission (Prot. vom
26. April 1977 S. 6/7) und vom Ständerat selber (Sten.Bull. StR 1977
S. 263), sondern im Differenzbereinigungsverfahren auch vom Nationalrat
(Sten.Bull. NR 1977 S. 748) angenommen worden.

    Die Äusserungen der Entstehungsgeschichte zu Satz 2 von Art. 48ter
AHVG sind unklar, ja widersprüchlich und ergeben daher keine schlüssigen
Anhaltspunkte für die Frage, wie der Vorbehalt in Fällen wie hier zu
verstehen ist. Die vermeintliche Ähnlichkeit zur Fassung des Art. 80
SVG vor Inkrafttreten des UVG besteht nicht, weil darin ausdrücklich
jenen Geschädigten, die bei der SUVA versichert sind, die Ansprüche
aus dem SVG unter Vorbehalt von Art. 129 KUVG gewahrt blieben. Gilt die
Haftungsbeschränkung gemäss Art. 129 Abs. 2 KUVG "in jedem Fall auch" für
die Sozialversicherungen, wie die Subkommission angenommen hat, so kommt
nichts darauf an, ob der Verletzte oder Getötete bei der SUVA versichert
gewesen ist, wie dies Art. 80 aSVG verlangte. Wird die Haftungsbeschränkung
dagegen nicht von einer bestehenden Versicherung bei der SUVA abhängig
gemacht, so musste auf Art. 129 KUVG verwiesen, konnte folglich entgegen
der Annahme der Subkommission auf den Hinweis nicht verzichtet werden.
Ein besonderer Hinweis erübrigte sich nur, wenn die Vorschrift des Art. 129
Abs. 2 KUVG im Bereich der Sozialversicherungen bloss unter den in ihr
genannten Voraussetzungen anwendbar sein sollte; dazu gehörte insbesondere,
dass der Unfall einen bei der SUVA Versicherten traf.

    b) Eine Gesetzesbestimmung ist in erster Linie aus sich selbst,
d.h. nach ihrem Wortlaut, Sinn und Zweck sowie nach den ihr zugrunde
liegenden Wertungen auszulegen. Die Vorarbeiten sind weder verbindlich
noch für die Auslegung unmittelbar entscheidend (BGE 103 Ia 290 E. 2c mit
Hinweisen); denn ein Gesetz entfaltet, wie in BGE 67 II 236 E. 2d gerade zu
Art. 129 Abs. 2 KUVG ausgeführt worden ist, ein eigenständiges, vom Willen
des Gesetzgebers unabhängigen Dasein, sobald es in Kraft getreten ist. Das
heisst nicht, die Gesetzesmaterialien seien methodisch unbeachtlich; sie
können namentlich dann, wenn eine Bestimmung unklar ist oder verschiedene,
sich widersprechende Auslegungen zulässt, ein wertvolles Hilfsmittel sein,
den Sinn der Norm zu erkennen (BGE 100 II 57 mit Hinweisen). Das ist hier
allerdings nicht der Fall, da die Äusserungen der Subkommission zu Satz
2 von Art. 48ter AHVG die Schwierigkeit, wie der streitige Vorbehalt
zu verstehen ist, nicht beseitigen, sondern erhöhen. Fragen kann sich
daher bloss, ob der an sich klare Wortlaut den Sinn, den Satz 2 von
Art. 48ter AHVG in Verbindung mit Satz 1 vernünftigerweise haben muss,
wirklich wiedergibt oder ob er ihm gar zuwiderläuft. Diesfalls darf auch
von einem klaren Text abgewichen werden (BGE 105 II 138 E. 2a und 101 Ia
207 mit Hinweisen).

    Wortlaut und Einordnung des streitigen Vorbehaltes ermöglichen, wie
SCHAER (Rz. 835) und STOESSEL (Das Regressrecht der AHV/IV gegen den
Haftpflichtigen, Diss. Zürich 1982, S. 48/49) aufzeigen, verschiedene
Auslegungen. Nach den Äusserungen zu ihrer Entstehung könnte angenommen
werden, dass die Bestimmung nur das vorbehalte, was bereits in Art. 129
Abs. 2 KUVG gesagt sei. Diese Auslegung hat zwar den Wortlaut für sich,
entbehrt aber jeder Rechtfertigung; Satz 2 von Art. 48ter AHVG wäre
sinn- und zwecklos, hielte er bloss fest, was auch ohne einen solchen
Hinweis bereits aufgrund von Art. 129 Abs. 2 KUVG gilt (STOESSEL,
S. 49; SCHAER, Rz. 835). Abzulehnen ist auch die Auffassung, das in
Art. 129 Abs. 2 KUVG enthaltene Haftungsprivileg sei anzuwenden, wenn der
Verletzte oder Getötete nicht bei der SUVA, sondern nur bei der AHV/IV
versichert ist. Die Sozialversicherungen decken den Versorgerschaden
in den allerwenigsten Fällen ausreichend; da sie nur das notwendige
Mindesteinkommen sicherstellen wollen, müssen die bei ihnen Versicherten
sehr oft sogar zusätzliche Bedingungen erfüllen, um in den Genuss der
vollen Leistungen zu kommen. Es kann daher nicht der Sinn des Gesetzes
sein, den Geschädigten durch eine weiterreichende Haftungsbeschränkung noch
mehr zu benachteiligen; das widerspräche nicht nur dem System, sondern
liefe auch den Grundgedanken des Gesetzes stracks zuwider (STOESSEL,
S. 49; GEISER, Die Treuepflicht des Arbeitnehmers und ihre Schranken,
Diss. Bern 1982, S. 118/19).

    Im Schrifttum wird Satz 2 von Art. 48ter AHVG durchwegs dahin
ausgelegt, dass Regresse der Sozialversicherung gegenüber den in Art. 129
Abs. 2 KUVG genannten Familienangehörigen auszuschliessen sind, weshalb
man diese Bestimmung in jener nicht bloss hätte vorbehalten, sondern
für sinngemäss anwendbar erklären müssen (SCHAER, Rz. 967; STOESSEL,
S. 49/50; BOLLER, S. 70; GEISER, S. 118). Das eine wie das andere leuchtet
ein. Die Einschränkung der Haftpflicht von Familienangehörigen gemäss
Art. 129 Abs. 2 KUVG ist Ausfluss der Idee, dass die Sozialversicherung
nicht mit der linken Hand zurücknehmen soll, was sie mit der rechten
gegeben hat, weil dies als stossend bezeichnet werden müsste. Das ist
zu Recht bereits in der bundesrätlichen Botschaft zum Entwurf des KUVG
von 1906 hervorgehoben worden (BGE 67 II 235) und heute mehr denn je
als allgemein gültige Überlegung zu beachten, wenn der soziale Zweck
der AHV gegenüber Familienangehörigen, die eine wirtschaftliche Einheit
bilden, nicht in Frage gestellt werden soll (MAURER, Recht und Praxis
der schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, S. 355; SCHAER,
Rz. 966 ff. mit Hinweisen). Eine harmonisierende Betrachtungsweise in
dem Sinne, dass der Familienangehörige unbekümmert um die Herkunft der
Leistungen allgemein privilegiert wird, drängt sich um so mehr auf, als
Art. 72 Abs. 3 VVG ebenfalls ein solches Privileg für Personen enthält,
die mit dem Anspruchsberechtigten in häuslicher Gemeinschaft leben. Das
von der Klägerin vorgelegte Gutachten gelangt, allerdings im Wege der
Lückenfüllung, zum gleichen Ergebnis.

    c) Aus diesen Gründen ist vorliegend ein Recht der Klägerin, gemäss
Art. 48ter AHVG auf haftpflichtige Dritte zurückzugreifen, wegen der
allgemeingültigen Privilegierung von Familienangehörigen zu verneinen,
gleichviel ob das vom Unfall betroffene Opfer bei der SUVA versichert
gewesen sei oder nicht. Damit fehlt der Klage die rechtliche Grundlage.